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laStaempflis Kulturjahr 2020: Die Liebe in Zeiten von Corona

Januar: Worldly statt Selfie. Entwurf einer digi­ta­len (Frauen)Demokratie für #50JahreFrauenstimmrecht

Zum Auftakt des Jahres ein Glücksfall. Isabel Rohner, die fabel­haf­te Krimiautorin von „Schöner Morden“ und „Taugenixen“ gibt mit der eben­so ein­drucks­vol­len Irène Maria Schäppi, Lifestyle-Chefin von 20 Minuten, das wich­tig­ste Buch für das Jahr 2021 her­aus: 50 Jahre Frauenstimmrecht im Limmat-Verlag. Heute ist es schon in der zwei­ten Auflage und ich hab ja dar­auf gewet­tet, dass es #Bestseller2021 wird. Ich bin eine der 25 Frauen, die über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung im Band mit einem Aufsatz ver­tre­ten ist. Natürlich dreht sich bei mir alles um Korsette: Daten, Kilos, Fiktionen und die G‑Mafia. Ich bre­che das algo­rith­mi­sche Storytelling und sehe mich in bester Denkerinnen-Gesellschaft: Alle im Buch ver­sam­mel­ten Artikel und Interviews sind ein­fach DER HAMMER. Hier erwäh­ne ich den Jänner 2020, weil Isabel Rohner und Regula Stämpfli sich über die­sem Projekt via Twitter näher kamen. Eine digi­ta­le Liebe auf ersten Tweet sozu­sa­gen, dar­aus ent­stand das unver­gleich­li­che Projekt: „DiePodcastin. Isabel Rohner und Regula Stämpfli erklä­ren die Welt“, zu hören auf www.diepodcastin.de seit Juni 2020.  

 Literatur: 50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung von Isabel Rohner und Irène Schäppi (Hg), Limmat 2019.

 

 

 

Februar: « Inscriptions en rela­ti­on », Paris, Palais de la Porte Dorée, 14–16 février 2020

Welche Folgen hat­te die glo­ba­le Finanzkrise von 2008 ? Chinas über­wa­chungs­ka­pi­ta­li­sti­sche Diktatur fin­det auch im Westen ihre Ableger, die Schweiz schliesst 2014 ein Handelsabkommen mit der Weltmacht ab; TTIP wird nur durch die Wahl von Donald Trump ins Weisse Haus ver­hin­dert – die ein­zi­ge posi­ti­ve Wirkung des Irren in Washington. Die Demokratie Griechenlands wird 2015 durch den Finanzcoup Schäubles in die Knie gezwun­gen; Terroranschläge in Nizza, München, Paris; 2016 Brexit; Erdogans Machtübernahme der Türkei; anti­se­mi­ti­sche Narrative, die von der Linken bis zu den Rechtsextremen in Polen wie Ungarn beklatscht wer­den; die Eroberung der Welt durch digi­ta­le Kreditpunktsysteme (Stämpfli in swiss­fu­ture 1/2020). Am 10. Februar 2020 berich­tet der Tages-Anzeiger von einer Heuschreckenplage in Uganda. In Europa macht das Virus mit dem Namen Corona ziem­lich schnell Karriere: Auch in Paris küs­sen sich Fremde erst nach eini­gem Zögern oder gar nicht mehr. Am 5. Februar war ich noch in Luzern, hab mit Vortrag zur „Zukunft der Arbeit“ gutes Geld ver­dient, mei­ne zau­ber­haf­te Freundin besucht und mich auf vier Tage post­ko­lo­nia­li­sti­sche Theorie vor­be­rei­tet. Achille Mbembe, gros­ser Denker, unein­sich­ti­ger Israel-Hasser mit üblen anti­se­mi­ti­schen Einschlag, meint: „Es gibt kei­nen Ort der Welt, an dem wir Afrikaner will­kom­men sind, nicht ein­mal in Afrika.“(SZ 10.1.2020) Die Konferenz in Paris zitiert die­sen Satz nur, es sind tumul­te Tage, weh­müh­tig ver­las­se ich die Stadt wis­send, dass es wohl lan­ge dau­ern wird bis ich hier wie­der vor dem Gare du Lyon tan­ze. Den letz­ten öffent­li­chen Auftritt habe ich nach mei­ner Paris-Reise in Ingoldstadt bei der wun­der­ba­ren Janice Gondor, respek­ti­ve Petra Klein und den ande­ren vie­len tol­len Frauen und Männer der Grünen Partei Deutschlands. Ich habe die Ehre, die Aschermittwochrede zu hal­ten. Und das war es dann.

