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Liebe – Nachlese zum Zurich Film Festival

«Boy meets girl», brin­gen Amis die Liebe auf den Punkt, der kei­ner ist, son­dern eine Variante ihrer Oberfläche. Sigi Freud ver­stand Liebe als Fechtkampf von Projektionen, redu­zier­te das, was uns bewegt, zum Spiegelkabinett unse­res Narzissmus und erklär­te alles mit einem früh­kind­li­chen Katasterplan ora­ler, ana­ler, wohl auch nasa­ler Phasen, bis das Unbewusste bewusst wird. C. G. Jung wie­der­um war ein flot­ter Liebhaber sei­ner Schülerin und recht­fer­tig­te sich mit den Archetypen: Alles sei kein Zufall, son­dern schon enig­ma­tisch vor­be­stimmt. Die Neurobiologie sieht das Ganze als Stoffwechsel am evo­lu­tio­nä­ren Werk, bio­che­mi­sche Keulen brin­gen uns zum Lachen und Heulen. So bleibt ein letz­tes Geheimnis um die Liebe. Manches scheint wahr und doch genügt kei­ne Theorie.

Liebe ist Geschehen und Gefühl. Verdichtete Wahrnehmung. Man nimmt sie für wahr, obwohl sie doch täg­lich wider­legt wird. Und auch Dichter schei­tern beim Versuch, den Zauber zu benen­nen. In Erich Frieds Kurzformel: «Es ist, was es ist.» Ebenso wenig kann man Sonnenauf- und ‑unter­gän­ge beschrei­ben, ohne dem Kitsch und Pathos zu ver­fal­len. Auch Tod und Geburt, alles Existenzielle ent­zieht sich der Beschreibung, dem Abbild in Sprache. Man kann ihr Pathos bebil­dern, was schlech­te Werbung flä­chen­deckend tut für Urlaube, Versicherungen und Bausparverträge. Oder man bricht ihr unschul­di­ges Pathos in Ironie, wie der Stadtneurotiker Woody Allen, Meg Ryan in «When Harry met Sally» (US, 1989), wor­in sie nur köst­lich spielt, dass sie auf Kosten kommt, oder Roman Polanski in «Frantic» (US/F, 1988) wo gleich­zei­tig zum «Filmorgasmus» der Toaster knallt.

Krzysztof Kieslowski ver­such­te es tief­grün­di­ger mit Farben, und nann­te sei­ne Trilogie über die Liebe «Blau», «Weiss» und «Rot» (Polen/F, 1993–94). Schon in «La Double Vie de Veronique» (Polen, 1991) fahn­de­te er nach dem Sinn und Subtext des Lebens. Das Geheimnis blieb in fil­mi­scher Schwebe. Es sind die Zwischentöne, die das Absolute anklin­gen las­sen. Aber lohnt sich eine sol­che Reise in die Filmgeschichte oder ist das nur Staubwedeln? – Fixsterne glü­hen nach. So wie das Lächeln der Mona Lisa.

