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Jetzt oder

Von Peter J. Betts – «Jetzt oder nie?», mag man sich bei­spiels­wei­se an der Nordsee auf einer Wattwanderung ohne Führer fra­gen, wenn die Flut uner­war­tet schnell her­ein­zu­bre­chen droht oder der Nebel plötz­lich auf­kommt und einen völ­lig ori­en­tie­rungs­los ver­meint­lich gera­de­aus gehen lässt, bis einen die Flut sogar zu erwar­te­ter Zeit eben­falls weg­spült. Der Entschluss: «Jetzt oder nie!» kann also unter sol­chen Umständen lebens­ent­schei­dend sein, falls man kein Dreizehnstundenschwimmer ist. «Jetzt oder nie»: oft eine durch­aus glaub­wür­di­ge Formel. «Jetzt oder nie!» ist das Motto, unter dem kurz nach der über Monate dau­ern­den Osterverkaufsschlacht im Warenhaus «Globus» das aus allen Rohren abge­feu­er­te Ausverkaufssperrfeuer ein­ge­setzt hat. Unter ande­rem könn­te hier, wohl ohne dass es den WerbestrategInnen bewusst ist, auch die Frage der Glaubwürdigkeit ins Scheinwerferlicht gerückt wer­den. Die jetzt als «Häppchen» (ein ande­res Schlüsselwort in der Werbeliturgie) ver­schleu­der­ten, noch vor ein paar Wochen als ein­zig­ar­ti­ge Köstlichkeiten zu ver­ständ­lich statt­li­chen Preisen ange­prie­se­nen Genussgüter wur­den damals offen­bar nur von IdiotInnen gekauft, weil die Ware jetzt, und nur jetzt – die Gewinnmarge wird zwar noch immer beacht­lich sein – gekauft wer­den soll, und zwar zu einem ange­mes­se­nen? annehm­ba­ren? Ramschpreis. Der Kauf der Ware vor Ostern war zur fal­schen Zeit erfolgt: der Kauf vor Ostern fiel in den zeit­li­chen Tabubereich: Nie! Betrug? Kaum. Der Verkaufspreis vor Ostern war wohl aus mora­li­schen Gründen von der Werbebranche künst­lich nach oben geschwin­delt wor­den: Dummheit gehört bestraft. Fast alle beja­hen die­se Motivation, weil fast alle gleich funk­tio­nie­ren: ein gemein­sa­mes Kulturgut. Man weiss: man wird – selbst­ver­ständ­lich! – ver­su­chen, mich übers Ohr zu hau­en. Macht nichts: ich ver­su­che, sie vor­her übers Ohr zu hau­en oder mich an ande­ren schad­los hal­ten. Und alle haben wir unse­ren Spass dar­an, bei­de gewin­nen. Win-Win-Parole: Ahoi! Glaubwürdigkeit? Glaubwürdigkeit! Da alle pro­fi­tie­ren. Irgendwie. Oder: Werden nach dem Ausverkauf die jetzt ange­prie­se­nen Artikel alle nicht mehr im Sortiment vor­kom­men? Dann wäre das Motto als ehr­li­che Aussage ernst zu neh­men. Und falls sie doch wie­der erhält­lich wären, natür­lich zu einem höhe­ren Preis, fie­le ein Ankauf wie­der in den zeit­li­chen Tabubereich: Nie! Das Spiel beginnt von vor­ne. Gewinn ist gleich­zu­setz­ten mit ulti­ma­ti­ver Sinngebung. Am 6. Oktober 1913 wur­de Meret Oppenheim gebo­ren. Jetzt oder nie! Man kann nicht nur immer wie­der die Kornhausbrücke sanie­ren oder eine der Hauptgassen in Berns Innenstadt. Es gibt noch viel geschick­te­re Wege, dem Sprayerspruch der Achtzigerjahre, «Bausau baut Saubau», zu begeg­nen. Der Meret-Oppenheim-Brunnen auf dem Waisenhausplatz ist zu einem Wahrzeichen Berns gewor­den. Er för­dert den Touristenstrom und damit die Essenz und den Sinn unse­res Daseins: Gewinn! Der hun­dert­ste Geburtstag der Künstlerin, deren Brunnen 1983 auf dem Waisenhausplatz ein­ge­weiht wor­den war, gibt glaub­wür­di­gen Anlass zum: «Jetzt oder nie!», der Oppenheim-Brunnen gehört drin­gend saniert! Eine Schande, was die Natur mit die­ser Kunst gemacht hat! Das Kunstwerk steht zwi­schen drei städ­ti­schen Bauikonen: Im Norden ein Hauptstützpunkt der Kantonspolizei, schon bei ihrem Bau (1782/83) als Knabenwaisenhaus gedacht; im Osten die fast hun­dert Jahre spä­ter erbau­te Neue Mädchenschule; im Westen das ehe­ma­li­ge Progymnasium, der berühm­te Stettler-Bau (nach dem Projekt des Wettbewerbgewinners Koch-Abegg zwar durch Stettler ein paar Jahre nach der Mädchenschule erbaut), seit kur­zem für dreis­sig Jahre umfunk­tio­niert als Arbeits- und Produktionstätte für Kulturschaffende – im Westen viel Neues. Nun, in den Endsiebziger Jahren ging man davon aus, dass Kulturschaffende, also Künstlerinnen und Künstler der ver­schie­den­sten Sparten, einen mit­for­men­den Beitrag für das Bewusstsein der Gesamtgesellschaft lei­sten