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Jenseits des Röstigrabens: Die Welt des Indischen Ozeans in der Musik

Heike Gerling - Zu Gast im Village du Monde am Paléo in Nyon: Vom Punk mit frisch gestyl­tem Haarkamm bis zu ele­gant geklei­de­ten älte­ren Semestern – die bun­te Mischung der Festivalbesucher gab einen anschau­li­chen Eindruck von der Vielfältigkeit des­sen, was am Festival zu hören und zu sehen war: Mehr als 200 Konzerte und Auftritte mit fran­zö­si­schem Chanson, Rock, Electro, Hip-Hop und World Music stan­den auf dem Programm.

Paléo, das gröss­te Open-Air-Festival der Schweiz, eine Grossveranstaltung mit 230’000 Besuchern, war auch die­ses Jahr aus­ver­kauft. Trotz die­ses Maßstabs ging man als Festivalbesucher nicht in einem Massenbetrieb unter: Die Atmosphäre war ent­spannt, fröh­lich und gelas­sen; selbst am Eingang zum Festival-Areal, wo immer­hin bis zu 35’000 Gäste pro Abend hin­durch­ge­schleust wer­den muss­ten. Man wur­de von freund­li­chen und bestens orga­ni­sier­ten Gastgebern emp­fan­gen – die mei­sten davon frei­wil­li­ge Helfer: Insgesamt 4’670 von ihnen arbei­te­ten die­ses Jahr am Paléo mit. Ohne sie wäre das Festival, das auf der Basis eines nicht gewinn­ori­en­tier­ten kul­tu­rel­len Vereins ohne öffent­li­che Subventionen orga­ni­siert wird, undenk­bar.

Über die Konzerte auf den zwei gros­sen Bühnen Grande Scène und Les Arches ist in den Wochen rund um das Festival in den Medien zwar berich­tet wor­den, in der Deutschschweizer Berichterstattung aller­dings kamen die fran­ko­pho­nen Künstler, die am Paléo auf­tra­ten, kaum vor. Das stützt einer­seits die Gerüchte um die Existenz des berüch­tig­ten Röstigrabens – und hat ande­rer­seits sicher auch damit zu tun, dass der Platz und das Geld für eine dif­fe­ren­zier­te Kulturberichterstattung in den Medien all­ge­mein zusam­men­ge­schrumpft sind. Während stän­dig das Schlagwort der «Globalisierung» bemüht wird, ist gleich­zei­tig der Raum für eine dif­fe­ren­zier­te Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Fremden und nicht ganz Naheliegenden knap­per gewor­den – auch für den kul­tu­rel­len Austausch inner­halb des eige­nen Landes.

Was dadurch an Öffentlichkeit ver­lo­ren geht – und was für gei­sti­ge, kul­tu­rel­le und musi­ka­li­sche Horizonte es sonst noch gäbe -, kann man erah­nen, wenn man sich die Programmteile des Paléo, deren Musiker aus fran­ko­pho­nen Gebieten kom­men oder im Village du Monde auf dem Programm stan­den, auf der Webseite des Paléo anhört oder anschaut – eini­ge Konzerte wur­den mit­ge­schnit­ten und sind als Video oder Audiodatei dort zu fin­den.

Vor dem oben erwähn­ten Hintergrund über­rascht es nicht, dass das Village du Monde mit sei­nem Programm in den Berichten deutsch­spra­chi­ger Printmedien nicht exi­stier­te: Ein klei­nes, aber fei­nes Festival im Festival, das es seit 2003 gibt – eine Art Mikrokosmos des Paléo, des­sen aus­er­le­se­nes und sorg­fäl­tig gestal­te­tes Programm dem gros­sen Rahmen qua­li­ta­tiv in nichts nach­stand, nur dass die hier prä­sen­tier­te Musik in Europa bis­her weni­ger bekannt und mit der Bezeichnung «world» nicht sehr genau beschrie­ben ist, wie man noch lesen wird.

Die Paléo-Welt, die sich in die­sem Jahr auf 84 Hektaren hüge­li­ger Wiesen aus­dehn­te, ließ sich in ihrer Weitläufigkeit nicht auf ein­mal über­blicken. Die musi­ka­li­sche Entdeckungsreise begann mit einem aus­gie­bi­gen Spaziergang, bei dem neben dem Blick aufs Ganze immer wie­der Details auf­fie­len, die von einer humor­vol­len Empathie der Gastgeber für die Besucher und ihre Bedürfnisse zeug­ten: Zwei blaue Wände im Bereich des Haupteingangs zum Beispiel, die mit Wasserhähnen und ‑ven­ti­len aus­ge­stat­tet und mit der Wortkreation «Pal’eau» viel­sa­gend bezeich­net waren, boten den frisch Angekommenen eine Möglichkeit, für die Expedition in glü­hen­der Hitze fri­sches Wasser zu zap­fen, sich von einem fei­nen Sprühnebel fri­schen, küh­len Wassers bereg­nen zu las­sen – oder sich gleich mit einem Bad im Brunnen zu erfri­schen.

