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Identitti: Ein Schleudergang der Gegenwart

Von Dr. Regula Stämpfli - Die intel­li­gent-ero­ti­sche Liebe von Saraswati und Nivedita führt uns Lesende in die gros­sen Fragen der Gegenwart: Wer sind wir und wenn ja, wie vie­le dunk­le Frauen? Mithu Sanyal gehört zu den pro­fi­lier­te­sten Sachbuchautorinnen unse­rer Zeit. Mit «Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens» hat sie ein Standardwerk zur Geschichte, zu den Konzepten und den Diskursen sexu­el­ler Gewalt vor­ge­legt. Es ist ein Skandal, dass die­ses unglaub­lich gut geschrie­be­ne, histo­risch kla­re und punk­to Geschlechterkonstruktionen erhel­len­de Werk nicht mit allen Preisen der deutsch­spra­chi­gen Welt über­schüt­tet wird. Mithu Sanyal dekon­stru­iert nicht nur die Geschichte der Vergewaltigung, son­dern sie zeigt auch auf, wie Vergewaltigung als Folter und als Diskurs in Zukunft ver­hin­dert wer­den könn­te. Das gros­se Werk liegt neu auf: Sanyal rezi­piert dar­in die Entwicklung von #MeToo, sexu­el­len Diskursen, Identitäten und Shitstorms sowie neue Solidaritätsoptionen.

Nun hat die klu­ge, enga­gier­te und muti­ge Mithu Sanyal ihren ersten Roman vor­ge­legt. Sie bedient sich wie Chimamanda Ngozi Adichie dem Mittel des Blogs, um Gegenwartgeschichte authen­ti­scher rüber­zu­brin­gen. Chimamanda Ngozi Adichie hat mit «Dear Non-American Black» in «Americanah» eine neue Art Schreibe in die Welt gesetzt. Sanyal nimmt die­se Kultform auf und erzählt die vie­len über­lap­pen­den Geschichten, Lebensläufe, Kulturen eben­so viel­fäl­tig mit Blogs, Tweets, Buchzitationen etc.

Der Einstieg Sanyals ist ful­mi­nant: Unter «Fake Blues» beginnt der «Identitti»-Blog zur «Mixed-Race Wonder-Woman» mit dem nack­ten Teufel, erregt und in der Figura einer Frau. Sanyal schafft es mit weni­gen Sätzen, vul­va­powe­rig zu eja­ku­lie­ren. Dies ist nicht nur sehr lustig, wahn­sin­nig sprach­be­gabt, son­dern auch unglaub­lich inhalts­stark. Wer schon mal beim Deutschlandfunk war, lacht sich über Sanyals Beschreibung einer «miss­glück­ten Rakete, die nach Kerzenwachs und Kunstleder wie in der Mischung von Finanzamt und Geheimdienst riecht» kaputt. Das Buch schreit nach Verfilmung, am lieb­sten mit Sanyal in der Hauptrolle und Florence Kasumba als Priti. Andererseits: Wie filmt frau so genia­le Szenen wie in der Beschreibung des weib­li­chen Klogangs nicht um des Pinkelns oder der Privatsphäre wil­len, son­dern «um in den Spiegel zu schau­en und zu kon­trol­lie­ren, ob sie noch da war»?

Die Dialoge sind umwer­fend. Wer kommt denn schon auf die Idee, eine Journalistin fra­gen zu las­sen: «Nivendita, bevor du uns alle Fragen beant­wor­ten wirst, erklär doch erst ein­mal die Bezeichnung PoC, ohne die Worte ‹People› und ‹of› und ‹Color› zu ver­wen­den.» Kicher, genau so doof sind sie: die Journalisierenden. Die Fragen stel­len wie: «Kannst du atmen, ohne Luft zu holen?» Genial, nicht wahr?

