Von Ueli Zingg – Wie zahlreiche Philosophen, Psychologen, Denkende vor ihm unterscheidet auch der Hirnforscher Gerhard Roth zwischen den Begrifflichkeiten Realität und Wirklichkeit. In seiner Definition ist Realität die Aussenwelt, wie sie uns umgibt. Unbestrittenermassen können wir sie wahrnehmen. Aber wie?
Das Instrument dazu sind unsere Sinne, deren Signale in der vernetzten Komplexität unseres Gehirns zu einem Konstrukt verarbeitet werden. Diese konstruierte Realität ist die Wirklichkeit, wie sie in unser Bewusstsein gelangt. Wir sind folglich nicht in der Lage, die Realität (die eigentliche Aussenwelt) an sich zu erkennen, bewusst ist uns dagegen ein virtuelles Bild von ihr, eine konstruierte Wirklichkeit. Wir leben in einer virtuellen Welt, orientieren uns an einem Konstrukt. Allerdings offenbar so nahe an der realen Aussenwelt, dass unsere Spezies seit einiger erdgeschichtlicher Zeit lebt und gelegentliche Fehlinterpretationen bis anhin überlebt.
Was in uns orientiert sich? In der Auffassung von Roth ist es das Ich, welches, und hier scheiden sich die Geister, ebenfalls ein Konstrukt unseres Gehirns ist; das Ich, ein notwendiges Kompetenzzentrum, in dem die unterschiedlichen Informationen kompatibel formatiert werden, damit sie uns zu Bewusstsein gelangen. Andere Positionen geben das Ich nicht als Instrument preis, verstehen es vielmehr als unverbrüchlich eigene oberste Instanz, in deren Diensten auch die Möglichkeiten unserer Hirnleistung stehen.
Immanuel Kants These, dass wir nur die Erscheinungsformen erkennen, nicht aber das Ding an sich, ist, wenn auch mit anderem Erkenntnisstand, nahezu deckungsgleich mit Roths Theorie: Die Phänomene, so wie wir sie wahrnehmen, sind Bilder von einer uns im Kern nicht zugänglichen Realität. Beides sind Anschauungen, die als Aussenweltskeptizismus bezeichnet werden. Platon kann sich in seiner Höhle, umgeben von Schattenbildern, ein wohlwollendes Lächeln nicht verkneifen.
Roth sagt, sogar wenn wir hypothetisch anlässlich einer Operation unser offengelegtes Gehirn betrachten könnten, wir würden konsequenterweise nur sein Konstrukt wahrnehmen, das zwar wirkliche, aber nicht reale Gehirn. Kant sagt, die Crux mit der Vernunft ist, dass wir sie nur mit der Vernunft selbst beschreiben können. Erkenntnis ist nicht objektiv.
Publiziert: ensuite Nr. 140, August 2014