Auf der Suche nach der ver­lo­re­nen Zeit

Zur Liebe gehört auch ihre Trauer. Man bemerkt sie oft erst, wenn sie bedroht oder schon ver­lo­ren ist. In «Hiroshima, mon amour» (F, 1959) von Alain Resnais & Marguerite Duras lastet auf ihr gar die Verwüstung der ersten Atombombe. In «La Strada» (I, 1954) ist es wie bei Kieslowski eine Melodie, die Zampano, das alle Ketten spren­gen­de Raubein, nur nicht die eige­ne, an die mit Todeshusten zurück­ge­las­se­ne Gelsomina erin­nert: Es ist die Liebe, wel­che zuletzt die rohe Kraft in die Knie zwingt, hin­schmet­tert unter dem Sternenhimmel. Was auch meint, selbst Diktatoren haben ihre Achillesferse. Frederico Fellini schuf mit sei­nem «Lied der Strasse» ein schon fast reli­giö­ses Gleichnis für die Transzendenz der Liebe über alle Ökonomie der Mittel hin­aus. Auch in «Teorema» (I, 1968) von Pier Paolo Pasolini wirft sie alle, die ihr begeg­nen, aus der Bahn. Doch kon­ter­ka­riert die «Macht der Liebe» gera­de ihren Gegenentwurf zu jeder Macht. Sie trägt mensch­li­che Sozialutopie. Was François Truffaut mit «Jules et Jim» (F, 1962) aus­lo­te­te als Begegnungen im Dreieck jen­seits von Besitzanspruch. Und ist Liebe nicht eben­so wie im Leben auch der wich­tig­ste Antrieb zur Kunst? Nicht nur als Freud’sche Sublimation, als Hymne aufs Unendliche und Abgesang des Endlichen, son­dern eben­so als bedin­gungs-lose Schutzzone für Unschuld und Spiel, als ein Paradies ver­län­ger­ter Kindheit. Mit Gefühlen nicht ganz von die­ser Welt. Marcel Carné titel­te sein Meisterwerk des poe­ti­schen Realismus über die Verhängnisse der Liebe: «Les Enfants du Paradis» (F, 1945) (deutsch «Kinder des Olymp»). «Es gibt kein rich­ti­ges Leben im fal­schen», hin­ter­liess der Philosoph Theodor Adorno eine sei­ner «Minima Moralia». Können Liebesgeschichten künst­lich den Buchvorlagen nach­ge­dreht, durch Schauspielen halb­wegs authen­tisch fin­giert wer­den im Kontext einer indu­stri­el­len Filmproduktion?

Gibt’s Echtes im Falschen?

Während Hollywood zur Liebe für das Massenpublikum den gros­sen Gestus
pflegt, so auch auf einem sin­ken­den Schiffsdeck – «Titanic» (US, 1997) von David Camerony erreich­te allein in Amerika 130 Mio. Zuschauer und spiel­te welt­weit 2 Milliarden Dollar ein, was den Film nach «Avatar» (US, 2009), eben­falls von Cameron zur Nr. 2 aller Zeiten macht – und das Hauptthema der Menschheit auf Klangkissen aus­brei­tet, aber auch die Filmtitel kuli­na­risch ver­zuckert wie „Chocolat“ (US/GB, 2000), sucht das Autorenkino nach den unge­schön­ten Liebesfilmen im Alltagsstress: «A Woman Under the Influence» (US, 1974) von John Cassavetes oder an der Peripherie der Gesellschaft Leo Carax’ «Les Amants du Pont-Neuf» (F, 1991). Filme sind auch Seismographen der Zeitenwende: So signa­li­sier­te die Liebe zwei­er Cowboys in «Brokeback Mountain» (US, 2005) von Ang Lee – als muti­ge Variante zum ame­ri­ka­ni­schen Mythos har­ter Kerle wie John Wayne – end­lich das libe­ra­le Aufbegehren gegen die Agonie der Bush-Ära. Dabei deu­te­te sich lan­ge vor 2008 ein neu­er Aufbruch Amerikas an mit der Wahl Obamas und Legalisierung von Homosexuellenehen in eini­gen Bundesstaaten.

Die Liebe und der Tod

Dabei scheint es, als bedür­fe es zur glaub­wür­di­gen Darstellung von Liebe stets des Dramas, ihrer Gefährdung. «Der Tod und das Mädchen» ist eben­so eine Allegorie auf «Die Liebe und der Tod»: Schon in der sinn­li­chen Blüte lau­ert die Vanitas, die Vergänglichkeit. So stand das Thema der «Liebe im Alter» eigent­lich längst auf der Warteliste, doch waren das Publikum und die Medien zur Vermittlung noch nicht bereit. Zu sehr kon­tra­stier­ten Vorstellung und Ansehen von Gebrechlichkeit zum Jugendwahn, zur tele­ge­nen Welt der Missen und Misters. Mit ihrer zuneh­men­den Kaufkraft ver­wan­del­ten sich jedoch «Graue Panther» in «Golden Agers», ziert nun auch fal­ti­ges Lächeln die Plakatwände im öffent­li­chen Raum für Finanzprodukte und Seniorenfreizeit. Gleichzeitig wird dank dem medi­zi­ni­schen Fortschritt auch das Thema Sterbehilfe viru­lent. Hat der gebrech­li­che, kran­ke oder bald demen­te Mensch ein Recht auf einen selbst­ge­wähl­ten Tod? Darf ihm dabei jemand hel­fen?

