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Leonardo da Vinci und die Frauen

Von Dr. Regula Stämpfli - Je vir­tu­el­ler die Welt, umso schnel­ler ver­schwin­det die rea­le. Das ein­zi­ge Mittel dage­gen? Bücher. Kaufen, lesen, hegen, pfle­gen, bekrit­zeln, mit ihnen schla­fen, essen und mit den Liebhabern aller­lei Geschlechts tei­len. Kunst ist ein ande­res pro­ba­tes Mittel, um sich der Sinnlichkeit der Welt ver­si­chern zu kön­nen. Natürlich nur Kunst, die erleb­bar ist, und nicht die, die zwecks Wertsteigerung in Container ver­packt oder an Geburtstagspartys Prominenter pri­va­ti­siert wird.

Die Kunsthistorikerin und Samtschreiberin der «Süddeutschen Zeitung» Kia Vahland hat eine wun­der­ba­re Künstlerbiografie zu Leonardo da Vinci ver­fasst. Ein gross­ar­ti­ges Buch. Ihren Bildbeschreibungen, Recherchen, Storys und Insights des Florenz des 15. Jahrhunderts folgt man atem­los, glück­lich und: Man kann sich wun­der­bar in die Frauen, gemalt von Leonardo da Vinci für die Ewigkeit, ver­lie­ben.

Mit «Die Malerei ist weib­lich, jeden­falls die Leonardo da Vincis» beginnt Autorin. Sie gibt Leonardo nur zwei Männerfiguren, die er eigen­hän­dig gemalt hat: Hieronymus und Johannes der Täufer. «Man muss schon alle Jünger auf dem Fresko des ‹Abendmahls› oder alle Jesusbabys auf den Madonnenbildern hin­zu­zäh­len, um doch noch auf ein halb­wegs aus­ge­wo­ge­nes Geschlechterverhältnis zu kom­men.» Leonardo da Vinci ist also ein Frauenmaler. Nicht in die­sem schmie­ri­gen Wortsinn, son­dern in der ursprüng­li­chen Bedeutung, dem Nachspüren und ‑zeich­nen von Menschen, die nicht Herrschaft, Fürsten- oder Papsttum reprä­sen­tie­ren, son­dern wahr­haf­ti­ge Lebewesen. Leonardos Frauen spei­sen sich aus des­sen schöp­fe­risch täti­gem Naturverständnis dar­über, was die Malerei kann und soll. Der Geniale setzt sei­ne Frauen nicht in ein Innengefängnis, son­dern ver­bin­det sie mit der Natur – ein für sei­ne Zeit uner­hör­ter Vorgang. Leonardos unge­wöhn­li­che Sicht auf Maria zeigt sich schon in sei­nen Lehrlingsjahren: Statt sie bei der Verkündung des Erzengels zu erschrecken, malt er sie wie eine jun­ge, zar­te Frau, die beim Bücherlesen gestört wird. Maria wird bei Leonardo nicht ein­ge­schüch­tert, son­dern strah­lend hell, ein star­kes, mensch­li­ches Gegenüber zu Gott. Da Vinci wider­spricht damit sei­nen Kollegen, die Maria Befehle ertei­len, spä­ter wird er schrei­ben: «So sah ich neu­lich einen Engel, der bei einer Verkündigung so aus­sah, als woll­te er Unsere Liebe Frau aus dem Zimmer ver­ja­gen, mit Bewegungen, die eine sol­che Schmähung aus­drück­ten, wie man sie etwa dem nie­der­träch­ti­gen Feind zuteil­wer­den lies­se, und Unsere Liebe Frau sah aus, als woll­te sie sich vor Verzweiflung aus einem Fenster stür­zen. Passt auf, dass Ihr nicht in sol­che Fehler ver­fallt.» (S.42)