Das Festivalgelände erin­ner­te an einen rie­si­gen Zirkus, des­sen Bausteine von einem ver­spiel­ten Riesen fröh­lich und gross­zü­gig in der Landschaft ver­streut wor­den waren. Das hohe, extra­va­gan­te Forums-Zelt mit sei­ner schat­ti­gen Lounge, die Open-air-Bühnen Les Arches und Grande Scène, vor denen das Wiesengelände wie eine natür­li­che Tribüne anstieg; die Aussichtsplattformen Le Balcon und La Terrasse, die Zelte der drei klei­ne­ren Hauptbühnen Club Tent, Le Détour und Dôme stan­den wie gros­se Skulpturen in einem Meer klei­ner Zelte mit Bars, Essens‑, Informations- und kunst­hand­werk­li­chen Verkaufsständen. In der pro­vi­so­ri­schen Paléo-Stadt, einer Mischung von logi­sti­scher Perfektion, krea­ti­ver Improvisation, High und Low Tech, gab es Stadtteile wie das «Quartier Latin», das «Quartier de l’Orient» oder das «Quartier des Alpes», deren Namen eine gewis­se Orientierung über ihr viel­fäl­ti­ges kuli­na­ri­sches Angebot gaben; das Quartier du Midi zwi­schen Grande Scène und Club Tent, das Quartier de La Terrasse. Und ganz oben am Hang, ober­halb der Picnic-Landschaft mit den schö­nen, rosti­gen Metall-Lichtskulpturen von Monic la Mouche – oder nach einem Spaziergang über die «Passage des Tournesols», vor­bei an einem gros­sen Sonnenblumenfeld und «Birdland», einem Gerüst aus rohen Holzstämmen, in dem sich die regio­na­len Hochschulen mit infor­ma­ti­ven Projekten ein­ge­ni­stet hat­ten -, erreich­te man schliess­lich durch eines der bei­den bun­ten «Stadttore» das Village du Monde.

Dieses welt­of­fe­ne Dorf, das sich jedes Jahr einer ande­ren Weltregion und ihren musi­ka­li­schen und kul­tu­rel­len Aspekten wid­met, nahm in die­sem Jahr Kurs auf die Inseln und Archipele des Indischen Ozeans und küsten­na­he Länder Ostafrikas. Der kul­tu­rel­le Austausch, der in die­ser Weltgegend über Jahrhunderte statt­ge­fun­den hat, ist Grundlage eines aus­ser­or­dent­lich rei­chen und viel­fäl­ti­gen musi­ka­li­schen Erbes, zu dem sich die dor­ti­gen Musiker heu­te auf sehr unter­schied­li­che Weise in Beziehung set­zen. Die vie­len inter­na­tio­na­len Einflüsse, die durch die moder­nen Medien heu­te auch in ent­le­ge­nen Gegenden prä­sent sind, machen die­se Auseinandersetzung noch­mals kom­ple­xer. Auf der Bühne des Dôme waren eine Woche lang Musikerinnen und Musiker aus Südafrika, Tansania, Simbabwe, Madagaskar, Äthiopien, Mayotte und la Réunion, Kenya, Burundi, Mauritius und den Komoren zu Gast.

Am Dienstag und Mittwoch zeig­ten Shangaan Electro aus Südafrika ihre ver­blüf­fen­de Mischung aus Konzert, DJ-Set, Tanzperformance, Akrobatik und slap­stick­ar­ti­ger Pantomime. Nozinja, der Kopf der Truppe, der für die wild beschleu­nig­te Übersetzung bekann­ter Shangaan-Rhythmen und ‑Melodien in Keyboard-und digi­ta­le Marimba-Sounds ver­ant­wort­lich ist, stand im Hintergrund am DJ-Pult, wäh­rend je zwei erstaun­li­che Tänzer und Tänzerinnen, die gleich­zei­tig auch noch Sängerinnen waren, in abwech­seln­den rasan­ten Kurz-Auftritten ver­such­ten, mit den ver­zerr­ten, sich wie in einer Endlosschlaufe wie­der­ho­len­den Klängen mit­zu­hal­ten.

