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Leben ver­bo­ten! Oder «Und den­noch leben»? Radikalsäkulare jüdi­sche Frauenliteratur damals und heu­te

Von Dr. Regula Stämpfli – Unsere Essayistin Regula Stämpfli woll­te «Die Netanjahus» von Joshua Cohen bespre­chen, dies sei hier­mit getan, denn lesen soll­ten wir alle die jüdi­schen Frauen. Hier zwei Werke radi­kal-säku­la­rer Schriftstellerinnen mit dem Aufruf zur Besinnung und der Aufforderung an unse­re Institutionen, die Millionenförderung isla­mo­fa­schi­sti­scher Organisationen zu stop­pen.

Die Stadt ist der Sehnsuchtsort all jener, die gleich­zei­tig Weltenbürgerin und jüdisch sind. Deshalb ist Wien eine jüdi­sche Stadt mit dem jüdi­schen Humor. Dazu eine lusti­ge Begebenheit. Bestellt ein Nazi einen klei­nen Braunen, meint der Kellner, das sehe er sofort, er wol­le nur wis­sen, was der Herr denn trin­ken wol­le; also die­ses stun­den­lan­ge Streiten unter Gleichen, Freien und Solidarischen – das ist Stadt und das ist sehr jüdisch. Die Wiener Juden und Jüdinnen eröff­ne­ten denn auch sofort ein Kaffeehaus in Shanghai, nach­dem sie vor ihren Mördern geflüch­tet und aus­ge­rech­net in China gestran­det waren. «Der Jud muss gehen, sein Geld darf blei­ben» – die Antisemiten von damals klin­gen wie die Experten von heu­te (hier mit Insidergruss an Richard David Precht).

Maria Lazar, Wienerin, schrieb lan­ge vor der Machtergreifung: «Denn glau­be mir, mein Kind, zwi­schen dem sehr gro­tes­ken Fall des Bankiers Ernst von Ufermann und dem anschei­nend völ­lig sinn­lo­sen Eisenbahnattentat, dem so oder so viel Menschen zum Opfer fie­len, bestehen doch Zusammenhänge. Es ist ja immer wie­der das­sel­be Evangelium der Ausrottung, das sich hier kund­tut. Verrecke, stirb, ver­schwin­de. Das ist die Losung, mit der die Ware Mensch jetzt dezi­miert wer­den soll. Darf man da schwei­gen?» Maria Lazar (Pseudonym Esther Grenen, geb. 1895 in Wien, gest. 1948 in Stockholm) war jüng­stes Kind einer kon­ver­tier­ten jüdi­schen Wiener Familie, in der Schule mit Elias Canetti, por­trä­tiert von Oskar Kokoschka und zu ihrer Zeit bekann­te Schriftstellerin. Sie wur­de von den Nazis ver­trie­ben, ihr Werk ver­bo­ten und dann ver­ges­sen. Dabei war ihr erster Roman, «Die Vergiftung», aus dem Jahr 1920 DER expres­sio­ni­sti­sche Roman avant la lett­re. Noch nie zuvor hat­te jemand in gna­den­lo­ser Härte das wohl­stands­ver­wahr­lo­ste Leben einer ver­mö­gen­den assi­mi­lier­ten jüdi­schen Familie beschrie­ben. Der Roman mach­te die Runde und einen der vie­len Skandale damals im jüdi­schen Wien. Thomas Mann, der alte Sexist und Closet-Gay, schwa­fel­te von «pene­tran­tem Weibergeruch» im Roman – doch auch er muss­te dann emi­grie­ren, Geruch hin oder her. Maria Lazars Einakter «Der Henker» war noch kras­ser als «Die Vergiftung», wur­de drei­mal ver­bo­ten mit der Begründung: «aus Rücksicht auf die Nerven des Publikums». «Leben ver­bo­ten» lau­te­te der Titel ihres stärk­sten Buches aus dem Jahr 1932. Darin ist alles zu fin­den: die städ­ti­sche Moderne mit ihrem immer wie­der­keh­ren­den Antisemitismus, ver­bun­den mit Sentimentalität, Bigotterie und anti­de­mo­kra­ti­scher Bürokratie. Tja. Damals wie heu­te schrie­ben sich Frauen ihre Finger wund mit der Warnung, dass die brau­ne Suppe jeder­zeit über­schwap­pen könn­te – well, mei­ne Lieben. In deut­schen Städten und in London sind die neu­en isla­mo­fa­schi­sti­schen und rechts­extre­men Horden lei­der schon längst Teil des Stadtbildes – ich hof­fe, Wien hält wenig­stens dies­mal stand, obwohl: Ausgerechnet Wien war ent­setz­li­cher­wei­se nicht nur eine jüdi­sche Stadt, son­dern auch die Stadt der modell­haf­ten Ausrottung der Juden und Jüdinnen.