Kia Vahland gibt uns allen da Vincis Frauen zurück als «selbst­be­wuss­te, zuge­wand­te Wesen mit kom­ple­xer Persönlichkeit; er fei­ert ihren Eigensinn, ihren Verstand, ihre Emotionalität und ihre Sinnlichkeit. Gemeinsam mit sei­nen aus­ser­ge­wöhn­li­chen Modellen erfin­det er so die Frau als unab­hän­gi­ges, eben­bür­ti­ges Gegenüber des Mannes.» (Klappentext) Damit unter­schei­det sich Kia Vahland von den main­strea­mig-männ­li­chen Interpretationen des Genies, des­sen Todestag sich heu­er zum fünf­hun­dert­sten Mal jährt. Denn die männ­lich-üble Gegenwart zele­briert statt des Vegetariers, des Feingeists, des in der und durch die Natur und Sinnlichkeit der Welt gepräg­ten Künstlers vor allem mar­tia­li­sche Projektionen. Der Zeitgeist will «Leo» als gei­len Waffennarren, Erfinder und Vermesser der Welt und ver­kennt damit das Genie.

Diese Da-Vinci-Codes der Gegenwart stam­men aus dem Faschismus. Im Herbst 1939 insze­nier­te der ita­lie­ni­sche Diktator Benito Mussolini Leo-nar­dos Maschinenentwürfe in real. Seine zutiefst huma­ni­sti­sche Aktzeichnung vom «Vitruvmann» in Kreis und Quadrat mutier­te seit die­ser tota­li­tä­ren Interpretation zum Sinnbild des bere­chen­ba­ren und auf ewig ver­mes­se­nen Menschen.

Deshalb ken­nen wir den Leonardo da Vinci als Totenschädel-Pathologen, als Leichenschneider und ‑beschau­er und als Zeichner unzäh­li­ger bio­lo­gi­scher Details, die in der neu­ro­bio­lo­gi­sti­schen und mate­ria­li­sti­schen Gegenwart so manisch gefei­ert wer­den. Den Sitz der Seele will Leonardo da Vinci fin­den und nennt die­sen fälsch­li­cher­wei­se den «sen­sus com­mu­nis» – den alles bestim­men­den Sinn, qua­si der Gemeinsinn, der aber nie und nim­mer ein Organ sein kann. Selbst heu­te nicht und trotz­dem tun die Vermesser so, als hät­ten sie den Menschen end­lich defi­niert. Dabei ist die Sache klar: Sinn ist nie ein Organ, Sinn macht immer nur das leben­di­ge Dazwischen aller Dinge.

Doch seit Leonardo da Vinci ist die Abbildung das Mass aller Zusammenhänge und redu­ziert alle Menschen auf ein ziem­lich küm­mer­li­ches «Jahrgangs‑, Kilo- und Zentimeterverhältnis». («Vermessung der Frau» 2013)

Mit Leonardo begin­nen die Irrtümer der Moderne, die Welt auf die Materie zu redu­zie­ren, ihren gewal­ti­gen Fortlauf zu neh­men, bis heu­te. Der Ambivalenz Leonardos ist nur schwer bei­zu­kom­men. So ent­wirft er, mit­ten in der Pest in Mailand um 1485, eine bes­se­re, gesün­de­re und weni­ger stin­ken­de Stadt, der er immer wie­der ent­flie­hen woll­te. Zweigeschossig sind sei­ne Gebäude: «Oben fla­nie­ren Fussgänger, unten fah­ren Ochsenkarren.» Dies erin­nert an zeit­ge­nös­si­sche archi­tek­to­ni­sche Konzepte, die wie in Köln statt Strassenbahnen, Seilbahnen, die luf­tig über der Stadt schwe­ben, Menschen und Güter trans­por­tie­ren sol­len. «Offene Wendeltreppen erschei­nen ihm prag­ma­ti­scher als dunk­le Stiegen, in die Passanten uri­nie­ren. Und auch die Toiletten las­sen sich ver­bes­sern durch syste­ma­ti­sche Luftzufuhr.» (S.140) Leonardo als WC-Konstrukteur?

