Krieg: Hundert Jahre Gegenwart

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Von Dr. Regula Stämpfli - Spätestens seit der Grande Guerre gibt es kei­ne Hofnarren mehr. Seitdem fällt das Lachen eben­so schwer, wie die ech­ten Possenreiter feh­len, die sich unge­straft über den König lustig machen und Wahrheiten aus­spre­chen kön­nen, die sich das Volk nor­ma­ler­wei­se nur hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand zutu­schelt. Oder kön­nen Sie sich einen Bajazzo im sau­di­schen Palast oder gar bei den ira­ni­schen Geistlichen vor­stel­len? Eben. Nur in den frei­en Ländern wer­den Politiker gna­den­los humo­ri­stisch aus­ein­an­der­ge­nom­men, so «lustig», dass aus dem Witz statt Demokratie nur noch Politverdrossenheit raus­kommt und vie­le der Schenkelklopfer dann ger­ne üble Männerfiguren wäh­len, die vor­ge­ben, «bür­ger­lich» zu sein. All denen sei die Lektüre von «Krieg» emp­foh­len. Allen ande­ren auch.

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts hat alle gül­ti­gen Verhältnisse zer­stampft und zer­stört. Sie hat kein Band mehr gelas­sen zwi­schen Mensch und Mensch, son­dern das Maschinengewehr zum bestim­men­den Schlag der Moderne gemacht. Seitdem regiert die gefühl­lo­se Ägide nack­ter Interessen und Zahlen. Nation, Vaterland, Männerkraft wur­den eben­so hin­weg­ge­fegt wie Gott, Nächstenliebe und Zukunft. Ethnische Säuberungen, die Ausrottung des euro­päi­schen Judentums, die Islamisierung der ara­bi­schen Welt, Ford Model T, Klimakatastrophe, Silicon Valley, Atombombe, die Automatisierung des Menschen mit der Uberpornografisierung des Alltags welt­weit? Dem Ersten Weltkrieg «sei Dank». Die Grösse des Krieges, der 1914 begann, bleibt bis heu­te unter­drückt, wird in aktu­el­len poli­ti­schen Debatten ver­drängt, ver­kitscht und viel zu sel­ten als Zeitgeist beschrie­ben, der bis heu­te andau­ert. Wenn wir näm­lich genau­er hin­schau­en, war­tet die Welt bis heu­te auf einen Frieden die­ses über hun­dert­jäh­ri­gen Krieges.

Diese Erkenntnis erschlägt einem nach der Lektüre von Gregor Schöllgens «Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte». Blitz, Säuberung, Guerilla, Terror, Annexion, Folter, Flucht und ande­re Kapitel ver­brei­ten die ver­stö­ren­de Einsicht: Von Männer- und Maschinenkraft geht immer noch der fau­lig-schwef­li­ge Geruch der Hölle von Verdun aus. Ein Abgrund, der sich seit 1914 bis in die Untiefen der voll­kom­me­nen Auslöschung jeg­li­cher Menschlichkeit aus­zu­brei­ten scheint.

Ja. Geschichte muss wie­der und wie­der unter­schied­lich erzählt wer­den. Gregor Schöllgen tut dies. Grad zu Beginn mit einem Hammerschlag. Bei ihm ist die Russische Revolution kei­ne Revolution, son­dern ein «Putsch». Sehr cle­ver, denn damit befreit er die ech­ten, die demo­kra­ti­schen Revolutionen im 21. Jahrhundert von ihren sowje­ti­schen Mördern. «Kein ande­rer Putsch der jün­ge­ren Geschichte hat der­art weit­rei­chen­de Verwerfungen gezei­tigt wie die­ser. Es war das erste Mal, dass ein Akteur nicht nur einem loka­len, regio­na­len, natio­na­len oder inter­na­tio­na­len Gegner den Krieg erklär­te, son­dern der Welt. Seither hat es kei­nen uni­ver­sel­len Frieden mehr gege­ben.»