Am Zurich Film Festival bestä­tig­te sich das Jahr 2012 als Durchbruch der letz­ten Tabus um die Liebe und das Alter. Gleich zwei Filme führ­ten anrüh­rend die letz­te Zärtlichkeit zwi­schen Liebespaaren vor, die den­noch oder gera­de aus Liebe in «Mord» oder Beihilfe zum Freitod des einen am ande­ren endet: Anfang 80 (A, 2011) des Regie-Duetts Sabine Hiebler und Gerhard Ertl und Amour (F/D/A, 2012) von Michael Haneke, der in den Schweizer Studiokinos gera­de anläuft.

Wie ent­steht ein Meisterwerk?

Hanekes drei ersten Kinofilme befass­ten sich mit dem Gegenteil der Liebe – mit der «Vergletscherung der Gefühle» im Wohlstand der post­mo­der­nen Zivilisation. Im Unterschied etwa zu Quentin Tarantino als einem Zyniker der Gewalt, der ihre Latenz explo­die­ren lässt und die Zerstörungswut als aber­wit­zi­ges, ästhe­ti­sches Ereignis abfei­ert, seziert der gebür­ti­ge Vorstadt-Wiener Haneke die­sel­ben Explosivkräfte gesell­schafts­kri­tisch.

«Der sie­ben­te Kontinent» (A, 1989) ist ein ima­gi­nä­rer Sandstrand mit Meeres-wel­len als Sehnsuchtsbild einer Mittelstandsfamilie zur inne­ren Leere und einem Ehealltag wort­wört­lich töd­li­cher Routine. Denn statt auf gros­se Reise zu gehen nach dem fer­nen Strand, wie nach aus­sen kom­mu­ni­ziert, berei­ten die Eltern den Suizid mit der klei­nen Tochter vor. Sie kap­pen die Telefonleitung, ver­nich­ten das Geld. Endstation ihrer Sehnsucht nach dem Leben ist Gift für alle. – Abgesehen davon, dass die­se «Reise ins Nichts» auf einem rea­len Vorfall beruht, frag­ten sich doch eini­ge: Wie mor­bid muss einer sein, um dar­über einen Spielfilm zu dre­hen?

Wer tut sich als Zuschauer so was an? Warum wur­de die­ser Film aus­ge­zeich­net? Vielleicht ist es gera­de sei­ne pei­ni­gen­de Konsequenz, der unbe­stech­li­che Blick auf ver­dräng­te Wirklichkeit, womit Haneke jedem Zweckoptimismus den Spiegel vor­hält und mit har­ten Parabeln zeigt, wie viel Isolation und Einsamkeit trotz allem media­len Rauschen in den Eigenheimen auch euro­päi­scher Suburbs vor sich hin implo­diert. Auch sei­ne wei­te­ren Filme über­schrit­ten die Schmerzgrenze:

«Benny’s Video» (A, 1992) surrt mit, als der gelang­weil­te, am Wohlstand sei­ner Eltern Verwahrloste den Tötungsbolzen für Schweine am Mädchen aus­pro­biert, um «zu sehen, wie das ist». Es funk­tio­niert. Auch «Funny Games» (A, 1997) zeigt den Irrsinn jugend­li­cher Gewaltbereitschaft, des Amoklaufs gegen alle Werte, weil nie­mand da ist, sich Zeit nimmt, die­se zu ver­mit­teln. Lange vor «Bowling for Columbine» (US, 2002) und im Gegensatz zu Michael Moore als Spielfilme griff Haneke bereits die aku­te Gefahr der Entfremdung auf von jeder Realität durch die noto­ri­sche Beschäftigung mit digi­ta­len Spielwelten, deren bal­lern­de Heroen sozia­le Kontakte nicht erset­zen kön­nen, aber die Illusion erzeu­gen ihrer Beherrschbarkeit. Geringste Kränkung kann da schon töd­li­chen Hass aus­lö­sen.