Literatur: Ruedi Baur. Visuelles Tagebuch Corona: ruedi-baur.eu

 

 

März: Clara von Rappard und myste­riö­se Lungenkrankheit

Posttraumatisch kom­ple­xe Störungen auf­grund jahr­zehn­te­lan­ger Unsichtbarmachung und Stigmatisierung von Frauen wer­den von der männ­li­chen Fachwelt ger­ne her­un­ter­ge­spielt. Dies ist kein Missgeschick und der Lauf der Geschichte, son­dern Gewalt. Im Kunstmuseum Bern bestaun­te ich die mir bis­her unbe­kann­te Clara von Rappard (1857–1912) zum Thema „Die Auflösung des Menschen in der Landschaft.“ Die Schweizer Malerin war Nomadin wie ich: Sie lern­te in Venedig, Berlin, Rom, Hannover, München, sie galt zu ihrer Zeit als bekann­te­ste Künstlerin der Schweiz. Ihre Arbeiten wur­den in England, Frankreich, Schweiz und den USA gezeigt, sie hat­te ver­schie­de­ne Einzelausstellungen in Deutschland und… sie wur­de von der bis in die Knochen patri­ar­cha­len Kunstwelt nach ihrem Tod so ver­leug­net wie alle ande­ren gros­sen Künstlerinnen, so dass selbst 2020 beschränk­te Journalisten fra­gen: „Weshalb gibt es so wenig gros­se Künstlerinnen?“ Rappards „Die Jungrau im Nebel“ erzählt davon wie ver­letz­lich Natur und Menschen gegen­über den gewal­ti­gen Maschinenkräften gewor­den sind, atem­be­rau­bend schön. Dies passt zum Freitag, dem 13. März, dem Tag als der euro­pa­wei­te Lockdown begann. Die myste­riö­se Lungenkrankheit, wie sie im Januar 2020 noch bezeich­net wur­de, hat­te nicht nur einen Namen, son­dern einen Fachbegriff: Die Corona-Pandemie.

Literatur: Great Women Artists. Phaidon.

 

 

April: Heldinnen des Alltags. Sogar der Papst mel­det sich.

 Corona – wie Covid19 noch heisst– ver­wan­delt den Himmel in ein unend­li­ches Blau und ver­ord­net Europa eine gros­se Stille. Diese Ruhe gilt nur für Einige: Denn auch in Corona blei­ben die Habenden glei­cher, pri­vi­le­gier­ter, frei­er, geseg­ne­ter, viel­fäl­ti­ger als die Nicht-Habenden.

Plötzlich reden alle von „system­re­le­van­ten Berufen“ und mei­nen eigent­lich die Frauen, die jedoch durch sol­che Begriffe unsicht­bar gemacht wer­den. Ja klar. Es gibt die Müllmänner, Feuerwehr und die Busfahrer. Berufe, die Frauen lan­ge ver­wehrt wur­den. Pflege, Verwaltung, Bildungseinrichtungen indes­sen sind zum Grossteil weib­lich und des­halb wenig sicht­bar, wenig aner­kannt und wenig ent­löhnt. „Männer erklä­ren, wie system­re­le­vant Frauen sind“ bringt die klu­ge Forscherin Elizabeth Prommer die­sen Sachverhalt auf den Punkt. Gleichzeitig geben wich­ti­ge Männerintendanten lamen­tie­ren­de Interviews zu Kunst und Kultur. Auch der Papst, Schirmherr der mäch­tig­sten glo­ba­len Männerorganisation neben BlackRock, twit­ter­te eine Botschaft aus Rom: „Ihre Arbeit ist kein Job, viel­mehr Berufung und Hingabe. Dafür geben sie in die­ser Zeit ein hel­den­haf­tes Beispiel.“ Doch mit schö­nen Worten „hat noch nie­mand gfräs­sä“ wie mei­ne Mutter zu sagen pfleg­te. Vielen von uns wur­de über Nacht Berufung weg­ge­nom­men. Ich ken­ne zahl­rei­che weib­li­che Kulturschaffende, die sich im Laufe von 2020 völ­lig aus­bil­dungs­frem­de Jobs suchen muss­ten. Viele von ihnen sind im Bildungswesen und in der Pflege unter­ge­kom­men. Einige blei­ben bei ihren gut­ver­die­nen­den Ehemännern und wie­der ande­re sind ein­fach am Rand ihrer Kräfte, wis­sen nicht wirk­lich, wie sie ihr Leben wei­ter finan­zie­ren kön­nen. Von der Kinderbetreuung mag ich gar nicht reden, sonst höre ich nicht auf zu schrei­en. Vor allem in Deutschland hat die Corona-Misere ein weib­li­ches Gesicht. In der Schweiz hel­fen zwar Überbrückungskredite, doch über­all zieht der eisi­ge Wind des Autoritarismus und Denunziantentums ein. Corona ist nur für die­je­ni­gen eine Chance, die sich Glück lei­sten kön­nen.