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer/Herbst 1941 wur­de die Rassenpolitik nihi­li­siert (Sprachschöpfung der Autorin; bedeu­tet bis ans tota­li­tä­re Ende trei­ben = nihi­li­sie­ren). Ziel der Judenpolitik waren nicht mehr nur Enteignung, Vertreibung und Demütigung, son­dern VERNICHTUNG. Es war Adolf Eichmann, der im August 1938 die «Zentralstelle für jüdi­sche Auswanderung» durch­or­ga­ni­sier­te; es war der Plan des Führers hims­elf, Wien als erste Metropole «juden­frei» zu machen. Dieser Vernichtung waren jah­re­lan­ge «wil­de Arisierungen» vor­an­ge­gan­gen. Es wur­de gestoh­len, geplün­dert, ent­wen­det, ver­steckt, was nur ging. Darin glei­chen sich die natio­nal­so­zia­li­sti­schen Dreissiger- und die isla­mo­fa­schi­sti­schen Zwanzigerjahre. «Judenfrei» sind schon längst alle ara­bi­schen Staaten, die sich wie damals die Nazis den Auszug der Juden teu­er bezah­len lies­sen. Und was die «wil­de Arisierung» betrifft: Im Zuge des Massenmordes der Hamas vom 7. Oktober 2023 über­quer­ten – Quelle: der lin­ke «Guardian» – unzäh­li­ge «zivi­le» Palästinenser die Grenze und stah­len wäh­rend der Mordorgien alles zusam­men, um anschlies­send mit ihren Brüdern die Beweise die­ser Barbarei zu ver­bren­nen.

Damals ist jetzt! Tatsächlich, wie auch ein jüng­ster Theaterskandal in der Schweiz beweist. Nach der Machtergreifung 1933 erhiel­ten jüdi­sche Schauspieler und Schauspielerinnen ein Spielverbot. 2023 erfah­ren wir vom Theater Neumarkt, dass ein Israeli nicht mit einer Libanesin gleich­zei­tig auf der Bühne ste­hen darf, weil die­se an die Gesetze der Hisbollah in Libanon gebun­den sei – krass, nicht wahr? Ich wuss­te gar nicht, dass sich Schweizer Theater an die Gesetze von Islamofaschisten hal­ten. Was wird das Nächste sein? Das Schulverbot für klei­ne Mädchen, weil dies sonst deren Sicherheit gefähr­de, da die Taliban «lei­der» ein der­ar­ti­ges Gesetz hät­ten?

Hannah Arendt wür­de dazu sagen, dass, wer die Welt mit ande­ren nicht tei­len will, es nicht ver­dient, Teil die­ser Welt zu sein. In «Eichmann in Jerusalem» plä­dier­te sie vehe­ment für die Todesstrafe, nicht weil der Mann Rassist, Bürokrat und ein Massenmörder war, son­dern weil er sich wei­ger­te, mit Juden und Jüdinnen die Welt zu tei­len, und es den Menschen nach dem von ihm orga­ni­sier­ten Massenmord nicht zuge­mu­tet wer­den konn­te, wei­ter­hin mit Eichmann zusam­men­zu­le­ben. Der Nationalsozialismus damals – gemäss Hannah Arendt – war kein Ausbruch des kol­lek­ti­ven Wahnsinns, auch nicht die stump­fe Gewalt der Täter gegen Juden und Jüdinnen. Auschwitz war das Resultat jah­re­lan­ger Religiosisierung des nihi­li­sti­schen Massenmords. Islamofaschismus ope­riert exakt gleich – auch er kein kol­lek­ti­ver Wahnsinn, son­dern geplan­te Brutalo-Banalität: «Ungläubige sind kei­ne Menschen.» Und so etwas wird von unse­rer euro­päi­schen Jugend zu Hunderttausenden in London glo­ri­fi­ziert? Welche Monster haben eigent­lich unse­re Theater, Universitäten und Kulturinstitutionen geschaf­fen? Wahrscheinlich die­sel­ben, die einer Frau mit Migrationshintergrund zustim­mend zunicken, wenn sie in lin­ken Gewerkschaften schreit: «Ich lie­be die Hamas.» Oder ein alter Gewerkschafter meint: «Friede jetzt» – und dann zu Tode belei­digt ist, wenn man ihn damit des Täterkuschelns über­führt.

