Küssen müs­sen

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Von Luca Zacchei – Die ita­lie­ni­sche Hochzeit sieht zwi­schen 30 und 300 Gäste vor. Die Zahl der Eingeladenen passt sich den kul­tu­rel­len Gegebenheiten an: Je süd­li­cher man nach Italien vor­dringt, desto näher liegt die Grenze bei 300 Leuten. Die Schulden, wel­che für die­ses wich­ti­ge Ereignis gemacht wer­den, neh­men süd­wärts eben­falls line­ar zu. Vielleicht ist dies die wah­re, ver­steck­te Schuldenfalle des Meridione, des geo­gra­phisch unte­ren Teils von Italien.

Als ich neun Jahre alt war besuch­te ich mit mei­nem Onkel eine sol­che typi­sche Hochzeit. Ich kann­te die Brautleute nicht. Mein Onkel auch nicht wirk­lich. Er war der Schulfreund des Trauzeugen des Bräutigams, und das reich­te, um ein­ge­la­den zu wer­den. Vor der kirch­li­chen Trauung besucht man in der Regel ent­we­der die Eltern der Braut oder die­je­ni­gen des Bräutigams, je nach­dem, wel­che Verwandtschaftslinie einem näher steht. Dies tut man nicht, um die­se mora­lisch zu unter­stüt­zen, son­dern damit man sich ein erstes Mal den Bauch voll­schla­gen und den Durst stil­len kann.

Nach einem abschlies­sen­den Chinotto für mich und einem Lambrusco für mei­nen Onkel ver­scho­ben wir uns als Teil des Autokorsos Richtung Kirche. GPS-Navigatoren gab es zu jener Zeit noch nicht. Man fuhr nach Gefühl, nach «sen­sa­zio­ne». Oder anders gesagt: Wir folg­ten dem roten Alfa Romeo an der Spitze der Kolonne. Nach halb­stün­di­gem Herumirren par­kier­te die­ses Auto irgend­wo in einem ver­las­se­nen Quartier. Spätestens ab die­sem Augenblick fluch­ten die übri­gen Autofahrer wild gesti­ku­lie­rend, weil sie die fal­sche Fährte ver­folgt hat­ten. Fünfzig Meter vor Gottes Haus aber waren auch die jäh­zor­nig­sten unter ihnen zu ehr­fürch­tig und hör­ten grum­melnd mit dem Schimpfen auf.

Eine katho­li­sche Hochzeit dau­ert zir­ka 90 Minuten, exklu­siv Nachspielzeit. Die Anhänger tei­len sich auf die seit­li­chen Kirchenschiffe auf: links die Heimmannschaft der Braut und rechts die­je­ni­ge des Bräutigams. Die vor­der­sten Bänke gehö­ren den Eltern, weil sie für die­se Tribünen-Plätze teu­er bezahlt haben. Es fol­gen die engen und weni­ger engen Verwandten, dann die Freunde und schliess­lich die Schaulustigen. Draussen vor der Kirche gibt es meist noch ein paar Ungläubige, wel­che lie­ber Marlboro rau­chen und über die Wandelbarkeit der Politiker reden.

Mein Onkel und ich schaff­ten es gera­de noch in die letz­te Reihe. Als das Schiedsrichtergespann die Bühne betrat wur­de es rich­tig laut: Das Publikum stimm­te das Halleluja an. Padre Anselmo und sei­ne Ministranten wur­den mit Applaus emp­fan­gen und dik­tier­ten ab sofort das Spielgeschehen. Obwohl der Priester klein­ge­wach­sen war, schien er sehr mäch­tig zu sein. Die Zuschauer muss­ten näm­lich nach sei­nem Gutdünken auf­ste­hen und absit­zen. Die älte­ren und fül­li­ge­ren Damen seufz­ten jedes Mal, wenn sie sich auf­rich­ten muss­ten. Der Kameramann, wel­cher offi­zi­ell vom Brautpaar enga­giert wor­den war, erhielt von Padre Anselmo einen vor­wurfs­vol­len Blick immer wenn er die Sicherheitszone ver­liess und in der Nähe des Altars film­te. Weitere mah­nen­de Blicke wur­den auf schrei­en­de Säuglinge und die dazu­ge­hö­ren­den Eltern gewor­fen. Die Kinder lieb­ten es, als sie am Ende der Zeremonie das Brautpaar mit Reis bewer­fen durf­ten. Als der Weihrauch dicht und die Sicht getrübt war, nutz­ten die Halbstarken die Gunst der Stunde und misch­ten Schottersteine dar­un­ter. Die klei­nen Hooligans flüch­te­ten nach dem Wurf in alle Richtungen.

Das Hochzeitsessen war üppig. Ungefähr in der Mitte des Festmahles wur­de ein lächer­li­ches Sorbetto al Limone plat­ziert, um die Verdauung zu unter­stüt­zen. Von Gang zu Gang locker­ten die Männer ihre Krawatten, wäh­rend­des­sen die Frauen immer lang­sa­mer mit dem Fächer wedel­ten. Spätestens bei der sah­ni­gen Torta Saint Honoré kapi­tu­lier­ten auch die kor­pu­len­te­sten Gäste. Trotz Sorbetto. Sie hät­ten unter­wegs lie­ber auf die Supplementi ver­zich­ten soll­ten. Nach dem Essen ver­ab­schie­de­ten wir das Hochzeitspaar mit Küssen. In Italien rei­chen meist deren zwei pro Person. Ich küss­te somit gesamt­haft vier Mal. Die Gefeierten muss­ten hin­ge­gen viel län­ger hin­hal­ten. Wenn Sie als Leserin oder Leser rich­tig auf­ge­passt haben, dann wer­den Sie schnell fest­stel­len, dass eine nea­po­li­ta­ni­sche Braut zir­ka 600 Küsse erhält, eine römi­sche 400 und eine aus dem Südtirol 60. Ist es nun kor­rekt zu schrei­ben, dass eine Braut aus Süditalien zehn Mal so viel Zuneigung erhält, wie eine aus dem Norden? Wie Papà zu sagen pflegt: «Qualität kommt vor Quantität. Und lass dich nicht vom Äusseren täu­schen: Judas küss­te auch ger­ne und viel, mein­te es aber nicht immer gut.»

Illustration: Rodja Galli / www.rodjagalli.com
ensuite, Mai 2013

 

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