Mithu Sanyals Roman ist köst­lich undeutsch bril­lant. Keine fin­det so gut den Ton, der auch mich prägt, obwohl ich doch ein gan­zes Stück älter bin als die Autorin, aber min­de­stens eben­so inter­na­tio­nal. Keine Deutsche oder Schweizerin käme auf die Idee, auf die Frage «Wo kommst du her?» mit «aus dem Internet» zu ant­wor­ten. Ich lach­te schal­lend laut. Ja klar: Wir alle kom­men aus dem Internet. Die Podcastin, laStaempfli sowie­so, die Hashtags, die Denkerinnen – kei­ne kommt aus, bewah­re, München oder gar Bern! Kann sie gar nicht, denn täte sie dies, wäre sie unsicht­bar.

Weisse und Nicht-Weisse dür­fen in den USA erst seit 1967 hei­ra­ten, in Südafrika ist dies sogar erst seit 1985 mög­lich. Da waren eini­ge von uns schon längst gebo­ren und erst noch in unter­schied­li­chen Beige-Farben. «Weiss» als Begriff für Hautfarben gab es bis zum sieb­zehn­ten Jahrhundert gar nicht – aus­ser als Farbbezeichnung für Schafe. Doch der trans­at­lan­ti­sche Sklavenhandel ver­än­der­te dies sofort. Da man nicht ein­fach Menschen ohne Grund fol­tern, ent­füh­ren und neu ansie­deln konn­te, erfan­den die Europäer die Überlegenheit der weis­sen Rasse. White Supremacy heisst das Ding. Genau das, was alle männ­li­chen Boomer heu­lend als weis­sen Rassismus bekla­gen. Dabei hilft White Supremacy zu ver­ste­hen, dass das Weisssein etwas ist, das auch Weisse mas­siv unter­drückt. All dies erfährt frau (und man) und tau­send Dinge mehr in die­sem sehr span­nen­den Roman. Echt ein­fach nur: der Hammer!
Der Roman fliesst, macht feucht, in den Tränen und in der Vulva, und ich habe mich in Mithu Sanyal erneut ver­liebt wie schon beim ersten Mal, als sie in Zürich vor einer Handvoll Engagierten im Karl der Grosse mit mir über ihr Sachbuch «Vergewaltigung» dis­ku­tier­te. Was für ein Mensch; ein Geschenk, dass es sie gibt. Der erste Post lau­tet: «Jedes Mal, wenn du einen ras­si­sti­schen Gedanken hast, tötet Gott ein Kätzchen. Aber kei­ne Sorge: Es ist kei­ne deut­sche Katze!» Auch psy­cho­ana­ly­tisch ist viel drin: «Wo hast du gelernt, dass Leute beson­ders nett zu dir sind, wenn du sie anschreist?» Fabelhaft, nicht wahr? Jetzt ist mir klar, wes­halb ich den Swiss Press Award für die beste Kolumnistin noch nicht erhal­ten habe: Ich schreie ein­fach zu vie­le und zu mäch­ti­ge Leute an. Dann Kali: Sie wei­gert sich, unsicht­bar zu sein. Kali erklärt die Liebe zum revo­lu­tio­nä­ren Akt, der Empathie defi­niert und Gruppen schafft. Sanyal weiss vom Menschen als radi­kal sozia­les Wesen: Besonders Frauen tun alles, um dazu­zu­ge­hö­ren. Das Programm der cha­ris­ma­ti­schen Saraswati klingt wie das Mindful-Movement bei «Decolonize Your Soul». Wäre Mithu Sanyal geschäfts­tüch­tig, lies­se sie sich das Patent für einen sol­chen Coaching-Kurs ein­tra­gen, bevor dies Philippe Mampfler (Pseudonym) tut, der im deutsch­spra­chi­gen Raum dafür bekannt ist, Kolleginnen die besten Ideen zu klau­en und als eige­ne aus­zu­ge­ben.

«Das Problem mit Antirassismus ist, dass er eine sol­che Überforderung ist.» «Erfolgreicher Antirassismus beinhal­tet, dass alle immer wach und dif­fe­ren­ziert sind und nie­mals auf Stereotype zurück­grei­fen.» Wie wahr, wie rich­tig, päng, tou­ché, fabel­haft! Sanyals Roman ist die rasen­de Story klüg­ster Sätze, Spannung und Facts: «Radikale Gesten rich­ten sich immer gegen einen selbst.»