Literatur: Gabriele Winker. CARE Revolution. Schritte in eine soli­da­ri­sche Gesellschaft, schon von 2015. Hilma Lutz. Die Hinterbühne der Care-Arbeit. Transnationale Perspektiven auf Care-Migration im geteil­ten Europa, 2018 im Beltz Verlag.

 

 

Mai: Das chi­ne­si­sche Virus stürzt die west­li­chen Demokratien in den Abgrund

Die Kombination von «mono­kau­sa­len Narrativen» und «viro­lo­gisch basier­ter Datenhoheit» habe ein «Zeitalter der tota­len Gewissheit» geschaf­fen, schreibt die Politikwissenschafterin Regula Stämpfli für die NZZ. In ganz Europa erstar­ken die Qualitätsmedien: Die Leute wol­len Urteilskraft, die Einordnung von rich­tig und falsch, von wahr­haf­tig und fake. Ich erin­ne­re an alte Wahrheiten der Philosophie. Daran, dass der Verstand sehr wohl mit Statistiken so ver­wirrt wer­den kann, dass Freiheiten über Nacht ver­schwin­den. Die übli­chen Verdächtigen, die Männermeute in eini­gen Zeitungen ver­su­chen mir mit die­sem NZZ-Text eine „Querdenkerin“ zu machen, was ihnen so kläg­lich miss­lingt, dass eini­ge sogar ihren Posten räu­men müs­sen. Meine Analyse aus „Trumpism. Ein Phänomen ver­än­dert die Welt“ hält nicht nur Bestand, son­dern fin­det gros­se Verbreitung: „Datengestützte Wahrheiten, kom­bi­niert mit post­mo­der­nen Narrativen, inten­die­ren letzt­lich, mono­kau­sal den Sieg über die kom­ple­xe Wirklichkeit zu errin­gen. Die neu­en digi­ta­len Herren inklu­si­ve ihrer Instrumente «Plattformkapitalismus» sowie «Digitaler Überwachungsstaat» zer­stö­ren mit­tels der «Algorithmisierung der Welt» empi­ri­sche Realitäten mit der­art prä­zi­se berech­ne­ter Schlüssigkeit, dass der Unterschied zwi­schen Fiktion und Realität für die mei­sten von uns nicht mehr erkenn­bar ist.“ Im Januar 2021 ist vom „chi­ne­si­schen Virus“ kei­ne Rede mehr, Donald Trump sei Dank. Nur weil der Falsche mal etwas Richtiges gesagt hat, wird zwar das Richtige nicht falsch, doch dies ist den Shittroopern die­ser Welt egal. Deshalb wird Kai Strittmatter nicht bei Markus Lanz ein­ge­la­den, obwohl er mit „Die Neuerfindung der Diktatur. Wie CHINA den digi­ta­len Überwachungsstat auf­baut uns und damit her­aus­for­dert“ das Grundlagenwerk für west­li­che Demokratien geschaf­fen hat. Überhaupt: Die wirk­lich rele­van­ten Themen gehen im Corona-Jahr unter. Olaf Scholz bei­spiels­wei­se wird trotz Wirecard Kanzlerkandidat, echt jetzt?

Literatur: Regula Stämpfli. Trumpism, Ein Phänomen ver­än­dert die Welt. Münsterverlag 2018.