Mit der Verfilmung von Elfriede Jelineks Roman «Die Klavierspielerin» (A/F, 2001) wand­te sich der Gesellschaftskritiker dem Intimbereich neu­ro­ti­scher Sexualität zu, was ihn getra­gen von der Darstellungskunst Isabelle Hupperts in Cannes den Grossen Jurypreis ein­brach­te. 2009 dop­pel­te er nach mit dem «Weissen Band» (D/A/F/I, 2009) und der Goldenen Palme für «eine deut­sche Kindergeschichte» ange­sie­delt in einem fik­ti­ven Dorf in Norddeutschland 1913.

Der Filmtitel bezieht sich auf ein weis­ses Band, dass die Kinder als Stigma zu ihrer Disziplinierung tra­gen muss­ten. Die «Welt» schrieb dazu: «Kaum je sah
man das obrig­keits­staat­li­che Denken als Erklärung für den Ersten (und Zweiten) Weltkrieg so auf die klein­sten Einheiten der Dorf- und Familiengemeinschaft her­un­ter­ge­bro­chen.» Der «Corriere del­la Sera» befand: «Eine Atmosphäre aus düste­rem Luthertum wie bei Ingmar Bergman, mit sozia­len und mora­li­schen Regeln von eiser­ner Unnachgiebigkeit.» Michael Haneke selbst will sein Lehrstück nicht auf den rigi­den Protestantismus beschrän­ken als ein Klimavorteil für Faschismus: «Alle Formen von Terrorismus haben den­sel­ben Ursprung – die Perversion von Idealen.»

Kann das im Umkehrweg ver­stan­den wer­den als Brücke zu sei­nem neue­sten Werk Amour (F/D/A, 2012)? – Dann gin­ge der schar­fe Analytiker sozia­ler Zustände mit sei­nem bis­her reif­sten Film zugleich an die Ursache der Gewalt. Dann ver­weist er mit die­ser Liebesgeschichte im Anlitz des Todes, von letz­ter Zärtlichkeit zwi­schen einem Pariser Musiker-Ehepaar, im Anwesenden auf das meist leid­voll Abwesende – eben­so in sei­nen Werken. Woraus die «Früchte des Zorns» – Aggression und Krieg – erst all­ge­gen­wär­tig wach­sen.

Aufschlussreich ist die Entstehung die­ses Kammerspiels letz­ter Liebe, die nur noch wahr sein kann unter der fina­len Last, zwi­schen Anne (Emmanuelle Riva) und Georges (Jean-Louis Trintignant). Ausgangspunkt war für Haneke der «Freitod», der kei­ner ist, son­dern stets Verzweiflung, sei­ner 90-jäh­ri­gen Tante, die ihn als Kind gross­zog. Sie bat den Regisseur selbst – erfolg­los – um Sterbehilfe. Haneke zufol­ge ist das Hauptthema sei­nes Drehbuchs denn auch nicht Alter und Tod, «son­dern die Frage, wie geht man mit dem Leiden eines gelieb­ten Menschen um?» So beschäf­tig­te er sich seit 1992 (!) mit die­ser eige­nen Erfahrung, wur­de beim Verfassen des Drehbuchs, was Haneke immer sel­ber besorgt, aber von einer Schreibblockade gehin­dert.