Für Schöllgen sind Lenin, Stalin, die Sowjets, spä­ter Hitler, Mao, Osama Bin Laden und wie die Massenmörder alle heis­sen, bis heu­te Grund dafür, dass «der Krieg in der Welt und die Welt im Krieg blieb». Interessanter Gedanke, der zwar den Kapitalismus, das Bürgertum sowie die ari­sto­kra­ti­schen «Schlafwandler» (Christopher Clark) vor 1914 all­zu arg ent­la­stet, aber als Erzählungsstrang trotz­dem enorm gut funk­tio­niert und schlüs­sig wirkt. Die Zerstörung, die der Erste Weltkrieg auch in der Vorstellung vom Menschsein hin­ter­las­sen hat, ist furcht­erre­gend. Es ist, als regie­re seit­dem das bel­gi­sche Monster Leopold der Zweite die gan­ze Welt. Hatte es der Dreissigjährige Krieg noch in die Geschichtsbücher geschafft als Warnung an die Mächtigen, nie mehr den Geist Krieg füh­ren zu las­sen, son­dern die «cui­us regio eius reli­gio», die Macht Ordnung und Frieden zu schaf­fen, dien­te der Erste Weltkrieg als Blaupause für die näch­sten hun­dert Jahre. Erschüttert zei­gen sich Zeitpolitiker ger­ne über die Hollywoodversion des Zweiten Weltkrieges, denn die Trauer über die rasen­de Mordmaschine, die sich Moderne nennt, wäre poli­tisch sehr pro­ble­ma­tisch. Zudem könn­ten die sich seit­dem immer ver­fei­nern­den Mordinstrumente nicht mehr unwi­der­spro­chen in den gros­sen Ernährungs‑, Netz- und Pharmaunternehmen wei­ter aus­brei­ten. Ja. Im Ersten Weltkrieg wur­de der Menschheit und allen Lebewesen der Krieg erklärt. Aber bei Weitem nicht nur durch die Sowjets.

Nach der Lektüre «Krieg» geriet ich für kur­ze Zeit echt ins Fahrwasser des «Men should be drow­ned as pup­pies, except for my wee boy» mei­ner schot­ti­schen Schwiegermutter. Dreihundertfünfundsechzig Seiten mor­den­der jun­ger Männer, von ihren Über- und Ubervätern ideo­lo­gisch gedrillt, brach­ten die poli­ti­sche Philosophin der Demokratie schlecht­hin fast an den Rand der Verzweiflung. Diese Wut hält an, doch sie trans­for­miert sich. Seit Schöllgen plä­die­re ich noch inten­si­ver, kla­rer zugun­sten eines poli­ti­schen Miteinanders, der Demokratie und der öffent­li­chen Abgaben. Gleichzeitig drän­ge ich stark auf Selbst- und Kriegsvorsorge der noch exi­stie­ren­den frei­en Systeme, denn: Wer nicht vor­sorgt, wird ent­sorgt.

Sie sind also gewarnt. Schöllgens Buch ist kei­ne leich­te Kost, es ist aber infor­ma­tiv, detail­ge­treu, auf­re­gend, span­nend und erhält zahl­rei­che neue Forschungen zur Weltgeschichte der letz­ten hun­dert Jahre. Laute Maschinenkraft, dik­ta­to­ri­sche Macht, Säuberungen, Vergewaltigungen, Brandschatzungen domi­nie­ren alle Kapitel. Das Menschenbild bei Schöllgen ist roh, übel, männ­lich-grau­sam und scheint dank ent­setz­li­cher Tatsachen dar­über hin­aus legi­tim und schlüs­sig.

Ganz ehr­lich? Schöllgens Buch hat wenig gute Nachrichten für Weltverbesserinnen, und trotz­dem emp­feh­le ich es allen. Denn nur durch das Verständnis von Krieg las­sen sich ver­pass­te Alternativen, ver­fehl­te Macht und der lächer­li­che Friedenswille, der meist nur die Anpassung mit den Herrschenden bedeu­tet, auf­zei­gen. Auch die Sehnsucht nach Sicherheit führ­te in den letz­ten hun­dert Jahren meist direkt in die eige­ne Zerstörung und Verstümmelung. Verdammt! Es ist ein sehr männ­li­ches Buch und gera­de des­halb Frauen ans Herz zu legen, damit sie sich end­lich um die Befreiung von Frauen und weib­li­cher Macht und nicht stän­dig um neue Anpassungsformen, Diäten oder son­sti­ge Verkaufsmechanismen des eige­nen lächer­li­chen Körpers küm­mern.

