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Kurze Theorie der Leser, die­ser Bastarde

(Constantin Seibt) –

Vor sehr vie­len Jahren, als Volontär im «St. Galler Tagblatt», spiel­te ich manch­mal in Begleitung ande­rer nie­der­ran­gi­ger Redakteure eine Partie Darts. Das Dartbrett nann­ten wir «Der Leser».

Wir war­fen die Pfeile mit ech­tem Hass: mit vol­ler Kraft und wenig Präzision. Der Hass hat­te Gründe. Denn wann immer einer von uns von den Chefs zurecht­ge­pfif­fen, zusam­men­ge­staucht, umge­schrie­ben oder her­un­ter­ge­kürzt wur­de, dann immer im Namen von ihm: «dem Leser».

Der Leser war ein selt­sam dop­pel­tes Wesen: Einerseits dumm wie die Nacht – sobald es nur etwas iro­nisch oder kom­plex wur­de, ver­stand er angeb­lich nicht. Andererseits war er fin­dig wie ein Affe: Sobald etwas um drei Ecken mög­li­cher­wei­se ärgern konn­te, strich man es.

Kein Wunder, hass­ten wir die­sen stump­fen, spitz­fin­di­gen Bastard.

Ein Wohnzimmer, voll mit betrun­ke­nen Irren

Nur: Hatten die Chefs Recht? Die Leserbriefe schei­nen ihre Diagnose zu unter­stüt­zen. Fast 90 Prozent funk­tio­nie­ren ziem­lich sim­pel. Entweder: «Ganz mei­ne Meinung – guter Artikel.» Oder: «Gar nicht mei­ne Meinung – war­um hat Ihr Chefredaktor Sie noch nicht gefeu­ert?». Oder im besten, sehr sel­te­nen Fall: «Meine Meinung, von der ich zuvor gar nicht wuss­te, das ich sie so hat­te – her­vor­ra­gen­der Artikel.»

Nach der Lektüre von über tau­send Leserbriefen hat man den Eindruck, dass Leser ihre Meinungen wie unsicht­ba­re Schwänze hin­ter sich her­zie­hen. Tritt man auf sie, wird geschrien. Werden sie gestrei­chelt, bekommt man einen Liebesbrief.

Die Online-Kommentare klin­gen ähn­lich, nur deut­lich rau­er. Die depri­mie­rend­sten von ihnen sind aber nicht die belei­di­gen­den. Sondern die, die kom­plett vom Thema abschwei­fen – und ein­fach irgend­et­was daher­schrei­ben. Oft sieht der Kommentarthread aus, als hät­te man in sein Wohnzimmer Betrunkene ein­ge­la­den, die Monologe hal­ten.

Die Achterbahn

Trotzdem, glau­be ich, dass mei­ne frü­he­ren Chefs sich mit ihrer Theorie des Lesers fun­da­men­tal irr­ten. Der Fehler in ihrer Analyse liegt vor allem in der Ignoranz des Mediums, in dem sie arbei­te­ten: der Schrift. Das Charakteristische an der Schrift ist, dass sie line­ar und logisch vor­an­schrei­tet, dass aber nie­mand am Satzanfang sagen kann, was am Satzende kommt. Lesen ist ein ähn­li­ches Vergnügen wie Achterbahnfahren: Man glei­tet auf Schienen vor­an und plötz­lich geht es rund. Und auf Vergnügen hat noch kein Mensch ver­zich­tet, indem noch ein Hauch von Kind lebt.

Das gilt für alle Leser: von Romanen wie Geschäftsberichten, von Anzeigen oder Tweets, Online- oder Printartikeln. Sie sind alle Kinder, also ernst, neu­gie­rig und ver­führ­bar. Wirklich zu ver­är­gern sind sie eigent­lich nur durch eines: Wenn sie unver­führt blei­ben.

Köder und Erfolg

Der Autor kann dabei mit sehr ver­schie­de­nen Ködern arbei­ten. Der Trick mit Sex im Titel des Artikels etwa ist alt, reis­se­risch und bil­lig, bleibt aber ver­kaufs­för­dernd. (Danke, geehr­te Leser, für die freund­li­che Aufnahme des Posts «Sex mit der Chefetage», das in Rekordzeit auf den dama­li­gen Platz 2 der Deadline-Rangliste hin­auf­schnell­te.)

