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LESEZEIT

Von Gabriela Wild – Der Professor wun­dert sich, und ent­schliesst sich kur­zer­hand auch ein­mal zu einer unge­wöhn­li­chen Handlung. Er schenkt sich ein Glas Wein ein, und setzt sich mit­samt dem Glas im Schneidersitz auf den Boden, in etwa zwei Metern Entfernung zum Löwen. Der Löwe sei­ner­seits nimmt es gelas­sen, und Blumenberg, so der Name des Professors, hat den Eindruck, der Löwe freue sich. Blumenberg mustert das hel­le Haar am Bauchrand des Löwen und an der Unterseite der Pranken. Rechts auf sei­ner Brust ver­läuft eine lan­ge Narbe bis zum Ansatz des Vorderbeines. Hatte ein über­gros­ser Wille dem Löwen dazu ver­hol­fen, sich selbst das Existenzprädikat zu geben, oder war der Löwe etwa doch nur ein Hirngespinst von ihm, Blumenberg? Leidet er an Halluzinationen? Er kann den Löwen, der ihn seit kur­zem regel­mäs­sig im Arbeitszimmer oder im Vorlesungssaal besucht, sogar rie­chen. Nervenexzentrisch, viel­leicht, aber nicht ver­rückt – doch beun­ru­hi­gen tut es den Philosophieprofessor schon, dass aus­ser ihm nie­mand den Löwen sieht. Zumal das Auftauchen des Tieres in meh­re­re Leben hin­ein wirkt. Ohne es zu mer­ken, gera­ten fünf Studenten in sei­nen Bann, unter ihnen Gerhard Optatus Bauer, ein begei­ster­ter Blumenbergianer, und die exzen­tri­sche Isa, die sich hoff­nungs­los in den Professor ver­liebt hat. Sterben müs­sen alle fünf, inklu­si­ve Professor, knapp hin­ter­ein­an­der, auf weni­gen Seiten, und das nicht aus einem erzähl­tech­ni­schen Zusammenhang, nein, fast schon in der Art einer buch­hal­te­ri­schen, grau­sa­men Aufzählung. «Der Erzähler hät­te bes­ser dar­an getan, Verzicht zu üben und nicht mit einer sol­chen Häufung auf­zu­war­ten», mel­det sich kein ande­rer als der Erzähler selbst zu Wort. «Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahr­heits­ge­treu zu ver­zeich­nen. Möglichst knapp. So wur­de in der Geschichte nun mal gestor­ben, und so wur­de es eben fest­ge­hal­ten, fest­ge­hal­ten zum Zweck neu­er­li­cher Verwandlung, wie sich bald zei­gen wird.» Ketzerisch endet das Kapitel: «(…) all die­se Tode wären jeweils ein gan­zes Leben wert gewe­sen. Waren sie es? Das Gegenteil könn­te genau so gut der Fall sein – der Tod hat kei­nen Wert, das Leben allen.» Nach dem Tod tref­fen sie wie­der auf­ein­an­der, in einer Art Nirwana-Zustand, in einem are­li­giö­sen Himmel, oder auf einer Beckettschen Bühne. Sich in der Schwebelage zwi­schen Heilsanteil und Schuld befin­dend. Die Studenten rich­ten die Blicke auf ihren Professor. Doch Blumenberg fehlt die Angriffslust, der Antrieb durch die Sorge, wie sie Lebende ken­nen, und die selbst für die klein­ste Unterscheidung not­wen­dig ist. Lose Zeilen aus einem Goethe Vers: «Nicht mehr blei­best du umfangen/in der Finsternis Beschattung,/und dich reis­set neu Verlangen/auf zu höhe­ren Begattung» – Und so kommt es zur ange­kün­dig­ten Verwandlung: «Königlich, könig­lich schol­lern­den Klanges fuhr Blumenberg! aus dem Rachen des Löwen. War der Mann in der Höhle bis­her nicht viel mehr gewe­sen als Luft an der Luft, schien auf den Namenszuruf hin eine ande­re Materie ihn zu befül­len. Lichtsendendes Blut zir­ku­lier­te in sei­nen Adern. Er strahl­te und zit­ter­te und hielt die schwan­ken­den Arme weit aus­ge­brei­tet. Da hieb ihm der Löwe die Pranke vor die Brust und riss ihn in eine ande­re Welt.»

Ein vir­tu­os geschrie­be­ner Roman von Sibylle Lewitscharoff, und schein­bar wie neben­bei eine Hommage an den Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996). Blumenberg sam­mel­te wäh­rend vie­len Jahren in Literatur und Bildender Kunst Löwen-Geschichten und ‑Bilder. Die Löwen von Henri Rousseau zum Beispiel betrach­te­te er als «ver­hin­der­te» Löwen, weil Rousseau das Paradies mal­te, einen Ort an dem Löwen am wenig­sten das sein kön­nen, was sie sind.

Foto: zVg.
ensuite, November 2011