 

 

Juni:  Delfine in Venedig

Die schreck­li­chen Bilder aus Bergamo wei­chen dem Stillstand zugun­sten der Natur. An nor­ma­len Tagen fla­nie­ren Hunderttausende von Touristen durch die Altstadt in Venedig. Gondelfahrten, Fast-Food, Billigsouvenirs, lan­ge Schlangen vor dem Guggenheim-Museum prä­gen den glo­ba­len Wahnsinn, der die schön­ste Stadt der Welt zer­stört. 2020 erwacht Venedig und die Venezianer*innen. Erstmals wur­de seit 60 Jahren in Venedig ein Delfin gesich­tet, Schwäne, Wildschweine und Katzen erober­ten sich die lee­ren Plätze zurück. An eini­gen Stellen konn­ten wir sogar bis auf den Grund der Kanäle sehen. Noch im Januar instal­lier­te Venedig für den Karneval Kameras, um die Personen zu zäh­len. Kameras blie­ben, Karneval wur­de abge­sagt. Ab Juli 2020 woll­te Venedig ein Eintrittsgeld von drei Euro für Eintags-Touristen ver­lan­gen. Mittlerweile hat sich die Stadt erholt, hof­fent­lich kosten Eintagstouris dann 100 Euro, wenn die Pandemie vor­bei ist. Venedig hat sei­ne Seele wie­der­ge­fun­den und soll sie doch bit­te für alle Ewigkeit behal­ten.

 

Literatur: Klara Obermüller. Die Glocken von San Pantalon, Xanthippe 2020, 162 Seiten.

 

 

Juli: James Bond ist noch das klein­ste Problem

Abgesagt: Die Festivalveranstaltenden sind „Les Misérables“ im 2020. James Bond wird ver­tagt. Doch dies ist defi­ni­tiv nicht wich­tig: Es hagelt über­all virus­be­ding­te Absagen. Bach-Festivals, Kleinkunsttage, Tanztage, Jugend musi­ziert, Technoclubs, Jazz-Festival, das beste aller Festivals über­haupt, das ORANGE BLOSSOM IN BEVERUNGEN, mein heiss­ge­lieb­tes OBS (sie­he Bild): ABGESAGT. Noch am 5. März 2020 mel­de­te das Openair Frauenfeld, dass das Festival zu „100 Prozent“ statt­fin­de. Es kam anders. Die Festivalbetreibenden wur­den von den Behörden, par­don der Ausdruck, teils wie Scheisse behan­delt: Es gab kei­ne Eintscheidungssicherheit, kei­ne soli­den recht­li­chen Grundlagen, kei­nen Plan – das gan­ze Jahre wur­de hin- und her­la­viert. Dabei war klar: Eigentlich herrscht mit dem Virus Krieg gegen alles, was unser nor­ma­les Leben aus­ge­macht hat. Doch statt den Kriegszustand, wie in Frankreich dekla­riert, schwa­fel­ten die Statusquo-Manager vom „neu­en nor­mal“. Die gröss­ten Profiteure des Krieges sind und blei­ben die Onlinedienste. Statt von Heimarbeit reden Medien von „Homeoffice“, statt von „pri­va­ti­sier­te Heimschulung“ puschen die Narrative „Homeschooling“: Das Banksprech, die­ses Schwafeln statt Benennen, fei­ert Höchststand. 15–20 Prozent der welt­wei­ten Kinos wer­den anders­wei­tig genutzt wer­den oder zuma­chen. Netflix und CO. müss­ten zu mil­li­ar­den­schwe­ren Steuern ver­don­nert wer­den.

Literatur: Shoshanna Zuboff, Das Zeitalter des digi­ta­len Überwachungskapitalismus, Campus Verlag 2018. Mittlerweile auch im Taschenbuch erhält­lich.

 

 