Wer die Welt fried­lich den­ken will, muss Demokratien mit gros­ser Macht, mit einer Armee, mit der Gleichberechtigung zwi­schen Mann und Frau, mit Wohlstand, mit öko­lo­gi­scher Bewirtschaftung der Natur und mit einem schon fast gewalt­tä­ti­gen Sinn für Zukunft aus­stat­ten. Dies wur­de mir nie so klar wie bei der Lektüre von Gregor Schöllgens Buch. Es gibt eine Passage, die mich, obwohl ich gera­de über den Abschnitt der Weltgeschichte wirk­lich gut Bescheid weiss, erschüt­tert hat. Ausgerechnet ein Goebbels-Zitat!

Am 5. April 1940, «ein hal­bes Jahr nach der Niederwerfung Polens und weni­ge Tage vor dem Beginn des Feldzugs gegen Dänemark und Norwegen – vor einem Kreis gela­de­ner Vertreter der deut­schen Presse» mein­te der Propagandaminister des Schreckens sehr höh­nisch: «Man hat uns durch die Gefahrenzone hin­durch­ge­las­sen (…), 1933 hät­te ein fran­zö­si­scher Ministerpräsident sagen müs­sen (und wäre ich fran­zö­si­scher Ministerpräsident gewe­sen, ich hät­te es gesagt): Der Mann ist Reichskanzler gewor­den, der das Buch ‹Mein Kampf› geschrie­ben hat, in dem das und das steht. Der Mann kann nicht in unse­rer Nachbarschaft gedul­det wer­den. Entweder er ver­schwin­det, oder wir mar­schie­ren. Das wäre durch­aus logisch gewe­sen. Man hat dar­auf ver­zich­tet. Man hat uns gelas­sen, man hat uns durch die Risikozone unge­hin­dert durch­ge­hen las­sen, und wir konn­ten alle gefähr­li­chen Klippen umschif­fen, und als wir fer­tig waren, gut gerü­stet, bes­ser als sie, fin­gen sie mit dem Krieg an.» (S. 85)

Der klump­füs­si­ge Hetzer hat­te in jedem Punkt recht. Die Unterwerfung Polens, die sich am 1. September 2019 zum acht­zig­sten Mal jähr­te und bis heu­te ihre Spuren zeigt, wur­de von Grossbritannien und Frankreich, die ver­trag­lich zum Beistand der Polen ver­pflich­tet waren, zwar mit einer Kriegserklärung, aber ohne Waffeneinsatz quit­tiert. Polen wur­de von den Deutschen unter Hitler innert Kürze und unge­hin­dert ver­nich­tet: Eine Million (!) Polen wur­den vom ersten Tag an umge­sie­delt, die Angehörigen der pol­ni­schen Intelligenz hin­ge­rich­tet und die gesam­te jüdi­sche Bevölkerung in einem Grossghetto zwecks spä­te­rer Vernichtung ein­ge­pfercht. Es ging ver­dammt schnell. Das Beispiel Polen ist so erschüt­ternd, dass die Berichte zum Jahrestag im September 2019 ein völ­lig ver­fehl­tes Abklatschen der eige­nen Vergangenheit waren. Statt die blut­dür­sti­gen Hetzer der Gegenwart mit Namen zu nen­nen, die auch heu­te ger­ne wie­der «Dann ist Polen offen» schrei­en, wur­den Kränze nie­der­ge­legt und mit Sirenengeheul «ent­schul­digt». Wieder ein­mal mehr die Chance ver­passt, aus Geschichte kein Jubiläum, son­dern ein Mahnmal zu machen.