Er war sich lan­ge auch nicht über den Schluss (sic!) der Geschichte im Klaren. Dann erfuhr der Regisseur, dass Léa Pool mit «La der­niè­re fugue» (CH/CDN, 2011) nach dem Roman «Une bel­le mort» von Gil Courtemanche eben­falls am Thema arbei­te­te, was ihn noch­mals aus­brem­ste. Schliesslich pack­te er den Stoff: Haneke woll­te es ver­mei­den, ein Sozialdrama zu erzäh­len und wähl­te daher ein gut­bür­ger­li­ches Milieu, wie schon in frü­he­ren Filmen, wo er sich auch aus­kennt. Er woll­te das Drama von den sozia­len Nöten ent­klei­den, damit das Wesentliche übrig blei­be: Wie kommt ein Mensch dazu, den gelieb­ten andern zu töten? Darf es Mord aus Liebe geben – zur Erlösung aus Leid? – Damit tun sich letz­te Fragen auf, mit deren Antwort sich auch die Gesetzgeber und Gerichte schwer­tun, wie die Vernehmlassung zu neu­en Sterbehilfegesetzen nicht nur in der Schweiz zeigt.

Zur Vorbereitung besuch­te Michael Haneke Krankenhäuser und Sprachkurse für Patienten, die nach einer Gehirnverletzung oder einem Schlaganfall wie­der zu spre­chen ler­nen. Dennoch spielt der Film fast nur in der Wohnung des Paares: «Wenn man alt und krank ist, beschränkt sich die Welt zuneh­mend auf die eige­nen vier Wände. Ich wähl­te die klas­si­sche Form der Einheit von Handlung und Ort.»

Entscheidend zur Realisierung des Films Amour, mit dem Michael Haneke in Cannes schon zum zwei­ten Mal die Palme d’Or gewann, war Trintignants Zusage. Haneke gab spä­ter an, dass er ohne ihn den Film nie gedreht hät­te, denn die­ser spie­le die Dinge nicht aus, son­dern deu­te sie nur an. Er behal­te als Schauspieler sein «Geheimnis» für sich: «Mich hat von Anfang an sein Blick fas­zi­niert, sein stil­ler, insi­stie­ren­der Blick.» Zum Zeitpunkt von Hanekes Anfrage hat­te Trintignant sei­ne Filmkarriere schon seit 10 Jahren aus­klin­gen las­sen und leb­te zurück­ge­zo­gen auf dem Lande, er woll­te nicht: «Als ich das Drehbuch las, fand ich es depri­mie­rend. Ich sag­te zu Haneke, ich wer­de den Film nicht machen. Aber ich bin froh, dass ich es las. So weiss ich wenig­stens, dass ich mir den Film nicht anschau­en wer­de.» – Zum Glück liess er sich umstim­men.

Für die weib­li­che Hauptrolle gewann Michael Haneke Emmanuelle Riva, Grande Dame des Französischen Kinos und Hanekes «Jugendschwarm» aus «Hiroshima, mon amour», der zu sei­nen Lieblingsfilmen zählt. Womit sich zufäl­lig auch ein Kreis in die­sem Essay schliesst. Als Zuschauer betrach­tet man einen Film meist iso­liert, wäh­rend sein Autor vie­le Stränge und noch lose Enden von Geschichten, aus dem Leben und ande­ren Quellen zum Neuen ver­knüpft. Souveräne Autoren näh­ren sich eben­so von Bildung, wie sie die­se über­win­den. Die Herausforderung durch Bekanntes, als Last auch der Geschichte, schärft wohl die Wahrnehmung und Fähigkeit zur Differenzierung, aber erst Dichter schrei­ben sich frei! – Das gilt auch für star­ke Filme.

Was ist denn nun an Amour so eigen? – Haneke und sei­nen Protagonisten gelingt eine äus­serst prä­zi­se und den­noch unauf­dring­li­che Darstellung des sonst Peinlichen, Schamhaften – von mensch­li­cher Schwäche und Verletzlichkeit, ohne dass im Geringsten deren Würde ver­lo­ren gin­ge. In stil­len Bildern wird greif­bar, was auch auf eine nach Haneke weit­ge­hend lieb­lo­se Gesellschaft zukommt – der Liebe Notwendigkeit. Wir sind von die­ser sel­ber frü­her oder spä­ter betrof­fen, kön­nen ihren letz­ten Dienst nicht nur aus­la­gern, dele­gie­ren an Sterbehospize. Auch ein Quentin Tarantino muss sich irgend­wann um die Kacke sei­ner Mutter küm­mern. Spätestens dann erüb­rigt sich jeder Zynismus, rela­ti­vie­ren sich die im Filmmarkt domi­nie­ren­den Gewaltorgien.

