Von Gastautor Michael Burkard, Stadtrat Bern
Zuerst kritisiert Milo Rau den Zoll-Deal als Beweis für die Käuflichkeit der Schweiz. Peter Keller entgegnet, dass Widersprüchlichkeit unvermeidlich und darum auszuhalten ist. Beide, Rau und Keller, sind sich aber einig, dass die «Seele der Schweiz» in deren Hinterland zu finden ist. Gegen diese rückwärtsgewandte Verklärung der Schweizer Identität erhebt Michael Burkard Einspruch – natürlich ganz ernst gemeint.
Was für ein Duell!
Zuerst der Eröffnungsschlag von Milo Rau, welcher in seinem Essay – die Redaktion schob zur Sicherheit eine Satirewarnung nach – die Schweiz als Sexarbeiterin porträtiert. Seine Momentaufnahme beleuchtet das Verhalten der offiziellen Schweiz im Zollstreit mit den USA und insbesondere den Canossagang der Schweizer Wirtschaftsvertreter – Frauen waren keine dabei, aber das gehört wohl nicht hierher – ins Oval Office von US-Präsident Donald Trump. Milo Rau nimmt kein Blatt vor den Mund: eine neokoloniale Bananenrepublik sei sie, die Schweiz, und der Zolldeal des Bundesrates erinnere an die Knebelverträge, die England und Frankreich seinerzeit ihren Kolonien aufgezwungen haben.
Gegen Kollaboration und Folklore
Obwohl es Milo Rau in seinem Furor sowohl mit dem Sprachgebrauch («Bananenrepublik») als auch mit historischen Vergleichen nicht immer so genau nimmt – und für Letzteres denn auch prompt eine Schelte von Historiker Bernhard C. Schär einfängt – imponiert sein Essay als luzide dahingeschriebenes Kondensat linker Schweiz-Kritik seit 1968. Während sich die Schweiz vor 1945 vorwiegend faschistischen Diktaturen angedient habe, habe die Schweizer Wirtschaftselite nach dem Zweiten Weltkrieg ihre ideologische Schlagseite nach rechts gegen einen elitären Narzissmus und die Vergötterung des Kapitals eingetauscht. Erst dieses ideologiebefreite Jagdschema habe der modernen Schweiz die Äufnung eines diversifizierten, aber höchst anrüchigen Portfolios ermöglicht. Um den Anschein der Anrüchigkeit zu erwecken, scheint Milo Rau jedoch allein der Umstand zu genügen, dass die von der Wirtschaftselite hofierten Oligarchen aus Gegenden kommen, in denen das Anrüchige sozusagen naturgegeben zuhause ist: zuvorderst natürlich die Erdölstaaten, dann Syrien, Türkei, Russland, Nahost, Afrika (trotz «Africa is not a Country» von Dipo Faloyin) und, zu guter Letzt, Amerika. Dieses übelriechende Geschäftsmodell exemplifiziert Milo Rau anhand von Steuerhinterziehern und Wirtschaftskriminellen, die er zusammen mit antisemitischen Islamisten und panslawischen Imperialisten am Skilift Schlange stehen und sich gegenseitig zum Après-Ski einladen sieht.
Interessant ist Milo Raus’ Schlussfolgerung in Bezug auf die Schweizer Staatsideologie: imaginäre Selbstbehauptung – man denke an den Réduit-Mythos – gekoppelt an reale Unterwerfung. Verkörpert sieht Milo Rau diese von ihm als Borderline-Ideologie identifizierte Staatsdoktrin in der Schweizerischen Volkspartei, der SVP. Die SVP habe, so Milo Rau, die Kollaboration mit dem globalen Finanzkapital bei gleichzeitigem folkloristischem Protest dagegen zu ihrem politischen Inhalt gemacht.
Gegenschlag der Zyniker
So what? In diese zwei Worte kann man Replik von Peter Keller, stellvertretender Generalsekretär der SVP, auf den Essay von Milo Rau zusammenfassen. Was ist dabei anrüchig, fragt Peter Keller zurück, wenn Helvetia tatsächlich eine Sexarbeiterin ist, die sich vom globalen Finanzkapital kaufen lässt? Mit
empiristischer Logik hinterfragt Peter Keller die wundersame Weltarithmetik von Milo Rau: Gäbe es tatsächlich «ohne Nutten keine Käuflichkeit, ohne Schweiz kein alpines Luxusbordell für erholungsbedürftige Autokraten»? Aber nach einer eher verstiegenen Kritik an der angeblich verschwitzten Metaphernwelt von Milo Rau setzt Peter Keller zum eigentlichen Konter an: Das Schweiz-Bashing von Milo Rau sei im Kern nämlich gar nichts Neues. «Alles schon gehabt. Alles schon geschrieben. Alles schon gelesen» schreibt Peter Keller und zitiert Friedrich Dürrenmatt, welcher in seinem dritten Schweizerpsalm schon 1971 die Schweiz als «Bettschwester» von Waffenhändlern und Kriegsgewinnlern beschrieben hatte (Dürrenmatt bezog sich darin auf den Biafra ‑Krieg von 1967–1970).