Der Mchiriku, den Jagwa Music auf die Bühne brach­ten, ist auf den Strassen der Armenviertel von Dar-es-Salaam, der ehe­ma­li­gen Hauptstadt von Tansania ent­stan­den: Vier Perkussionisten, beglei­tet von melo­di­schen Endlosschlaufen eines alten Casio-Synthesizers und dem inten­si­ven Gesang ihres cha­ris­ma­ti­schen Leadsängers Jackson Kazimoto, ent­wickel­ten einen Groove von mit­reis­sen­der Energie.

Dann ent­fach­ten Mokoomba aus Simbabwe ihr musi­ka­li­sches Feuerwerk: In ihrer «Afro-Fusion», wie sie ihren Musikstil getauft haben, ver­schmel­zen sie ver­schie­den­ste Einflüsse. Sie schöp­fen musi­ka­li­sche Inspiration aus benach­bar­ten Kulturen ihrer Region – Zambia, Angola und Botswana –, aber auch, dank der moder­nen Medien, aus der gan­zen Welt. Abundance Mutori, Bassist der Band, betont in einem Interview (Le Temps vom 23. 7.), dass er es daher nicht für nütz­lich hält, wenn ihre Musik immer in die Schublade «Afrika» ein­ge­ord­net wird. – Was er dann wohl von dem Begriff «World Music» hält?

Am Donnerstag liess sich Régis Gizavo aus Madagascar, der heu­te in Paris lebt, von einem Pianisten und einem Schlagzeug beglei­ten, die sein Handharmonikaspiel mit west­li­chen Klangfarben und west­li­cher Rhythmik unter­leg­ten. Der Ethio-Jazz von Mulatu Astatke lebt vom inten­si­ven krea­ti­ven Austausch mit ver­schie­den­sten inter­na­tio­na­len Musikern, denen er viel krea­ti­ven Freiraum lässt. Skip&Die, in Kooperation einer Südafrikanerin mit einem hol­län­di­schen Produzenten ent­stan­den, lies­sen den Abend mit einer ori­gi­nel­len urba­nen Musik elek­tro­nisch aus­klin­gen, bei der sie vom eng­li­schen Dubstep über Reggae und Cumbia bis zu tra­di­tio­nel­len afri­ka­ni­schen Musiken alle mög­li­chen Quellen anzapf­ten.

Am Freitag setz­te Bo Houss das musi­ka­li­sche Erbe sei­ner Heimat Mayotte in Beziehung zu einem HipHop, mit dem er sei­ne kri­ti­schen Gedanken zur Situation von Mayotte an die Öffentlichkeit bringt. Christine Salem, beglei­tet von zwei her­vor­ra­gen­den Perkussionisten, sang mit ihrer aus­drucks­vol­len, tie­fen Stimme den Maloya von La Réunion, der als Reaktion der ein­hei­mi­schen Bevölkerung auf die kolo­nia­le Invasion der Franzosen ent­stan­den war, in zeit­lo­ser Intensität. Lindigo zele­brier­te anschlies­send sei­ne fun­ki­ge Variante des Maloya mit von Afrobeat und Samba ein­ge­färb­ten Klängen von anstecken­der Fröhlichkeit.

Am Samstag konn­te der Kontrast zwi­schen den ersten bei­den Konzerten grös­ser fast nicht sein: Les Tambours du Burundi, aus einem von zahl­rei­chen poli­ti­schen Erschütterungen gepräg­ten Land kom­mend, kon­zen­trie­ren sich dar­auf, ihre Tradition zu bewah­ren und leben­dig zu erhal­ten: mit einer tra­di­tio­nel­len Orchestrierung rie­si­ger höl­zer­ner Trommeln, ritu­el­len Tänzen und ein­dring­li­chen Gesängen rie­fen sie – damit wie­der ganz zeit­los – zu Frieden und Verständigung auf.

Nathalie Natiembe aus la Réunion nimmt sich die Freiheit, den Maloya mit fran­zö­si­schem Chanson, Punkrock, Funk und Reggae zu kreu­zen, und im Austausch mit den bril­lan­ten, viel­sei­ti­gen Musikern ihrer Band immer wie­der Neues zu erfin­den. Ihre aus­drucks­star­ke, tie­fe Stimme ver­band mit drauf­gän­ge­ri­scher Kühnheit alle sti­li­sti­schen Widersprüche.

Just a Band, vier krea­ti­ve Köpfe aus Kenia, bewe­gen sich mit ihrem elek­tro­ni­schen, von Synthesizern und groo­vi­gen Beats in einer pop­pi­gen, beschwing­ten Disco-House-Klangwelt mit leich­ten nost­al­gi­schen Anklängen an die Achtzigerjahre, und luden anschlies­send noch als Djs zum Tanz in die letz­te Nacht des Festivals.