Meine Lieblingsstelle ist die mit Althusser. Also dem, der sei­ne Frau erwürgt hat, Linken aber bestens dazu dient, zitiert zu wer­den mit dem ein­zi­gen Zweck, Verwirrung zu schaf­fen. «Sobald etwas ein­deu­tig oder offen­sicht­lich erscheint, wis­sen wir, dass wir uns im Bereich der Ideologie befin­den»: haha und aha. Die Hauptfigur kon­tert ver­zwei­felt: «Du hast aber ein­deu­tig etwas getan. Ich habe viel­leicht nicht die rich­ti­gen Worte dafür, aber du hast etwas getan!» «Dann fin­de die rich­ti­gen Worte dafür», befiehlt die Hauptangeklagte. Grossartig. Die Worte bie­gen sich, bis die Bedeutungen bre­chen, aber es gilt wei­ter­hin: «Die eige­nen Verletzungen zu beschrei­ben, ist ein wich­ti­ger Schritt zur Selbstermächtigung.» Ja klar. Doch «Identitti» zeigt auch, dass, wenn sich alle ver­letzt füh­len, nie­mand mehr der Täter sein kann, womit auch Hannah Arendt vor­kommt, die im Roman als Teil-Rassistin beweint wird.
Mithu Sanyals Roman MUSS den Buchpreis des Jahres 2021 krie­gen, denn kei­ne kann so klar, span­nend, packend, lustig, mit­reis­send davon erzäh­len, dass die bedenk­li­chen Missverständnisse, wenn nur eine ein­zi­ge Geschichte über ande­re erzählt wird, schlimm­ste poli­ti­sche Folgen haben. Die Autorin erkennt, wie gefähr­lich die Fähigkeit ist, die Geschichte einer ande­ren Person so zu erzäh­len, dass die Person sel­ber zum Verstummen gebracht wird. Anerzählte Identitäten gehö­ren zugun­sten selbst erzähl­ter Weltverortungen abge­schafft. Mithu Sanyal hat mit ihrem Roman die Poesie in die deutsch­spra­chi­gen Dunkelländer zurück­ge­bracht und sagt gleich­zei­tig allen «sin­gle sto­ries» den Kampf an.

Mithu Sanyal, Identitti,
Carl Hanser Verlag 2021.

Frau Regula Stämpfli ist mit der Autorin Mithu Sanyal im Literaturhaus Basel:

Mithu M. Sanyal, DIGITAL:, Regula Stämpfli
«Mithu M. Sanyal, Identitti»

Donnerstag, 25. Feb. 21, 19:00 Uhr

ONLINE

Die Veranstaltung fin­det digi­tal statt. Über den Link unten kön­nen Sie sich ein Ticket für das Onlineformat kau­fen. Die Zugangsdaten für die Onlinelesung erhal­ten sie am Tag der Veranstaltung per Mail zuge­schickt.

Moderation: Regula Stämpfli

Mithu Sanyal schreibt in ihrem Debütroman rasant, wit­zig und iro­nisch über die gros­sen Fragen von Identitätspolitik. Im Zentrum ste­hen Nivedita und ihre Professorin Saraswati, die einen Lehrstuhl für Postcolonial Studies inne­hat. Doch plötz­lich stellt sich her­aus, dass Saraswati, die Übergöttin in allen Debatten über Identität, die sich selbst als Person of Colour beschreibt, weiss ist. Während das Netz gegen Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung for­dern, stellt Nivedita ihr intim­ste Fragen dar­über, was Identität und Zugehörigkeit wirk­lich bedeu­ten. «Ein so klu­ger, lusti­ger, ambi­tio­nier­ter, schnel­ler, fri­scher, wil­der, von Liebe erfüll­ter, hoch­po­li­ti­scher Roman – mit ihm beginnt mei­ne Liste der mich prä­gen­den und ver­än­dern­den Romane der 20er-Jahre.» (Florian Kessler, Lektor)