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«Le Consentement» und «14 juil­let»: Vive la lit­té­ra­tu­re fran­çai­se con­tem­po­rai­ne

Von Dr. Regula Stämpfli - Éric Vuillard schil­dert in sei­nem Roman «14. Juli» die Namenslosen, die dem Schafott und auch der Geschichtsschreibung ent­ron­nen sind. Es ist ein fabel­haf­ter Roman. Schlicht bril­lant. Bevor ich indes­sen auf die Ereignisse rund um die Französische Revolution ein­ge­he, las­sen Sie mich ein wenig aus­ho­len.

Wäre Europa ver­dammt, nur noch in einer ein­zi­gen Sprache lesen zu dür­fen, wür­de uns die fran­zö­si­sche ret­ten. Keine ande­re Sprache ver­mag Demokratie, Geschichte, Politik, Unterdrückung, Freiheit, Sexualität und Philosophie so poe­tisch zu ver­mit­teln wie sie. Deutschland und die Dialäktschweiz ver­bin­den im Vergleich furcht­ba­re Leerstellen: Literatur ist oft eine drö­ge Männerangelegenheit, Poesie wird ger­ne von pro­te­stan­ti­schen Klugscheisserinnen und Klageweibern ver­han­delt: Helvetisch-teu­to­nisch-klein­krä­me­risch wird Literatur im gros­sen Kanton und in der Dialäktschweiz mit­tels Politiksprache ter­ri­to­ri­a­li­siert. Ausgenommen sind dabei die gros­sen Schriftstellerinnen wie Marlene Streeruwitz, Elfriede Jelinek, Christa Wolf, Eva Menasse, Verena Stefan, Johanna Adorjan, Ruth Schweikert, Vea Kaiser, Anne Siegel, Laure Wyss – um der Gerechtigkeit hal­ber nur eini­ge zu nen­nen und gleich­zei­tig auf die gros­sen deutsch­spra­chi­gen Krimiautorinnen hin­zu­wei­sen, deren lite­ra­ri­sche Qualität immer wie­der über­zeugt. Das deutsch­spra­chi­ge Feuilleton ist an der Misere mit­be­tei­ligt: Es strotzt vor Platitüden wie «nichts Neues», «zu wenig Distanz», «Anklageschrift», «ver­bis­sen», «könn­te span­nend sein», wenn es um aus­ge­zeich­ne­te Romane oder Sachbücher geht, die dem Kritiker ein Dorn im Auge sind, weil er schlicht über­for­dert ist. Deutsches «Übermannt-Sein» (O‑Ton Christian Lindner, FDP-Chef Deutschland, der als «Vorzeigeintellektueller» gilt) über­all: des­halb kein Anzeichen im deut­schen Feuilleton, sich auf die Poesie des «Other», auf Verantwortung, auf Demokratie, auf Urteilskraft, auf Denken ein­zu­las­sen. Deutsche Kulturkritik lies­se sich in einem Comic mit einem älte­ren, wohl­erhal­te­nen Mann «in den besten Jahren» mit reh­äu­gi­ger Kritikerin an der Seite, ja, sie könn­te sei­ne Tochter sein, zeich­nen: «Fräuleinwunder» als deut­sche Norm statt als Skandalon.

Weshalb gibt es in Deutschland und in der Schweiz nie Revolutionen? Richtig. Weil über­all Schilder ste­hen: «Denken ohne Geländer ver­bo­ten».