könn­ten, ohne die KünstlerInnen zu instru­men­ta­li­sie­ren, aber um ihnen die Chance zu geben, dass die Produkte ihrer Kreativität Teil des Alltags aller wür­den. Vielleicht haben die diver­sen künst­le­ri­schen Eingriffe um den Bahnhofplatz dazu bei­getra­gen, dass man Fussgängerinnen nicht mehr nur unter den Boden pfercht, um dem unbe­se­hen ver­göt­ter­ten Autoverkehr unge­bremst den Vortritt zu las­sen (Ueli Bergers ver­sin­ken­de Milchkannen im ehe­ma­li­gen «Milchgässli», Claude Kuhns Betonrettungsring auf der Passarelle über dem leb­haft-hek­ti­schen Verkehrsstrom rund um die Uhr, die guss­ei­ser­nen Stockschwämme an den Deckenträgern bei den Tramhaltestellen, der heik­le Balanceakt des Wappentieres über dem Chaos und so wei­ter). Meret Oppenheim such­te für ihren Beitrag einen ihrer Ansicht nach wir­kungs­vol­le­ren und noch bedürf­ti­ge­ren Ort. Der Pausenplatz der Neuen Mädchenschule war von Autos umbran­det. Die Schülerinnen und Schüler des ehe­ma­li­gen Progymnasiums muss­ten auf gut Glück ver­su­chen, die Unterrichtsräume zu errei­chen und wie­der zum häus­li­chen Mittagstisch zu fin­den. In der Mittagszeit war der Autoverkehr auf bei­den Seiten der Schulen beson­ders mör­de­risch. Eine lebens­feind­li­che Situation. Matthias Wehrlin, damals im Stadtplanungsamt, woll­te aus dem Pausenbereich der Neuen Mädchenschule ein Barockgärtchen machen. Ein Spiel von Künstlichkeit und Natur: ursprüng­lich soll­te Garten den Raum um die eige­ne Hütte vor der gna­den­lo­sen Machtübernahme durch den Urwald schüt­zen. Natur als Gegnerin der Kultur. (Heute, wenn Sie durch unse­re Gattung vom Aussterben bedroh­te Pflanzen oder Tiere noch erle­ben wol­len, fin­den Sie sie – viel­leicht – in zoo­lo­gi­schen oder bota­ni­schen Gärten; offen­bar sind inzwi­schen die Karten eben anders ver­teilt wor­den …) Wehrlin woll­te Natürlichkeit vol­ler Künstlichkeit als wirk­sa­me Waffe gegen die gefähr­li­che Machtübernahme durch Kulturerzeugnisse ein­set­zen. Meret Oppenheims Idee leuch­te­te ihm sofort als bes­se­re Lösung eigent­lich der­sel­ben Aussageabsicht ein. Die sieb­zig­jäh­ri­ge Künstlerin woll­te mit «einem Werkzeug uns­rer Zeit» und sich mög­lichst selbst über­las­se­ner Natur in Kombination mit Zeit ein Lebenszeichen in einer lebens­feind­li­chen Umgebung set­zen. Eine schlan­ke Betonsäule mit­ten auf dem Waisenhausplatz, zwei kän­nel­ar­ti­ge Spiralen von fast oben bis fast unten, die eine als Wasserträgerin, die die ande­re benetzt; über dem Kännelkonstrukt nack­ter, befen­ster­ter Beton, unbe­netzt – nachts soll­te kreis­för­mig und lang­sam ein klei­nes Licht rings­um wan­dern, gewis­ser­mas­sen als Stadtwächter über dem sich selbst über­las­se­nen Geschehen. Nun, es gab ein zähes Ringen. Die Ästhetische Kommission geriet in Harnisch, sah durch die­ses phan­ta­sie­lo­se Produkt der moder­nen Kunst die heh­re Grabensitution des Waisenhausplatzes und auch die drei Bauikonen bedroht. Formal war Meret Oppenheims Projekt nicht ganz neu (es zir­ku­lier­te damals eine Foto eines stark über­wach­se­nen Stelenbrunnens aus Südfrankreich, glau­be ich), aber funk­tio­nal und in der beab­sich­tig­ten Wirkung war es ein Volltreffer, durch­aus ori­gi­när. Nach der Einweihung des Brunnens gab es hun­der­te von Protestbriefen. Jetzt ist der Meret-Oppenheim-Brunnen zu einem tou­ri­sten­freund­li­chen Wahrzeichen der Stadt Bern gewor­den. Die Künstlerin wäre im kom­men­den Oktober hun­dert Jahre alt. Der Brunnen ist kei­nes­wegs mehr eine schlan­ke Stele: die Natur hat die Macht über­nom­men. Könnte der sich abla­gern­de Tuffstein die Betonkonstruktion gefähr­den? Eine geziel­te Schlankheitskur? Bewuchs ist gut, aber doch nicht Moose, Algen, zufäl­lig daher­ge­flo­ge­ne Samen: blü­hen­de Farben müs­sen her, die Stadtgärtnerei ist ja ein­falls­reich? Ein Lebenszeichen? Sterben, Verfall gehö­ren doch nicht zum Leben! Jetzt oder nie: der Brunnen muss zum hun­dert­sten Geburtstag saniert wer­den! Jetzt oder nie! Im Sinne des von der Flut oder dem Nebel bedroh­ten Wattgängers? Im Sinne des Warenhauses «Globus»?

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2013