Wie der Nationalsozialismus nicht out of nowhe­re kam, kam auch der Islamofaschismus nicht von allein. Jahrzehntelange post­struk­tu­ra­li­sti­sche, post­fe­mi­ni­sti­sche und post­de­mo­kra­ti­sche Leere in den Gesellschafts‑, Sozial- und Geisteswissenschaften führt dazu, dass die Shoa ein «Verbrechen» unter «Weissen» und isla­mo­fa­schi­sti­sche Massenmörder die Befreier sind. Haben des­halb die USA Afghanistan vor­letz­tes Jahr so über­stürzt ver­las­sen? Weil sie den «Befreiern» nicht mehr im Weg ste­hen woll­ten? Der am 7. Oktober 2023 in unse­ren Städten gewach­se­ne isla­mo­fa­schi­sti­sche Mob ist das Resultat jah­re­lan­ger isla­mo­fa­schi­sti­scher Toleranz inmit­ten unse­rer Gesellschaften. Sie sind auch das Resultat neo­li­be­ra­ler, pri­va­ti­sier­ter Klickregimes, denen egal ist, ob die Klicks von gestör­ten Kindervergewaltigern oder von um Aufklärung bemüh­ten Politologinnen erfol­gen.  Algorithmen trans­por­tie­ren kei­ne Information, son­dern rei­ne Emotion: je mehr davon, desto mehr Klicks.

2023 soll­te Adania Shibli für ihren Roman «Eine Nebensache» in Frankfurt am Main aus­ge­zeich­net wer­den. Der Roman behan­delt eine wah­re Geschichte aus dem Jahr 1949 und zeich­net sich durch anti­se­mi­ti­sche Stereotype aus. Warum einen der­ar­ti­gen Roman aus­zeich­nen? Die Sprache kann es nicht sein, glau­ben Sie mir: Er ist lite­ra­risch unter­ir­disch schlecht. Also muss es die Ideologie im Buch sein, aber why? Seit wann gehor­chen Literaturpreise vor allem anti­se­mi­ti­schen und nicht mehr lite­ra­ri­schen Regeln?

Unsere Demokratien wur­den auf dem Massengrab der ver­nich­te­ten euro­päi­schen Juden und Jüdinnen errich­tet. Als Westkind erleb­te ich Jahrzehnte jüdi­scher Versionen und Visionen demo­kra­ti­scher Partizipation, den Wohlfahrtsstaat, den Feminismus, die kul­tu­rel­le Avantgarde. Und die sol­len mir nun von Islamofaschisten, einer links- und rechts­ra­di­ka­len Mob- und Klickgesellschaft wie­der genom­men wer­den? Unter der lau­ten Mittäterschaft von Medien, Universitäten und Kulturinstitutionen?

Nein, nein und tau­send­mal nein. Das sind wir alle nicht zuletzt Simone Veil schul­dig. Die schö­ne Europäerin gehör­te zur fran­zö­si­schen Intelligenz, viel mehr, als dies Jean-Paul Sartre je gekonnt hät­te. Sie über­leb­te Auschwitz und den Todesmarsch nur knapp, sie war die Retterin der alge­ri­schen Gefangenen, indem sie das fran­zö­si­sche Justiz- und Rechtssystem demo­kra­ti­sier­te. Sie trieb die euro­päi­sche Einigung vor­an, sie been­de­te die Hinterhof-Abtreibungen für fran­zö­si­sche Frauen, sie ist DIE EUROPÄISCHE HELDIN von uns allen: ohne Simone Veil kein Europa, kei­nen Frieden und kei­ne Menschlichkeit. Sie muss­te vom Innenminister 1974 hören, als sie sich für das Pariser Bürgermeisteramt inter­es­sier­te: «Paris gibt sich kei­ner Frau hin – und noch weni­ger einer Israelitin.» 1979 wur­de sie die erste Präsidentin des Europaparlaments, aber ihre erschüt­ternd gute Biografie, lite­ra­risch umwer­fend poe­tisch, kam erst 2007 her­aus: Sie muss­te fast 82 Jahre alt wer­den, um über das Erlebte schrei­ben zu kön­nen. «Und den­noch leben» heisst das Werk, das auf Deutsch 2009 im Aufbau-Verlag erschie­nen ist und bis heu­te auf brei­te Rezeption war­tet. Deshalb hier zum Schluss eine war­me Empfehlung dafür. Und was die Stadt der Städte – Wien – betrifft: Lasst sie uns aus geträum­ten, zer­stör­ten und neu geträum­ten Ideen der Wiener Jüdinnen wie­der auf­le­ben. Diese demo­kra­ti­schen Gebaut- und Geworfenheiten, die uns trotz Zerstörung wei­ter­tra­gen in Strassennamen, Sprichwörtern, im Tonfall der Sprache.

Maria Lazar: Leben ver­bo­ten!
Btb-Verlag.

Simone Veil: Und den­noch leben: Die Autobiografie der gros­sen Europäerin
Aufbau-Verlag

Bild links: Die Keramik stammt von Susi Singer, einer jüdi­schen Keramikerin der Wiener Werkstätte, die 1955 in Los Angeles starb, nach­dem sie sich dort auch eine Karriere hat­te auf­bau­en kön­nen. Foto: R. Stämpfli