In deutsch­spra­chi­gen Milieus, die pro­te­stan­ti­sche Ethik lässt grüs­sen, ist es ein­fa­cher, über sexu­el­le, psy­chi­sche oder son­sti­ge «inti­me» Nöte zu spre­chen, wehe aber, AutorInnen wagen es, über die bit­te­re Armut ihrer Herkunft zu spre­chen. Unrecht wird in kul­tu­rel­len und media­len Milieus ger­ne hier­ar­chi­siert, und in der Schweiz ist fast alles erlaubt, Armut gehört defi­ni­tiv nicht dazu. In Frankreich ist dies heu­reu­se­ment völ­lig anders und zwar schon län­ger : Annie Ernaux, Éduard Louis, Didier Eribon, Michel Foucault, Simone de Beauvoir, Catherine Millet, Delphine de Vigan, Vanessa Springora, Virginie Despentes, J. J. Rousseau, Alain Badiou, Simone Weil, Jean Baudrillard, Yasmina Reza, Simone Veil, Leila Slimani, ja sogar Michel Houellebecq (aber nur für «Unterwerfung»), Gila Lustiger und vie­le ande­re mehr, die über die Welt, sich sel­ber und die Revolution, den poli­ti­schen Islam, die Demokratie nach­den­ken, inspi­rie­ren, poe­ti­sie­ren, ästhe­ti­sie­ren, kon­ter­ka­ri­kie­ren, dia­lo­gi­sie­ren – kurz: Hier kann Mann und Frau atmen. Verglichen mit der mora­lisch über­le­ge­nen, sprö­den Carolin Emcke oder der an Kotze, Hass, Vergewaltigung, Porno und Folter ent­lang fik­tio­na­li­sie­ren­den Sibylle Berg ent­fal­ten die fran­zö­si­schen Sachbuchautorinnen und Romanciers in nach­hal­ti­ger Eleganz, tra­gisch scharf, prä­zi­se, wort­ge­wal­tig, durch­drin­gend, leicht, pen­seur­nah Sätze, die, anders als bei den deut­schen KollegInnen, nie als «Phrasen» deklas­siert wer­den kön­nen. Die Haltung vie­ler deutsch­spra­chi­ger LiteratInnen ist die, die von Vanessa Springora so ent­larvt wird: «Was wiegt schon das Leben einer anony­men Jugendlichen gegen­über dem lite­ra­ri­schen Werk eines höhe­ren Wesens?» Vanessa Springora hat auf 200 Seiten eine Geschichte, ihre Geschichte, erzählt, die innert zwei Wochen schon aus­ver­kauft war. Das muss man sich ein­mal in Berlin vor­stel­len. Eine Frau, über 40 Jahre alt, schreibt ein gros­ses lite­ra­ri­sches Werk und es geht in der deut­schen Hauptstadt weg wie die Croissants de la Maison d’Isabelle in Paris. Ist auch in Zürich noch nie pas­siert. Springoras Roman erzählt vom 14-jäh­ri­gen Mädchen, das dem gefei­er­ten Schriftsteller Gabriel Matzneff und des­sen Begehren die­nen soll. «Le Consentement» heisst das Werk, «Die Einwilligung». Als ob eine jun­ge Frau, ein Mädchen, einem 50-jäh­ri­gen Typen auch nur irgend­ei­nen Konsens schul­den wür­de.
Das deut­sche Feuilleton rieb sich die Hände: Endlich: «Ein Erdbeben im alten Kulturbetrieb» (Deutschlandfunk), nicht reflek­tie­rend, dass es in ganz Deutschland oder in der Schweiz kei­nen ein­zi­gen publi­zier­ten und ver­gleich­ba­ren MeToo-Fall gibt. MeToo oder MediaToo, das bedeu­tet in Deutschland und in der Schweiz: «Ausländerinnen vor­be­hal­ten». Dank Vanessa Springora beschäf­tigt sich nun auch Frankreich ganz inten­siv mit der Betriebsblindheit im Kultur- und Medienbetrieb. «Blindspirale» nann­te ich das kom­mu­ni­ka­ti­ve Muster schon 2007. Blindspiralen, die Leerstellen hin­ter den stän­dig repro­du­zier­ten Bildern pro­du­zie­ren und den Blick auf die Wirklichkeit, die Wahrhaftigkeit ver­ne­beln.

Vanessa Springoras Buch ist erschüt­ternd. Die Verlegerin führt die Lesenden in eine bekann­te Welt der Jugendlichkeit, wo alles noch mit Blicken beginnt. Mit inten­si­ven, for­dern­den Blicken, wie sie jun­ge Männer und jun­ge Frauen zum ersten Mal erle­ben. Wie schön sie doch ist, die­se Aufregung, begehrt zu wer­den! Springora ver­liebt sich in die­sen uralten Typen, der, so schmie­rig er aus­sieht, genau spürt, was er in den jun­gen Menschen anrich­ten kann. Es sind immer jun­ge Menschen, ohne Eltern oder ohne einen Elternteil, klu­ge, früh­rei­fe Menschen, die sich unend­lich ein­sam füh­len. Ich ken­ne eini­ge ehe­ma­li­ge Freundinnen, die noch immer die Anerkennung ein­ge­bil­de­ter, gross­spu­ri­ger, rei­cher und mäch­ti­ger Männer suchen. Männer, die ihr gan­zes Leben mit den Verräterinnen an der eige­nen Freiheit schmücken. Vanessa Springora befrei­te sich von der radi­kal mensch­li­chen Sucht nach dem Gesehenwerden. Jahrzehntelange Therapien, tol­le Beziehungen und ein wun­der­ba­res Kind stärk­ten ihre Resilienz. Dennoch weiss man: Ohne Metzneff wäre Springoras Leben so viel bes­ser gewe­sen.
Vanessa Springora rea­li­siert die Vergewaltigung des 50-jäh­ri­gen gefei­er­ten Literaten Matzneff nur durch Literatur. «Er hat es als Liebesgeschichte aus­ge­ge­ben. Meine Liebe war echt, sei­ne Liebe aber hat­te einen ande­ren Hintergrund. Das habe ich alles erst spä­ter ver­stan­den, als ich sei­ne Bücher gele­sen habe. Da wur­de mir klar, dass es ihm um etwas ganz ande­res ging als um Liebe.» Matzneff hat aus sei­ner Lust am Sex mit Minderjährigen nie einen Hehl gemacht, mehr noch, er hat sei­ne Opfer als lite­ra­ri­sches Material und Kapital miss­braucht. In den Talk-Shows war er gefei­er­ter Star, nur in Kanada, ein ein­zi­ges Mal in den 1990er-Jahren attackier­te ihn die Schriftstellerin Denise Bombardier. «Herr Matzneff erzählt uns, dass er Analverkehr mit 14- bis 15-jäh­ri­gen Mädchen hat, dass sie ver­rückt nach ihm sind.» Widerlich, unfass­bar wider­lich, doch sei­ne Kunstkollegen gaben sich ent­zückt. Diese still­schwei­gen­de Billigung einer gan­zen Szene.