Nun macht aber auch Liebesfähigkeit noch nicht Filmkunst. Zum Titel «Amour» wur­de Haneke durch sei­nen Hauptdarsteller inspi­riert, der die­sen nach Lektüre des Drehbuchs vor­schlug, da die Geschichte «vol­ler Liebe» sei. Trintignant woll­te wäh­rend der Dreharbeiten wegen sei­ner kör­per­li­chen Verfassung und Probleme mit dem Gedächtnis auch mit Riva die Rolle zu tau­schen. So ver­zahn­ten sich Real Life und Film. Emmanuelle Riva lern­te dafür sogar Klavierspielen. Jede zweit­klas­si­ge Produktion hät­te dabei getrickst. Ein Schnitt mehr oder weni­ger. Das gibt’s bei Haneke nicht. Man stel­le sich das vor: 2 Jahre lang die Nachmittage hin­durch klim­pern, damit frau ech­te Figur macht am Flügel. Trintignant sagt, er hät­te wäh­rend sei­ner gan­zen Karriere nie zuvor mit einem so anspruchs­vol­len Regisseur gear­bei­tet. Das will etwas heis­sen von einem, der mit Claude Lelouch, François Truffaut, René Clement, Eric Rohmer, Claude Chabrol, André Téchiné, Patrice Chéreau, Costa-Gavras, Ettore Scola, Bernardo Bertolucci, Gianni Amelio, Michel Soutter, Alain Tanner, mit Krzysztof Kieślowski auch in «Rot» arbei­te­te, dazu das Drehbuch schrieb zu «Letzter Tango in Paris». O‑Ton Trintignant: «Es gibt eigent­lich kei­ne guten Schauspieler, son­dern nur Regisseure, die Schauspieler gut erschei­nen las­sen. Einmal ver­such­te ich Haneke mit einer spe­zi­el­len Geste zu beein­drucken. Er sah zu und sag­te, das sei durch­aus gut gewe­sen. Er sei aber nicht an mei­ner Figur inter­es­siert, son­dern nur dar­an, was sich zwi­schen den Figuren ereig­nen wür­de.» – Was sich zum Ende ereig­net, ist der Tod. Georges erstickt Anne mit dem Kissen. Er klei­det sei­ne nun fried­li­che Frau neu ein, schmückt sie mit zer­pflück­ten Rosen und ver­klebt die Türe, dass die Nachbarn nichts rie­chen.

Amour ist nach dem Gewinn in Cannes im Rennen für den Oscar als bester fremd­spra­chi­ger Film. FIPRESCI, die inter­na­tio­na­le Kritikervereinigung, wähl­te «Liebe» zum besten Film des Jahres. Verena Lueken von der «FAZ»: «Kein Blutbad hat bis­her soviel Entsetzen auf die Gesichter der Zuschauer gezeich­net als Haneke mit einer Szene, in der Anne geduscht wird.» – Und Susan Vahabzadeh von der «Süddeutschen»: «Der Regisseur bannt mit der Geschichte die­ses Ehepaars die grau­sa­me, erbar­mungs­lo­se Natur auf die Leinwand, dass alles, was lebt, auch ster­ben muss. Jedes Bild und jede Einstellung, jeder klei­ne Dialog berei­chert die Geschichte, die einen ganz lei­se, ohne gros­ses Aufhebens bis ins Mark erschüt­tert.»

Am Ende schwirrt eine Taube durchs Fenster auf den ver­stumm­ten Flur. Man hält den Atem an, hat eben­so Angst vor Kitsch, der alle Intensität ver­pfusch­te, wie vor noch einem Akt der Zerstörung durch den Schmerz von Georges. Was man gar ver­stün­de. Doch es pas­siert nichts. Sie fliegt weg.

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