August: Mangels Kultur kommt die Verschwörung

Das für alle poli­tisch Versierte meist­ge­hass­te Wort im Lexikon der Unwörter 2020 ist „Verschwörungstheorie“. Jede demo­kra­ti­sche Kritik an der Selbstverständlichkeit des „neu­en nor­mal“ wird in die Ecke der Covidioten gewischt. Dass die Volksrepublik China als dezi­dier­te Weltmacht von der Pandemie in den west­li­chen Demokratien enorm pro­fi­tiert, selbst wenn der Welthandel zum Erlahmen gekom­men ist, gilt als „ras­si­stisch“. Bill Gates Stiftung ist tat­säch­lich nicht ein­fach Gutmenscheninstitution, son­dern in teils üble Geschäfte ver­strickt. Dass die Pharmaindustrie in den USA für die schlimm­ste Drogenkrise aller Zeiten ver­ant­wort­lich ist, dar­über berich­tet sogar auch der hoch­se­riö­se Deutschlandfunk. Am Oxcontin-Beispiel lässt sich sehr gut zei­gen, wie eng Medien, Fashion, Trends, Lifestyle und Pharmabranche zusam­men­hän­gen, ohne ‚Covidiot’ zu sein. 15 Milliarden Dollar haben die Sackler seit 1996 am auf Opiatbasis basie­ren­den Schmerzmittel ver­dient. Die Painkillers wur­den jah­re­lang wie Vitamine ver­schrie­ben. Opiate machen aus Menschen Abhängige im umfas­sen­sten Sinn: Sie inter­es­sie­ren sich für nichts mehr wirk­lich aus­ser für die näch­ste Dosis. In der Schweiz steigt die Nachfrage an Schmerz- und Schlafmitteln. Swissmedic zählt von 2011 bis 2018 eine Verdreifachung der ver­schrie­be­nen Mittel. Covid 19 liess die poli­ti­sche Diskussion über Pillen statt Demokratie ver­stum­men. Dabei ist klar, dass gera­de Psychopharmaka auto­ri­tä­ren Regimes hel­fen, völ­lig ent­frem­de­te Lebensbedingungen als nor­mal zu emp­fin­den. Der Schweizer Marco Kovic, Mitbegründer des neo­li­be­ra­len Thinktanks ZIPAR (Zurich Institute of Public Affairs Research) bei­spiels­wei­se wischt jede Kritik an Machtverhältnissen mit dem Hinweis auf Verschwörungstheorien ab: „Verschwörungstheorien geben uns ein Gefühl von Kontrolle und Geborgenheit.“ Well, Nein! Verschwörungstheorien die­nen den Herrschenden dazu, die Gewaltentrennung, die Recherche, Kontrolle, Gegenrede, Kritik, die Benennung der Zustände mit­hil­fe der demon­strie­ren­den Esoterikern, pein­li­chen Mittelalterfrauen, tan­zen­den Ökofreaks und üblen rechts­extre­men Covidioten lächer­lich zu machen. So geht Demokratie natür­lich nicht. Vor allem auch weil bei aller Verschwörung eines ver­ges­sen wird: Verschwörungstheorien sind so prä­sent weil sie so gigan­tisch effi­zi­ent via Twitter, Facebook, Tiktok, YouTube und Google maschi­nen­be­trie­ben sind. Kennen Sie Maja Plissezkaja (1925 bis 2015)? Sie starb in München, nach­dem sie den Stalinismus über­lebt hat und zur erfolg­reich­sten Primaballerina, Choreografin und Künstlerin welt­weit wur­de. Sie ver­starb in mei­ner neu­en Heimat München und hät­te stun­den­lang zu ihrem Leben, ihren Lenin-Gedenkmedaillen, ihren Ansichten zu Kunst und Politik inter­viewt wer­den müs­sen. Auf YouTube kann die gött­li­che 50jährige in einem „Swan“ bewun­dert wer­den, der einem zu Tränen rührt. Was sie mit Verschwörung zu tun hat? Sie hät­te uns als Russin ALLES dazu erklä­ren kön­nen. Doch lei­der hat mann sie nicht gefragt.

Literatur: Maja Göpel. Unsere Welt neu den­ken. Eine Einladung.

 

 

September: Demokratie MACHT Digital

„Der Mensch ist frei gebo­ren, doch heu­te liegt er schon vor der Geburt in eng geschnür­ten Datenpaketen.“ (Zitat Regula Stämpfli, Initiatorin, Leiterin und Moderatorin der Veranstaltung)

- Wissenschaftlerinnen wer­den, falls sie Gender unter­su­chen, bei Peer-Reviews nur zur Hälfte – im Vergleich zu Männern – berück­sich­tigt.

- Codes sind män­ner­spe­zi­fisch: Es gibt bei Algorithmen nur ein Geschlecht, das männ­li­che. Alles ist ent­we­der m oder m+.

