Klemperer revi­si­ted: «Die Sprache der Abkürzungen»

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Von Dr. Regula Stämpfli - Rechtzeitig zur Pandemie 2020 brach­te die Reclam-Reihe «Was bedeu­tet das alles?» hun­dert Seiten von Victor Klemperers «Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus LTI» her­aus. Sechs Euro zwan­zig kostet das schma­le Bändchen, ist 100 Jahre Demokratie wert und gehört in jeden Haushalt.

Victor Klemperer wur­de 1881 im deut­schen Landsberg an der Warthe, dem heu­ti­gen pol­ni­schen Grozów Wielkopolski gebo­ren. Der Intellektuelle ver­starb am 11. Februar 1960 in Dresden, hoch deko­riert. Sohn deutsch­jü­disch gelehr­ter Eltern, kon­ver­tier­te, wie es damals hipp und fol­ge­rich­tig schien, im Alter von 31 Jahren zum Protestantismus. Dies hin­der­te die Nationalsozialisten nicht dar­an – wie wir seit der Ausrottung des euro­päi­schen Judentums mit Grauen erfah­ren muss­ten –, Victor Klemperer als Juden zu ver­fol­gen.

Victor Klemperer steht für Hunderttausende assi­mi­lier­ter Juden und Jüdinnen Europas vor dem Jahre 1933. Aus wohl­ha­ben­dem Haushalt stam­mend, stu­dier­te der Sohn eines Rabbiners Romanistik und Philosophie, mel­de­te sich frei­wil­lig zum Ersten Weltkrieg, der damals noch der «Grosse» hiess, und er über­leb­te die Westfront. Als frei­er Publizist schlug er sich in Berlin durch, bis er 1920 zum Professor an der Technischen Hochschule in Dresden ernannt wur­de. Der Deutschlandfunk schreibt in einer Würdigung zu Klemperer im Jahr 2010: «Natürlich setz­ten die Nazis, als sie 1933 die Macht über­nom­men hat­ten, auch ihn bald vor die Tür, und dass er das Dritte Reich über­leb­te, ver­dank­te er nur sei­ner Ehe mit einer nicht jüdi­schen Musikerin.»

Da haben wir sie wie­der: die­se deutsch-dum­me Beharrungskraft fal­scher Sätze, unaus­lösch­lich, über 70 Jahre nach dem Krieg (der Deutschlandfunk-Bericht stammt aus dem Jahr 2010), die völ­lig fal­sche Story zu erzäh­len.

«Natürlich» war am Vorgang der Aussetzung der Berufsfreiheit von Victor Klemperer nichts. Ebens wenig «über­leb­te» Victor Klemperer, weil er mit einer nicht jüdi­schen Musikerin ver­hei­ra­tet war, son­dern weil das Bombardement Dresdens durch die Alliierten den Zugriff auf das Ehepaar Klemperer durch die Gestapo behin­der­te. Die Nazistadt Dresden wur­de in der Nacht vom 13./14. Februar 1945 in Schutt und Asche gelegt. Victor Klemperer beschreibt das Überleben so: «Am Abend die­ses 13. Februar brach die Katastrophe über Dresden her­ein: Die Bomben fie­len, die Häuser stürz­ten, der Phosphor ström­te, die bren­nen­den Balken krach­ten auf ari­sche und nicht ari­sche Köpfe, und der­sel­be Feuersturm riss Jud und Christ in den Tod; wen aber von den etwa 70 Sternträgern die­se Nacht ver­schon­te, dem bedeu­te­te sie Errettung, denn im all­ge­mei­nen Chaos konn­te er der Gestapo ent­kom­men.»

Ein Zitat, das nur sel­ten im Zusammenhang mit der Bombardierung Dresdens erwähnt wird; scha­de eigent­lich, denn mit weni­gen Sätzen bringt Victor Klemperer sein Schicksal mit der Weltgeschichte zusam­men. Er tut dies lako­nisch, zeigt die Widersprüche sowie den Wink des Schicksals. Dass Dresden ver­brann­te, Klemperer aber nicht, ist für uns, die Nachgeborenen, und für das Wachsamsein bezüg­lich Sprache ein Glücksfall.

In der Feuernacht riss das Ehepaar Klemperer den Judenstern von den Kleidern und ver­such­te sich zur rus­si­schen Front durch­zu­schla­gen. Dies gelang nicht, trotz­dem wur­de die Rückkehr nach Dresden nazifrei mög­lich. Bis 1947 nutz­te Victor Klemperer die Zeit, die Blätter über LTI (Lingua Tertii Imperii = Sprache des Dritten Reichs) zu redi­gie­ren und das Manuskript fer­tig­zu­stel­len. Es wur­de ver­öf­fent­licht, Klemperer und sei­ne Frau Eva blie­ben in Dresden, enga­gier­ten sich trotz anfäng­li­cher Bedenken in der DDR poli­tisch. Bis 1960 blieb Klemperer Hochschullehrer und sei­ne zwei­te Frau – nach dem Tod sei­ner Eva – sorg­te dafür, dass auch Klemperers Tagebücher ver­öf­fent­licht wur­den. Klemperers Werk hät­te ohne Frauen nicht über­lebt. Es war die Freundin Evas, eine namen­los geblie­be­ne Ärztin, wel­che die Schriften Klemperers bis 1945 vor der Gestapo sicher auf­be­wahr­te.