Das Messen von Klickzahlen ist eine gross­ar­ti­ge Errungenschaften des Online-Journalismus. Denn die Quote ergibt para­do­xe Resultate. Das Reisserische zieht, aber auch Dinge, deren Erfolg zu Printzeiten kein Profi erwar­tet hät­te. So hat etwa der benach­bar­te Wirtschaftsblog «Never Mind the Markets» ver­dammt gute Zahlen. Und das, obwohl sei­ne Autoren – Markus Diem Meier, Tobias Straumann und Mark Dittli – in Sachen Komplexität kei­ne Kompromisse machen. Wie die Chefredaktion ein­mal zugab, hät­ten der­ar­ti­ge Texte kei­ne Chance auf Publikation gehabt, hät­te man nicht die Klickzahlen gekannt. Niemand hät­te geglaubt, dass der­ar­ti­ges gele­sen wird.

Das heisst:

  1. Leser lesen Reisserisches, aber auch das Gegenteil. Leser lesen, was sie inter­es­siert. (Und das kann über­ra­schend Sperriges sein. Mein aller­er­folg­reich­ster Artikel war ein mir völ­lig aus dem Ruder gelau­fe­nes Essay über ame­ri­ka­ni­sche Politik von 15’000 Zeichen mit dem sehr unreis­se­ri­schen Titel «Der rech­te Abschied von der Politik» – über 14’000 Leute teil­ten den Link auf ihrer Facebook-Seite.)
  2. Der Erfolg eines Artikels oder eines Genres kann kaum vor­her­ge­sagt wer­den. Der ein­zi­ge Test dafür ist die Publikation.
  3. Für Pessimismus in Sachen Publikum gibt es kei­nen Anlass. Dieses kon­su­miert manch­mal Fast-Food, manch­mal Fünf-Gänger, mal Schrott und mal Kunst, so wie jeder ver­nünf­ti­ge Mensch auch. Es ist nicht dumm, aber auch nicht beflis­sen bil­dungs­bür­ger­lich. Es ist vital.

Das Elend der Kritik

Warum aber dann der oft limi­tier­te Ton in den Reaktionen? Warum wird in den Briefen aus­ge­rech­net der aller­bil­lig­ste Stoff im Journalismus gelobt oder geta­delt – die Meinung? Und war­um das aggres­si­ve Geraunze und Geschwafel online?

Ein wesent­li­cher Grund ist, dass – gera­de im deut­schen Sprachraum – Schreiben immer als Ausdruck des ein­zig­ar­ti­gen Charakters des Autors begrif­fen wur­de. Also als pri­va­te Magie. Und nicht als Handwerk. Selbst Schriftsteller haben sel­ten eine Sprache dafür. Sie reden über alles, aus­ser über die Entscheidungen im täg­li­chen Job. Und ohne Ahnung vom Handwerk bleibt nur das Geschmacksurteil: Gefällt mir. Gefällt mir nicht. Und der logi­sche Schritt zum Verursacher: Ein Typ, der sowas schreibt, gefällt mir nicht.

Neben der ästhe­ti­schen, fällt öfter auch die sach­li­che Debatte flach. Denn Leser haben Privatleben und Beruf. Also nicht die Zeit, ähn­li­che Recherchen wie ein Journalist zu machen. Kein Wunder, bege­ben sie sich auf die Ebene, die allen Menschen offen steht: die der Meinung. Denn Meinungen haben fast alle. Sie wach­sen wie Haare.

Auch die Aggressivität der Voten ist nicht unent­schuld­bar. Oft stel­len wüten­de Leser die Legitimitationsfrage: Warum darf der Trottel in einer Zeitung schrei­ben, und ich nur Kommentare dazu? Von denen eini­ge auch noch zen­siert wer­den? Die Antwort ist für bei­de Seiten depri­mie­rend: Ein Journalist hat dem schrei­ben­den Amateur nur eines vor­aus: Jemand bezahlt ihn dafür. Geld ist der ein­zi­ge Beweis, dass der eine ein Profi, der ande­re sein Kunde ist.

Kurz: Die Unsitten der Leser, ihr Geraunze, ihr Zweifel an dem Charakter des Journalisten, ihr Triumph bei jedem ent­deck­ten Rechtschreibfehler – alles ist nicht ille­gi­tim. Und auch nicht der Fimmel mit den Meinungen. Denn Journalismus lie­fert mehr als Erkenntnisse und Entertainment, er bewegt sich auch in der poli­ti­schen Öffentlichkeit: Und hier, im Streit der Meinungen, zählt jede Stimme. Die Argumente sind zwar alles ande­re als gleich viel wert, die Stimme aber schon.