Jeder Bild-Macher ist mit einer Zeit ver­floch­ten, umso wich­ti­ger, dass Kia Vahland Leonardo da Vinci end­lich vom Korsett des Maschinengenies befreit und ihm die Sinnlichkeit so zurück­gibt, wie Leonardo dies für die Frauen als Schöpferinnen und Subjekte getan hat. Marcel Duchamp muss dies schon 1919 gespürt haben, denn zu Ehren von Leonardos 400. Todestag mal­te er auf eine Reproduktion der «Mona Lisa» einen Schnurrbart. Seine Zeitgenossen waren erschüt­tert ob die­sem Geschlechterkampf und umso stär­ker mach­ten sich die Männer des 20. Jahrhunderts dar­an, in Leonardo vor allem den Maschinenmann statt den Ökologen zu sehen, der der Natur und der Weiblichkeit die wirk­li­che schöp­fe­ri­sche Macht zukom­men las­sen woll­te.

«Wenn du einen eige­nen Weg gehen willst, sei nicht als Frau gebo­ren», schreibt 1479 die Schwester von Lorenzo de Medici. Nannina for­mu­liert damit – wie es nur die gros­sen Klägerinnen des alt­grie­chi­schen Dramas wag­ten – eine Klage, die gleich­zei­tig ahnen lässt, dass eben alles ganz anders sein könn­te, wenn man nicht als Frau gebo­ren wäre. Auch Nannina schaut mit Leonardo unge­heu­er­lich direkt dem Betrachter ins Gesicht und damit in den Intellekt und ins Herz. Die Augen sind nicht nie­der­ge­schla­gen, der Blick ist klar, offen, deut­lich: Hier bin ich Subjekt. Für die Zeitgenossen war dies nach Kia Vahland ver­ständ­li­cher­wei­se ein Kunst- und Weltenschock. Kein Wunder, wol­len uns dies Kunsthistoriker des 21. Jahrhunderts wie­der und wie­der ver­weh­ren! Denn der Blick in die Welt ver­än­dert die­se und sich selbst.

Leonardo da Vinci ver­mag bis heu­te unse­re Gemüter zu erre­gen und dies ist auch des Künstlers Absicht. Kein ande­rer hat das «Abendmahl» der­art stark als Debatte, Diskurs um Sinn und Unsinn, als zutiefst gött­li­che Forderung von einem Miteinander dar­ge­stellt. Und nun sol­len – im Zuge von Digitalisierung, Globalisierung und ande­ren ‑ierungs-Gefängnissen neue Bilder dem ganz Einzigartigen zuge­ord­net wer­den. «Salvator Mundi» wur­de für 450,3 Millionen Dollar mit dem bis­her höch­sten je erziel­ten Auktionspreis gehan­delt. Ein Bild, das einen Jesus zeigt, fron­tal, ohne wirk­li­che Regung in Geistes- und Körperhaltung, eine Darstellung, in der die Augen nicht spre­chen, soll von Leonardo gemalt wor­den sein? Ebenso die Frauendarstellungen, die auf­grund des Spekulationswerts neu da Vinci zuge­ord­net wer­den, obwohl sie nichts von der unend­li­chen Tiefe von Leonardos Blick auf­wei­sen? Leonardo da Vinci schockier­te sei­ne Welt damit, indem er sei­ne Frauen dem star­ren Profil ent­zog und sie mit «wehen­dem Haar, sprung­be­rei­ten Leibern, tie­fen Blicken, mäch­ti­gen Händen und, im Fall der ‹Mona Lisa›, mit hal­bem Lächeln» (S. 274) befrei­te. «Er hat die Frauen sei­ner Zeit gese­hen, wie ihnen selbst das nicht immer mög­lich war: als freie Menschen vol­ler Bewegungsenergie, als lie­bes­fä­hi­ge Mütter und Freundinnen, als tief­sin­ni­ge Denkerinnen, die um die Kräfte der Natur wis­sen. Weibliche Selbstaufgabe kommt in Leonardos Weltbild so wenig vor wie syste­ma­ti­sche Abwertung.»
Ein wahr­haft wun­der­ba­res Buch.

Kia Vahland. Leonardo da Vinci und die Frauen, Insel-Verlag, Berlin 2019.

 

*) Dr. phil./Dipl. Coach Regula Stämpfli ist Politologin und Bestseller-Autorin («Die Vermessung der Frau»).