Was macht LTI so sen­sa­tio­nell gut? Wenn jemand wil­lent­lich ver­ber­gen will, was Sache ist, greift er auf Sprache so zurück, dass Hoffnungslosigkeit ent­steht. Umberto Eco, der die­ses Jahr neun­zig gewor­den wäre, mein­te im «Foucault’schen Pendel», dass Geschichte nur an ihren Fälschungen und Lügen memo­riert wer­de. Doch Victor Klemperer redet nicht von Lügen, son­dern sieht in der LTI den per­fek­ten lin­gu­isti­schen Würgeengel:
«Die stärk­ste Wirkung wur­de nicht durch Einzelreden aus­ge­übt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wur­de nicht durch nichts erzielt, was man mit bewuss­tem Denken oder bewuss­tem Fühlen in sich auf­neh­men muss­te. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in mil­lio­nen­fa­chen Wiederholungen auf­zwang und die mecha­nisch und unbe­wusst über­nom­men wur­den.»

Dies gilt es zu ver­ste­hen. Als ich 2007 mein Hannah-Arendt-Werk, lei­der nicht unter die­sem Titel, dafür umso bes­ser mit «Macht des rich­ti­gen Friseurs» benannt, ver­fass­te, liste­te ich über 300 Seiten die Referenzen mate­ri­el­ler, bio­lo­gi­scher und sexu­el­ler Natur auf, die nicht für die Ökonomie, die Naturwissenschaft oder die Fortpflanzung vor­ge­se­hen waren, son­dern alle Lebenszusammenhänge in die bis heu­te ein­zig gül­ti­ge Richtung der «Verdinglichung» drän­gen. Gleichzeitig wies ich dar­auf hin, wie die Zerstörung des Politischen durch des­sen «Privatisierung aller Referenzen» im 21. Jahrhundert zu einer neu­en, digi­ta­len Totalität füh­ren wür­de. Doch ich wur­de nicht ver­stan­den, son­dern wer­de bis heu­te dafür in der engen Schweiz bestraft, dass ich es gewagt habe, die Bigotterie nicht nur der Rechten, son­dern auch der Linken wie­der und wie­der zu ent­lar­ven. Dies, weil ich Victor Klemperer schon früh gele­sen hat­te. Bei Klemperer ist Sprache nie harm­los, sie denkt, dich­tet, formt nicht harm­los, sie ist nicht Ästhetik, son­dern Politik. Sprache, so Victor Klemperer, steu­ert «mein gan­zes see­li­sches Wesen, je selbst­ver­ständ­li­cher, je unbe­wuss­ter ich mich ihr über­las­se».
In your face, Michel Foucault – so ein­fach hät­test du dies nie for­mu­lie­ren wol­len, nicht wahr? «Und wenn nun die gebil­de­te Sprache aus gif­ti­gen Elementen gebil­det oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht wor­den ist? Worte kön­nen sein wie win­zi­ge Arsendosen: Sie wer­den unbe­merkt ver­schluckt, sie schei­nen kei­ne Wirkung zu tun, und nach eini­ger Zeit ist die Giftwirkung doch da.» (Klemperer)

Unsere heu­ti­ge Zeit ist die der Wortgefechte, und dies beru­higt mich inso­fern, als es noch Pluralität gibt. Es gibt indes­sen ein Unbehagen: Wirkliche Sprachfolter im Sinn der LTI wird digi­tal betrie­ben: unsicht­bar, da codiert und algo­rith­mi­siert, auto­ma­tisch, da via Technik selbst­stän­dig repe­tiert. Die Kürzel bei­spiels­wei­se, die aktu­ell auf Frauen gerich­tet sind – TERF, Boomer, Karen, Privilegierte –, sind kei­ne Kategorien im enge­ren Sinne, son­dern Erniedrigungen zum Zweck der Entmenschlichung. Gerade die­se neu­en Sprachbewegungen zemen­tie­ren Ressentiments, die Sexismus und Antisemitismus – so gilt die Shoa, die Auslöschung des euro­päi­schen Judentums, mitt­ler­wei­le der Linken als «white crime» – bedie­nen.
Den Weg zur LTI beschreibt Victor Klemperer als «Freiheit zur Hasspredigt». Er denkt dar­über nach, dass es auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft, der Ästhetik, der Philosophie kei­ne Beschränkungen, son­dern nur noch ästhe­ti­sche Kriterien gibt. Wie falsch dies ist, soll­te allen klar sein. Denn wer Kunst apo­li­tisch rezi­piert, macht sich zum Handlanger einer Ästhetik, die das Grauen wie das Schöne per­fekt bedie­nen kann. «Man rühm­te die­se viel­tö­ni­ge gei­sti­ge Freiheit gern als einen unge­mei­nen und ent­schei­den­den Fortschritt der kai­ser­li­chen Epoche gegen­über» (Victor Klemperer im Kapitel «Freiheit zur Hasspredigt») und rea­li­sier­te nicht, dass die Freiheit kei­ne war, son­dern die Kultur als Feldzug kon­zi­piert. «Du bist nichts, dein Volk ist alles», so Victor Klemperer über LTI. Eine Analyse, die erschreckend gut auf den herr­schen­den Zeitgeist, der sich wei­gert, zwi­schen pri­vat und poli­tisch zu unter­schei­den, passt.
Ertappt müs­sen sich all jene füh­len, die ger­ne «iro­ni­sche Anführungszeichen» set­zen – ach, Victor Klemperer: Mit Ihnen hät­te ich mich so ger­ne gefetzt über all die Stoffreste, die uns aus der von Ihnen grau­sam prä­zi­se beschrie­be­nen Sprache wie Stachel aus unse­rem deutsch­spra­chi­gen Fleisch ragen! Als hät­te Victor Klemperer es geahnt – denn schon er hielt fest: «Wer ‹ein Forscher› in Anführungszeichen setzt, bedient sich LTI.»

Victor Klemperer, Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus LTI. Ausgewählt und her­aus­ge­ge­ben von Heinrich Detering, Reclam, Serie: Was bedeu­tet das alles?

 

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