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Leben gün­stig abzu­ge­ben

Was heisst es eigent­lich wirk­lich zu leben? Unbegrenzte Möglichkeiten, maxi­ma­le per­sön­li­che Flexibilität und auf­ge­ho­be­ne Tempolimiten auf der Lebensautobahn ver­heis­sen grösst­mög­li­che Freiheit. Die Entscheidungsspielräume unse­rer Selbstverwirklichung sind per­ma­nent garan­tiert, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Jeder ist zu jeder Zeit an jedem Ort was und wie er sein will: wir sind kom­pro­miss­los selbst­be­stimmt. Aber wer­den wir dadurch nicht auch durch jeden belie­bi­gen ande­ren aus­tausch­bar, iden­ti­täts­los? Anders gefragt: Was zeich­net unser Leben denn noch aus und unter­schei­det das ‹Leben› vom ‹Existieren›? «Scripted Life», am Theater Neumarkt urauf­ge­führt, sucht nach Sinn und Antwort in die­sen Fragen.

Karina (Franziska Wulf) steigt aus. Jahrelang arbei­te­te sie als Schauspielerin, spiel­te, tanz­te, wein­te, flü­ster­te und schrie auf der Bühne; immer im Versuch, Figuren sich selbst ein­zu­ver­lei­ben, nicht von ihnen ein­ver­leibt zu wer­den, immer mit dem Wunsch eines ‹Ichs›. Wenn aber nun jeder das ‹Ich› im ver­meint­li­chen ‹Selbst› der Masse sucht, ist es viel­leicht gera­de des­halb nicht zu fin­den: «Es waren ein­fach zu vie­le» begrün­det Karina ihren Ausstieg und beschliesst von da an, sich zu ver­kau­fen, oder bes­ser: zu ver­mie­ten. Als «Schauspielerin für das eige­ne Leben» über­nimmt sie von nun an das Leben der ande­ren. Ihre lan­gen weis­sen Haare und Cyborg-ähn­li­ches Auftreten las­sen den Preis dafür erah­nen.

Erfolgreich, ambi­tio­niert und stets «mit der rich­ti­gen Haltung» stör­te sich Liebmann (Alexander Seibt) nie an einem feh­len­den ‹Selbst› oder sei­ner Ersetzbarkeit. Im Gegenteil, Liebmann wuss­te um das glück­li­che Leben, das er in der Masse führ­te. Als er dann eines Tages ein­fach zuhau­se blieb, aus­stieg, konn­te er sich das folg­lich selbst nicht erklä­ren. Eine gemie­te­te Schauspielerin soll für ihn vor­über­ge­hend die Regie in sei­nem Leben über­neh­men und ihm dadurch Zeit geben, im Drehbuch sei­nes Lebens selbst wie­der neue Wendungen zu ver­an­las­sen.

Wie will ich leben?

Das Projekt «Scripted Life» (Regie Katarina Schröter, Dramaturgie Daniel Lerch) lehnt sich an Motive von Andrej Tarkowski’s Sowjet-Filmklassiker «Stalker». Im Raum der Wünsche an der Chorgasse (Ausstattung Regula Zuber) hin­ter­fra­gen die Spieler Lebensansichten und Weltbilder, las­sen ‹Selbst› und ‹Fremd› kol­li­die­ren, ver­schmel­zen und ver­lan­gen nach Entscheidungen. Dabei ist «Scripted Life» aber mehr als ein blos­ses Gedankenexperiment. Wenn Karina und Liebmann in kur­zen Alltagsszenen das Leben zu fas­sen ver­su­chen, füh­ren sie den Zuschauern eine unge­ahn­te Realität vor Augen: Wie will ich eigent­lich leben? Und wie lebe ich im Moment?

Gibt Liebmann der Schauspielerin Karina zu Beginn noch Regieanweisungen, wie sie ihn beim Frühstück ver­liebt anzu­schmach­ten habe oder wie sie ihm bei­brin­gen sol­le, dass sie schwan­ger sei, ent­fer­nen sich sei­ne Szenenanleitungen mehr und mehr von sei­nem eige­nen Sein. Bald schon fin­det sich Karina in der Rolle sei­ner Sitznachbarin mit Flugangst oder einer Blumenverkäuferin wie­der. Schliesslich gehen Liebmann selbst die­se fremd­ar­tig wir­ken­den Szenenideen gänz­lich aus. Das Leben ist durch­ge­spielt und gibt für ihn nichts mehr her. Währenddessen mau­sert sich Karina von einer Statistin, über die Hauptrolle zur Solokünstlerin – längst hat sie ihr ‹Ich› abge­streift und sich Liebmann ein­ver­leibt.

Wenn ich du bin, was bist dann du?

Wenn Liebmann am Ende meta­phy­si­schen Selbstmord begeht, um selbst fort­zu­ge­hen und das Leben eines ande­ren zu über­neh­men, wird klar: Selbstbestimmung setzt Entscheidungsstärke vor­aus, Freiheit wie­der­um gibt es nicht ohne den dau­ern­den Kampf und die nöti­ge Kraft, allei­ne dazu­ste­hen – und Dinge zu tun, die eine Gesellschaft auf der Überholspur gar nicht mehr wirk­lich beherrscht, die sie längst ver­lernt hat. Leichter ist es dage­geb, sich unver­bind­lich mal alle Türen offen­zu­hal­ten, weg­zu­ge­hen, wenn es zu viel wird, bloss kei­ne end­gül­ti­gen Entscheidungen zu tref­fen – und so sicher zu stel­len, dass im Zweifelsfall wie­der alles kor­ri­giert und unge­sche­hen gemacht wer­den kann.
«Scripted Life» fühlt sich wie ein ganz rea­les Gedankenexperiment an. Es nimmt sei­nen Ausgangspunkt in uns allen und macht das Stück damit zu mehr als eben nur Theater. Die Uraufführung im Theater Neumarkt fühlt sich gross­ar­tig authen­tisch an und bleibt doch viel­schich­tig und kom­plex. Wie das Leben selbst, möch­te man anfü­gen.

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