Schöllgens Lektüre ver­langt defi­ni­tiv nach einer ganz ande­ren media­len, histo­ri­schen und poli­ti­schen Auseinandersetzung mit Krieg. Die post­ko­lo­nia­le Erzählung beschränkt sich ja dar­auf, jeden Konflikt als Schande und Schuld der ehe­ma­li­gen Kolonien zu deu­ten, und ent­schul­digt wei­ter alles gegen­wär­ti­ge Versagen der haus­ge­mach­ten bru­ta­len Folterer, Staatsmänner, Blutunternehmer bspw. im afri­ka­ni­schen Kontinent. Im Kapitel «Mord» erzählt Schöllgen eine ganz ande­re Geschichte. Dabei spie­len die zen­tral­afri­ka­ni­schen Akteure die Hauptrolle, allen vor­an Ruanda, das auch 2019 nicht wirk­lich zur Ruhe zu kom­men scheint. Schöllgen zeigt auf, dass sich ganz Afrika in den letz­ten Jahrzehnten fast unun­ter­bro­chen im blu­ti­gen afri­ka­ni­schen Weltkrieg befin­det. Die Tatsache, dass oft nicht Soldaten mit Feuerwaffen, son­dern Zivilisten mit Macheten mor­den, soll­te nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass hier fast jeden Tag mal Dreissigjähriger, mal Erster und dann Zweiter Weltkrieg wie­der und wie­der insze­niert wer­den. Bei Schöllgen ist des­halb die Migration aus dem Blutkontinent Afrika die Fortsetzung des Krieges mit ande­ren Mitteln. Die Verschiebung gros­ser Teile der Weltbevölkerung aus dem schwar­zen Kontinent, aber auch aus ande­ren domi­nant mus­li­mi­schen Gegenden wie Afghanistan, Irak, Syrien bedeu­tet für alle Beteiligten, für die Flüchtenden wie auch die Menschen der Ankunftsländer, im Wesentlichen Krieg. Doch solan­ge es pro­fi­ta­bler ist, Menschen zu ermor­den, statt ihnen die Demokratie zu ermög­li­chen, dehnt sich das Morden und damit die Kriege wei­ter aus bis hin vor die Haustüren der noch frei­en Gesellschaften. Die UNO-Mission von 2015 im Sudan stell­te fest, dass «die Barbarei bei­spiel­los» ist. Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Verbrennung bei leben­di­gem Leibe sind im afri­ka­ni­schen Kontinent an der Tagesordnung, ein Drittel der Bevölkerung ist vom Hunger bedroht, die Ölproduktion, der eigent­li­che Grund für die dama­li­gen Unabhängigkeitskriege, liegt dar­nie­der. Davon pro­fi­tiert ein wei­te­rer Millionenmensch-Vernichterstaat: die Volksrepublik China. Chinas «Einfluss ohne Einmischung» führt seit 2008 zu weit­rei­chen­den stra­te­gi­schen Öl- und Infrastrukturinvestitionen, die allein den jewei­li­gen Diktatoren und ihren Familien, die in ihrer Freizeit ger­ne in der Bahnhofstrasse Zürich ein­kau­fen, zugu­te­kom­men. Die Lektüre von Gregor Schöllgen ist wirk­lich unge­mein aktu­ell. Die nack­te und kla­re Benennung der Hauptakteure, der Ideologien, der Wissenschaften, die viel stär­ker zur Vernichtung bei­getra­gen haben, als dies die Wissenschaftler bis heu­te zuge­ben mögen, die rea­len Welt der Infrastrukturen, der Maschinen, der Ressourcen – all dies muss man ken­nen, will man die Demokratie ver­tei­di­gen und den Krieg respek­ti­ve den Angreifer, der Krieg immer als die beste Verteidigung preist, besie­gen. Es gibt näm­lich eine «Hierarchie des Grauens», und die gilt es zu erken­nen, will man nicht im post­struk­tu­ra­li­sti­schen Sumpf der Gleichmacherei ver­recken.

Deshalb schlies­se ich die­se Rezension mit einem Bertold-Brecht-Zitat: «Das gros­se Karthago führ­te drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mäch­tig. Nach dem zwei­ten war es noch bewohn­bar. Nach dem drit­ten war es nicht mehr zu fin­den.» Es wäre doch scha­de, wenn in hun­dert Jahren nicht mal mehr der Begriff Demokratie buch­sta­bier­bar wäre. Doch dies bedeu­tet: Nur wer auf die Kriege – in der Gegenwart sind es Wirtschafts- und Code-Kriege – vor­be­rei­tet ist, wird den Frieden zu Hause und die Demokratie welt­weit am besten för­dern kön­nen. Deshalb: Schöllgens Buch lesen und die Weltgeschichte ganz neu gestal­ten.

Gregor Schöllgen. Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte. München 2018.

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