- Der Kampf um Sichtbarkeit von Frauen hat sich durch die Digitalisierung mas­siv ver­schärft und zu Ungunsten der Frauen ent­wickelt.

DEMOCRACY DATA GAP nennt dies die Zukunftswissenschafterin Dr. Regula Stämpfli.

„Digitale Demokratie“ ist eigent­lich ein Oxymoron: „Digital“ ist künst­lich, „Demokratie“ welt­lich. Die vir­tu­el­le Welt ist punk­to Demokratie so löch­rig wie ein Emmentaler. Es gibt vie­le Projekte zur „digi­ta­len Demokratie“, doch lei­der immer noch zu weni­ge inhalt­li­che Auseinandersetzungen mit der Demokratisierung des Digitalen. Die swiss­fu­ture-Konferenz in Zusammenarbeit mit der TA Swiss wid­me­te sich am 23. September 2020 unter der Leitung der Politphilosophin Regula Stämpfli im Museum für Kommunikation in Bern, erfolg­reich und nach­hal­tig die­ser Fragestellung. Die Konferenz zeig­te wie wich­tig die Demokratisierung der Digitalisierung ist und weni­ger die Digitalisierung der Demokratie, die eher einen tech­ni­schen Diskurs beför­dert statt den demo­kra­ti­schen und poli­ti­schen.

Literatur: Caroline Criado-Perez, Unsichtbare Frauen, btb-Verlag 2020.

 

 

Oktober: #erstesMal

Mein erstes Mal war 1983, damals noch in der DDR. Über die­ses schrieb Umberto Eco: „Wenn Sie mich fra­gen, mit wel­cher Frau der Kunstgeschichte ich essen gehen und einen Abend ver­brin­gen möch­te, wäre da zuerst Uta von Naumburg.“ 2020 wie­der­hol­te ich mein erstes Mal und beschäf­tig­te mich, dank eines fabel­haf­ten Projektes unse­res Medienbüros in München, wie­der mit der Uta von Ballenstedt (1000–1046). Lange Jahrhunderte blieb sie ver­ges­sen bis sie im 19. Jahrhundert wie­der­ent­deckt und eine Schönheitskarriere als Muse bedeu­ten­der Schriftsteller begann. In den 1930er Jahren erho­ben sie die fascho­äs­the­ti­sie­ren­den Nazis zum Sinnbild der deut­schen Frau. Walt Disney ver­lieh der bösen Stiefmutter im „Schneewittchen“ 1937 die Gesichtszüge der Uta von Naumburg. Und ich habe in mei­nen Kunstagenden end­lich zwei Einträge zu Uta: 1983 und 2020, was mich zu „jedem Anfang wohnt der Zauber inne“ bringt, der punk­to Frauen wohl eher „jeder Anfang ist 150 Jahre zu spät“ heis­sen soll­te.

Dank Isabel Rohner und #DiePodcastin erfah­re ich Sinnlichkeit, Neugierde, Lebenslust, Entdeckungseuphorie, Unsichtbarkeit und weib­li­che Solidarität wie ein neu­ge­won­nes Feministinnenleben. Es gilt zu zele­brie­ren: Die Podcasts von Frauen, die Onlineseiten von #50JahreFrauenstimmrecht, #CH2021 die gros­se Zita Küng, #HerStory, #daser­ste­mal, #kom­po­ni­stin­nen (von Susanne Wosnitzka), das neue Buch der genia­len Hedwig Richter, die gros­se Luise F. Pusch, #Frauenzaehlen, #ProQuote , die Malisa-Stiftung von Maria Furtwängler und Lisa Burda, alle Posts von Inge Bell; ach, es gibt nicht genü­gend Platz, um ihnen allen zu hul­di­gen. Thea, der Blog zu „Frauen in Sprache, Medien und Gesellschaft“ will ich hier extra erwäh­nen. Dann ihr #erstesMal und #nach­ge­zaehlt sind wie fembio.org Fundgruben für Grundlagenwissen von, für Frauen und Diverse.

Literatur: Klassikerinnen des moder­nen Feminismus von Luise F. Pusch, Carola Meier-Seethaler, Elisabeth List, Herta Nagl-Docekal, Senta Trömmel-Plötz, Brigitte Weisshaupt, ein-FACH-ver­lag.