An Vanessa Springoras Bericht ist vie­les ver­stö­rend, vor allem weil die Verlegerin ihre eige­ne Rolle nicht beschö­nigt und doch zei­gen kann, dass die­ser Mann ein Monster ist. Ein Monster, das lie­bes­sehn­süch­ti­ge Kinder sanft behan­delt, aber mit «namens­lo­ser Gewalt» über sie ver­fügt hat. Entsetzlich ist auch die Mittäterschaft des Arztes. Dem Gynäkologen erzählt sie von der sexu­el­len Beziehung (als Fünfzehnjährige!) zu einem 50-jäh­ri­gen Mann und gesteht ihre Angst vor der Entjungferung. Der Arzt «will ihr hel­fen» und schnei­det ihr Hymen.
Womit wir bei den Schlächtern von Paris in den Revolutionstagen ange­langt sind. Geschichte ist immer Politik in kostü­mier­ter Form, nur ver­ges­sen dies die mei­sten Historiker und ver­kau­fen das, was sie «Quellen» nen­nen, als «Wahrheit», obwohl die Tatsachen wie Puzzleteile nie nur ein fixes, son­dern ein stän­dig wan­del­ba­res Bild abge­ben. Éric Vuillard hat alles gele­sen, was ihm von unten in die Hände kam: Gerichtsprotokolle, Zeugenberichte, Geburts- und Todesregister. Nach der «Tagesordnung», in wel­cher Vuillard die Legende der «guten Deutschen», der arbeits­sa­men Industriellen, bru­tal dekon­stru­iert, folgt nun der 14. Juli, der Sturm auf die Bastille. Vuillard erzählt dies­mal nicht von der drecki­gen Kooperation der deut­schen Grossindustriellen mit Hitler, son­dern von den Namenlosen von unten, die die Revolution gegen den fran­zö­si­schen König erst ermög­lich­ten. Er beginnt mit Lohnkürzungen, die Gilets jau­nes las­sen grüs­sen. Seine Sprache ist dra­stisch, Leichen sta­peln sich auf Mistkarren, auf Strassen, in zer­stör­ten Luxusgärten. Homer ähn­lich lässt Vuillard die Todesliste der Schlächter lesen: Die Namenlosen krie­gen wenig­stens einen Hauch von Individualität. Jede Wehr von unten benutz­ten die Mächtigen, um auf unbe­waff­ne­te Hungernde zu schies­sen.

«Da man nicht locker­liess, began­nen die Aufständischen, sich zu ent­fer­nen, arg­wöh­nisch und scheu» – dies, obwohl sie es waren und nicht die Abgeordneten, die die Bastille erstürmt hat­ten. «Man kann sie schon ver­ste­hen, denn man­che der Sieger soll­ten noch nicht auf der Liste des Hôtel de Ville ste­hen, als sie wegen ihrer Ausschreitungen bereits gehängt wur­den. Der Marquis de La Salle konn­te sich noch so bemü­hen, die fort­stre­ben­den Leute in einem väter­li­chen Tonfall, schein­hei­lig und andachts­voll, freund­lich zurück­ru­fen und zur Rückkehr zu bewe­gen, sie flo­hen schleu­nigst in die Gassen. So ent­schlüp­fen die Menschen dem Schafott wie den Geschichtsbüchern.» Wow, nicht wahr?

Alors: Lire c’est par­tir …

Éric Vuillard, 14. Juli, Aus dem Französischen von Nicola Denis, 2019.
Vanessa Springora, Le Consentement, Paris 2020.

 

 

Dr. phil./Dipl. Coach Regula Stämpfli ist Politologin und Bestsellerautorin («Die Vermessung der Frau», «Trumpism») und schreibt exklu­siv für ensuite eigen­wil­li­ge, poli­tisch ver­sier­te Rezensionen.