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Kuratoren des Zufalls

«Tom Bola» steht für ein muti­ges Konzept. Die ins­ge­samt sie­ben Gruppenausstellungen der Ausstellungsreihe wer­den mass­geb­lich vom Zufall bestimmt: Sechs Wochen vor der Vernissage wird das Thema der jewei­li­gen Ausstellung aus Publikumsvorschlägen aus­ge­lost.

Das Thema kann dabei so schwie­rig umsetz­bar gera­ten wie «Kuckucksnest» oder wegen unle­ser­li­cher Handschrift schon mal dop­pelt gedeu­tet wer­den müs­sen wie «Rot Kot». Nach der Verlosung inter­pre­tie­ren die fünf KuratorInnen Franziska Baumgartner, Vera Egloff, Jan Hostettler, Sebastian Mundwiler und Tobias Nussbaumer das Thema, legen eine gene­rel­le Stossrichtung fest. In die­sem Interpretationsprozess sam­meln die Kuratoren Namen von eta­blier­ten sowie auf­stre­ben­den Künstlern, die wie­der­um für eine Anfrage aus­ge­lost wer­den. Ob die­se dann gera­de Zeit und Lust für eine Teilnahme haben, ist der drit­te zufäl­li­ge Moment im kura­to­ri­schen Prozess.

Überdimensionale Installation aus Tesafilm

Dieses Konzept mag zwar auf den ersten Blick sper­rig sein, erzeugt jedoch in der sech­sten Ausgabe zum Thema «Mitternachtsstunde» äus­serst inter­es­san­te Konstellationen. Der Ausstellungsraum wird durch ein Werk von Florian Buerki geprägt. Die Installation «Inside The Shadow, Of The Outside» ist ein fili­gra­nes Band aus zusam­men­ge­kleb­tem Tesafilm, gehal­ten von gro­ben Gerüststangen, und der Schatten davon ist mit schwar­zer Kohle am Boden nach­ge­legt. Durch die geschwun­ge­ne Form des Tesafilmbandes wird der Raum gleich­zei­tig getrennt und zusam­men­ge­führt – man asso­zi­iert die Sekunde der Mitternacht, die zwei Tage von­ein­an­der trennt, obwohl sich die Zeit noch gleich anfühlt.

Unbestimmtheit der Mitternacht

Das Thema «Mitternachtsstunde» wur­de im gemein­sa­men Prozess zwi­schen Kuratoren und teil­neh­men­den Künstlern vor allem auf den Moment des Übergangs hin inter­pre­tiert. Mitternacht ist sehr bestim­mend, sie ändert Zeit und Tag. Selbst ist sie aber unbe­stimmt und birgt viel­fäl­ti­ge Deutungen bis hin zu mysti­schen Assoziationen.

Die unbe­stimm­te Bestimmtheit ist zen­tral im aus­ge­stell­ten Werk «Glad» von Sam Graf. Vier Glasscheiben ste­hen an die Wand gelehnt, der Titel kei­ne Hilfe, son­dern ein Wortspiel wie ein Tippfehler: Glas wird zu Glad. «Vor einem zeit­ge­nös­si­schen Kunstwerk allei­ne gelas­sen zu wer­den, kann unglaub­lich lang­wei­lig sein», so spitzt sich die erste mild-agres­si­ve Reaktion dar­auf. Doch dann sind da Zahlen ins Glas gra­viert, 12, 15, 27, 45 oder so. Sie schei­nen Sinn zu haben, man möch­te sie ver­bin­den. Dreierreihe? Fibonacci? Geheimcode? Ohne auf­find­ba­ren Sinn, doch auch weit ent­fernt vom Zufälligen, schwankt der Betrachter in die­ser Unbestimmtheit. Die Provokation wird durch die Zerbrechlichkeit der Glasscheiben jedoch genug sym­pa­thisch, dass sie sich in dem Bewusstsein unauf­ge­regt auf­drängt. Hält der Betrachter die­se Unentschiedenheit zwi­schen Bedeutung und Sinnlosigkeit aus, eröff­net sich ihm ein gros­ses Feld an Fragen, mit denen die eige­nen Sehgewohnheiten und Erwartungen an Kunstwerke hin­ter­fragt wer­den.

Kunst als Dialog

Das hoch enga­gier­te Kuratorenkollektiv nimmt sich Zeit für Auseinandersetzungen. Auch über die vier ande­ren aus­stel­len­den KünstlerInnen – Saskia Edens, Glaser/Kunz, Lorenza Diaz, Vanessa Piffaretti – wis­sen sie viel Spannendes zu erzäh­len. Schliesslich sind die mei­sten Werke im Raum auf die­se Ausstellung hin in einem kom­mu­ni­ka­ti­ven Prozess ent­stan­den. Nichts Schlimmeres, als wenn Kunst kei­nen Dialog erzeugt – die Chance, mit Kuratoren selbst ins Gespräch zu kom­men, ist in einem Offspace wie «Tom Bola» unbe­dingt anzu­ra­ten.

Parallel zur sech­sten Gruppenausstellung im Seefeld ist ein zwei­ter Kunstraum in Altstetten per Skype zuge­schal­tet. In «i shi­ne – you shi­ne» stel­len die­sel­ben Künstler ein zwei­tes Mal aus, teils Zitate ihrer Werke, teils Ergänzungen oder Neues. Wer den 25-minü­ti­gen Busweg auf sich nimmt, wird beson­ders char­mant mit der kine­ma­to­gra­phi­schen Skulptur «Mund» von Glaser/Kunz begrüsst und fin­det zum Beispiel Spuren von Enstehungsprozessen der Werke im Seefeld. Diese Zusammenschaltung zwei­er ent­fern­ter Räume fun­giert wie ein eige­nes Kunstwerk, ein klei­nes Geschenk der Kuratoren an die­je­ni­gen, die sich der Auseinandersetzung mit zeit­ge­nös­si­scher Kunst stel­len.

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