 

 

November: BLACK LIVES MATTER

Eine gan­ze Woche war der berühm­te Hollywood Boulevard in Los Angeles im August abge­sperrt. Der Grund dafür war nicht etwa Corona, son­dern die Installation des Strassengemäldes für die  „Black Lives Matter“- Bewegung. Am 13. Juni war es zu Riots in ganz Amerika gekom­men als Hunderttausende gegen Rassismus und Polizeigewalt ame­ri­ka- und euro­pa­weit demon­strier­ten, nach­dem der Afroamerikaner George Floyd von der Polizei in Minneapolis ermor­det wor­den war. Der Schriftzug in Regenbogenfarben, als Ehrung auch der LGBTQ-Community erin­nert nun in der pro­mi­nen­ten Filmstrasse an die Ereignisse des Jahres.

Weshalb erwäh­ne ich dies im Monat November? Weil ich der Überzeugung bin, dass ähn­lich des #MeToo die #BlackLivesMatter peu à peu die Welt nach­hal­tig ver­än­dern wer­den. Am Rande der Demonstrationen kam es zwar immer wie­der zu anti­se­mi­ti­schen Ausfällen, weil sich die Linke und isla­mi­sche Kreise nie zu einer kom­pro­miss­lo­sen Unterstützung des Existenzrechts von Israel durch­rin­gen kön­nen. Es gibt noch zuvie­le blin­de Flecken in den pro­gres­si­ven Kreisen, „Blindspirale“ nen­ne ich dies und hab dazu sogar eine poli­ti­sche Theorie ent­wickelt. Macht Bewegungen gegen Faschisten, Rechtsextreme, Rassisten, Sexisten wirk­lich bes­ser, wenn inner­halb der eige­nen Reihen regel­rech­te Säuberungskampagnen auf Twitter insze­niert wer­den? Nein. Wer #BLM will, soll­te ein­fach auf Michelle hören… sie­he Literaturtipp.

Literatur: Michelle Obama, Becoming.

 

 

Dezember: Ikonografie des Fehlens

Die Kultur-Jahresbilanz von 2020 ernüch­tert. Hier ein paar Fragmente.

#Auf zwei Männer kommt eine Frau…best case.

#Männer schrei­ben über Männer, zitie­ren Männer, dre­hen sich um Männer, füh­ren unter Männer Männerdebatten und insze­nie­ren sich in Männerausstellungen wie „Der erschöpf­te Mann“ im schwei­ze­ri­schen Nationalmuseum. Unter einem ewig­glei­chen Männer-Kuratorenteam Steiner, Zweifel und Direktor Spillmann wer­den frau­en­lo­se Ausstellungen am besten Platz in Zürich jahr­zehn­te­lang zele­briert. Eine Dada-Ausstellung 2016 mit einem “Damenkränzchen”, ächz, 2018 ein übles 1968er – Revival vol­ler Männer mit einer lächer­li­chen Frauengruppe an ihrer Seite. 30 Mio Franken haben die Nationalmuseen in der Schweiz jähr­lich zur Verfügung und brin­gen KEINE EINZIGE FRAUENAUSSTELLUNG zustan­de. Aber wenn frau was sagt, gilt sie als schwie­rig und die Kommentatoren win­seln: Cancelculture, ver­rückt, nicht wahr?

#Von 2008 bis 2018 zeig­te das Kunsthaus Zürich gan­ze 15 Prozent Künstlerinnen in Einzelausstellungen. 2021 wird es gera­de eine schaf­fen.

#Männer, die Männerbücher rezen­sie­ren, tun dies viel län­ger, lang­wei­li­ger und umfang­rei­cher als wenn es um Frauenbücher geht.

Birte Vogel hat im thea-blog mal nach­ge­zählt sie­he thea-blog.de . Elisabeth Eberle führt für die Schweiz Buch sie­he https://artemisia.blog/2019/11/22/einseitig-maennerlastig-kaum-kuenstlerinnen-im-kunsthaus-zuerich/ Isabel Rohner und Regula Stämpfli räu­men auf und kom­men­tie­ren die Welt aktu­ell in www.diepodcastin.de

Dafür war 2020 das Jahr von Hedwig Richter. Sie erzählt die Demokratie, wie sie wirk­lich war und sein soll­te: Die Emanzipation von Frauen. Auf ein Frohes 2021 von laStaempfli ali­as Princess Leia.

Literatur: Hedwig Richter. Demokratie. Eine deut­sche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.