Doch trotz­dem lässt sich aus dem Leserecho sel­ten viel ler­nen, aus­ser: Dieser Artikel hat gezün­det, die­ser nicht. Schlicht, weil die Kritik der Leser nur höchst sel­ten den Kern der Arbeit trifft.

Die Pflicht zu Klarheit, Überraschung und dem Ärgern von Idioten

Was lässt sich dar­aus für die Praxis schlies­sen? Folgendes:

  1. Das Erfreuliche an der Unsicherheit des Erfolgs beim Schreiben ist, dass man die Frage igno­rie­ren kann. Ihre Beantwortung lohnt sich nicht. Man wird es schon sehen: aber spä­ter.
  2. Der ein­zig mass­ge­ben­de Leser blei­ben somit Sie selbst. Nicht, weil Sie unfehl­bar sind. Sondern weil es schlicht ver­nünf­ti­ger ist, mit einem Text zu schei­tern oder zu reüis­sie­ren, den man auch schrei­ben will. (Denn wenn Sie im Vornherein Kompromisse machen, kön­nen Sie genau­so schei­tern. Und wenig ist depri­mie­ren­der, als sich zu pro­sti­tu­ie­ren, ohne dafür bezahlt zu wer­den.)
  3. Falls Sie trotz­dem ein Erfolgsrezept brau­chen: Im Prinzip kön­nen Sie immer damit rech­nen, dass Ihnen jemand zuhört, wenn Sie etwas zu sagen haben.
  4. Und: Setzen Sie im Zweifel auf Kühnheit statt auf Routine. Denn letz­te­res wird nie ein Publikum hin­reis­sen. Doch jedes Publikum liebt Stunts: gros­se Bögen, atem­be­rau­ben­de Recherchen,  Angriffe auf Mächtige, Unerhörtes aller Art. (Auch, wenn es Sie in der Luft zer­reisst, falls Sie schei­tern.)
  5. Jeder gelun­ge­ne Text folgt dem Modell der Achterbahn. Daher gibt es nur zwei Pflichten gegen­über dem Leser. Erstens die Pflicht zur Klarheit. Denn nie­mand setzt sich in eine Achterbahn mit lott­rig mon­tier­ten Schienen. Oder auf Wolken. Sie haben die Pflicht zur Klarheit der Fakten, Gedanken, der Dramaturgie.
  6. Diese Klarheit gilt übri­gens nicht für die Meinung. Diese kön­nen Sie in der Schwebe las­sen, wenn Sie den Rest ver­nünf­tig mon­tie­ren. Denn wenig Fragen, Personen, Probleme sind wirk­lich ein­deu­tig beschreib­bar – sonst wären sie kei­ne.
  7. Was aber zur Klarheit gehört ist oft die Vorgeschichte. Einen der klüg­sten Sätze über das Publikum äus­ser­te der abge­brüh­te Profi Karl Lüönd: «Man soll nie mit der Dummheit der Menschen rech­nen. Aber immer mit ihrer Vergesslichkeit.»
  8. Die zwei­te Pflicht ist die der Überraschungen auf dem Weg: egal, ob durch ein Bonbon, schar­fe Schnitte, eine Erkenntnis, eine Volte, eine Ohrfeige, was immer: Ein Text, indem nichts pas­siert, ist sein Eintrittsticket nicht wert.
  9. Lesen Sie die Kommentare zu Ihren Artikeln wie ein Leser Ihre Artikel: Nehmen Sie dar­an – an Lob, an Tadel, an Ergänzungen – vor allem das wahr, was Sie inter­es­siert. Und igno­rie­ren Sie den Rest.
  10. Bei sehr belei­di­gen­den Kommentaren hilft das drit­te Gebot allen Schreibens: «Es ist die hei­li­ge Pflicht jedes Schreibenden, Idioten zu ärgern.» Vergleichen Sie kurz Ihren Ärger bei der Lektüre des Kommentars mit dem Zorn sei­nes Verfassers. Und Sie wer­den sehen: Der Saftsack hat sich über Sie noch weit mehr geär­gert, als Sie sich über ihn. Das heisst: Die Bilanz ist posi­tiv. Ätsch.

Und das hof­fe ich auch: mit die­sen Anmerkungen zur wer­ten Kundschaft mei­ne hei­li­ge Pflicht erfüllt zu haben. Nun liegt der Ball bei Ihnen. Für ein­mal kön­nen Sie unzen­siert kom­men­tie­ren.

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