Am Sonntag begann mit dem Konzert von Menwar aus Mauritius gleich­zei­tig auch ein hef­ti­ges Gewitter, dem Menwar mit ver­gnüg­tem Widerstandsgeist sei­ne von E‑Gitarre und tra­di­tio­nel­ler Perkussion beglei­te­ten, wie­gen­den Sega-Gesänge ent­ge­gen­setz­te. Die tra­di­tio­nel­len Sufi-Gesänge des Frauenchors Deba aus Mayotte, beglei­tet von spar­sa­mer Perkussion und arti­fi­zi­el­len Bewegungen und mini­ma­len Tanzfiguren, ent­fal­te­ten ihren spi­ri­tu­el­len, medi­ta­ti­ven Charakter beglei­tet vom Geräusch des über das Zeltdach flu­ten­den Regens, bis schliess­lich Mounawar mit sei­nem fun­ki­gen Afro-Beat das Publikum zu Tanz im Regen ein­lud.

Die Konzerte im Dôme wur­den ergänzt durch das viel­fäl­ti­ge Programm der klei­nen Scène du Piton: Hier spiel­ten Bands aus dem Programm des Dôme kur­ze aku­sti­sche live-Sets; es gab einen Vortrag über die Aromen Madagascars, sati­ri­sche und slam-poe­ti­sche Beiträge, eine von Videoprojektionen illu­strier­te musi­ka­li­sche Reise durch Madagascar, eine prak­ti­sche Einführung in die ver­schie­de­nen Tänze Äthiopiens – und spä­te DJ-Sets am Ende des Abends.
Kulinarische Genüsse aus der Welt des Indischen Ozeans, das die Farb- und Formenwelt der Region andeu­ten­de Dekor des Village du Monde, kunst­hand­wer­li­che Stände und klei­ne NGOs gaben einen wei­te­ren Eindruck der Region des Indischen Ozeans. Die Hilfsprojekte der NGOs brin­gen einen poli­ti­schen Aspekt ein: Die Stiftung «Nouvelle Planète» setzt sich in Madagaskar für den Zugang der Bevölkerung zu Wasser, Erziehung und medi­zi­ni­scher Versorgung ein; der Verein «Zazakely» und die klei­ne Organisation «Majinza / ASEM» küm­mern sich um sozi­al ver­nach­läs­sig­te Kinder in Madagaskar und Mozambik, und ver­su­chen, ihnen Bildung und eine beruf­li­che Ausbildung zu ermög­li­chen; das Projekt «Citizen of Our World» orga­ni­siert die Finanzierung klein­ster Hilfsprojekte mit­tels eines inno­va­ti­ven inter­ak­ti­ven Systems im Internet.

Dass im Village du Monde nicht nur Musik, Essen und Gegenstände kon­su­miert wer­den kön­nen, son­dern durch die Präsenz der NGOs auch eine wei­te­re Auseinandersetzung mit den Herkunftsländern der Gastkünstler ange­regt wird, lässt viel Respekt gegen­über den Künstlern spü­ren, von denen eini­ge in ihren Konzerten auch sel­ber noch­mals auf die schwie­ri­gen Situationen in ihren Herkunftsländern hin­wie­sen – so etwa Bo Houss oder Régis Gizavo.
Auch wenn am Paléo nicht Politik betrie­ben wird – die Kultur des Respekts, die am Paléo gepflegt wird, hat eine weit­rei­chen­de poli­ti­sche Dimension, und was das kon­kret bedeu­ten kann, kann am am Paléo aus­gie­big stu­diert wer­den.

Auch die Kultur der Freiräume für die Besucher am Paléo ist von die­sem Gedanken geprägt: So gibt es Bereiche, wo man sich unre­gle­men­tiert und ohne Konsumzwang aus­ru­hen und aus­tau­schen kann; so sind die Preise am Paléo auch für Menschen mit wenig Geld bezahl­bar; und die humo­resk-sub­ver­si­ven Interventionen von Strassenkünstlern und Abgesandten aus dem Kleintheaterzelt La Ruche unter­wan­dern das all­ge­mei­ne Festivalgeschehen, stel­len die Normalität mit über­ra­schen­den, poe­ti­schen und humor­vol­len Interventionen in Frage, und schaf­fen so Freiraum zum Denken. Was man auch als ein Qualitätsmerkmal guter Musik anse­hen kann. Am Paléo 2013 gab es viel davon zu hören.

Foto: zVg.
ensuite, September 2013