Bemerkenswert am Duell Rau/Keller sind zwei Dinge: erstens die eiskalte Abgeklärtheit, mit welcher Keller den Eröffnungshieb von Rau kontert. Anders als in früheren Jahren, als politisch links verortete und überwiegend junge Leute das Bürgertum mit neuartigen Protest- und Provokationsmethoden (Globuskrawall etc.) aus der Reserve locken und zu unverhältnismässigen Reaktionen verleiten konnte, scheint heutzutage eine von Links vorgebrachte Kritik an einem imprägnierten rechten Bewusstsein nahezu wirkungslos abzuperlen.
Anders als der Zürcher Polizeivorsteher Hans Frick, welcher sich 1980 vor laufender Kamera von «Herrn und Frau Müller» provozieren liess, scheinen Peter Keller und die Seinen gegenüber der Kritik eines Milo Rau weitestgehend immun zu sein. Offenbar haben die Strategen aus dem rechten Lager mittlerweile genügend Zeit gehabt, um die ursprünglich linken Theoreme der politischen Agitation und Provokation zu studieren und für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Indem sich Peter Keller jedoch keineswegs scheut, auf der Seite des Kapitals und damit der Macht zu stehen, ja diese Nähe und diese Verbindung im Gegenteil geradezu sucht und als Wesenskern des Wirtschaftsmodells Schweiz propagiert, zeigt er ein von Peter Sloterdijk als zynisch (im Gegensatz zu seinem kynischen Gegenpart, welcher von unten gegen die Macht anlacht) identifiziertes Bewusstsein: «Gutsituiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewusstsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen, da seine Falschheit bereits reflexiv gefedert ist“ (Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1, 1983, S. 2).
Grosse Koalition der Sehnsuchtsbauern
Bemerkenswerter als die Unterschiede scheint mir jedoch das Gemeinsame zu sein, das die beiden Duellanten Milo Rau und Peter Keller «im Innersten» verbindet. Denn entgegen meiner intuitiven Erwartung suchen (und finden?) beide die Seele der Schweiz auf dem Land, in der Provinz. Bei Milo Rau tönt das so: Sobald man aus den offenbar unschweizerischen Städten hinaus aufs Land fährt, also
«dahin, wo es nach Wiesen und Gülle riecht, wo farbige Werkhallen und leerstehende Kapellen die Landschaft zieren, zum Beispiel Richtung St. Gallen, der findet jenen verbohrten, genügsamen Menschentypus, der schon Gottfried Keller so sympathisch gewesen war». Peter Keller findet die Seele der Schweiz ebenfalls nicht etwa in der Stadt – Gott bewahre! – sondern in Hergiswil. Denn Hergiswil verkörpere beides, Seldwyla und Bonzennest. «Oben am Berg tragen die Bauern die Gülle aus, und unten am See residieren die Oligarchen mit und ohne Schweizer Pass.» Wie ist es einzuordnen, dass eine schon fast mythische Sehnsucht nach einer Provinz, wo es nach Wiese und Gülle riecht und wo ein verbohrter, genügsamer Menschentypus zu Hause sein soll, zwei Schweizer Intellektuelle vereint, die ansonsten kaum politische oder philosophische Inhalte teilen? Wie ist es möglich, dass zwei prominente Intellektuelle, die komplett gegensätzliche Positionen auf dem politischen Spektrum vertreten, die gleiche Sehnsucht nach einer agrarisch geprägten Schweiz vereint, möglichst weit weg vom Sündenpfuhl der Städte? Woher kommt dieser im Kern regressive Reflex, sobald es um die Seele der Schweiz, um den angeblichen «Glutkern» der Schweizer Seele, geht? Worauf fusst diese Grosse Koalition der atavistischen Einfältigkeit? Eine mögliche Erklärung findet sich in Benedikt Loderers Beobachtung, wonach die Schweiz ein Staat von Sehnsuchtsbauern ist. Ist es diese «Verbauerung des
Bewusstseins», wie Benedikt Loderer es nennt, welche Milo Rau und Peter Keller die Seele der Schweiz im Gülledunst von Mörschwil und Hergiswil suchen lässt?
Chlorhühner statt Seelensuche
Während Milo Rau seine romantisch anmutende Suche nach der Seele der Schweiz immerhin in der dampfenden Scholle des St. Gallischen Hinterlands enden lässt, gibt Peter Keller dem Ganzen noch einen turn ins Retro-Religiöse. So gelangt er im Seitenwagen von Dürrenmatts Schweizerpsalm-Persiflage leichthin von der mythischen Seelen- zur mystischen Gottsuche.
Haltet ein! Möchte man den beiden Suchenden Milo Rau und Peter Keller spätestens an dieser Stelle zurufen. Wer befreit die Beiden von ihren erdverhafteten Sehnsuchtsvisionen? Vielleicht Alfred Gantner, der nach der Ablehnung der Juso-Initiative für eine nationale Erbschaftssteuer ganz bodenständig eine progressive Vermögenssteuer ins Spiel bringt? Oder kann ihnen gar nur noch von Christoph Blocher himself geholfen werden, der bereits 1996 eine Antwort auf den aktuellen Zollstreit parat hatte? Denn hätte die Schweiz Christoph Blochers Rat beherzigt und schon damals Verhandlungen über einen Beitritt zur nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA aufgenommen, hätte sie sich die heutigen Kalamitäten mit den USA ersparen können. Und wir alle hätten genügend Zeit gehabt, um uns an die bedrohlichen Chlorhühnchen zu gewöhnen.





