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«Ich bin ich, was hal­ten Sie davon, Präsident?»

Von Belinda Meier – Ein poli­ti­sches Märchen, das von der Liebe zwei­er für­ein­an­der bestimm­ter Menschen han­delt. Seine Sprache schwelgt in der Poesie, und die Inszenierung lebt von viel Körpereinsatz und Humor. Mit gran­di­os inter­pre­tier­ten musi­ka­li­schen Intermezzi bedient sie alle Kanäle. Das ist Georg Büchners «Leonce und Lena» unter der Regie von Barbara Frey.

Die Langeweile kehrt in allen Schriften Büchners wie­der, so auch in «Leonce und Lena». Unter ande­rem als Folge poli­ti­scher Desillusionierung muss­te Büchner die Langeweile selbst am eige­nen Leibe erfah­ren. Um den rich­ti­gen Ausdruck des 19. Jahrhunderts zu ver­wen­den spricht man kor­rek­ter­wei­se von «ennui». Damit wird ein beklem­men­der Zustand bezeich­net, der durch die Ohnmacht her­vor­ge­ru­fen wird, nichts bewir­ken zu kön­nen, und schliess­lich in der Resignation mün­det. Im post­re­vo­lu­tio­nä­ren Europa litt vor allem die Oberschicht dar­un­ter.

Flucht vor dem Ich? In «Leonce und Lena» par­odiert Büchner das poli­ti­sche System des Spätabsolutismus, treibt dabei die Auswüchse des «ennuis» auf die Spitze, die sich in König Peters skur­ri­ler Regentschaft, sei­nen Nonsense-Reden eben­so wie in sei­nen inhalt­lee­ren Befehlen aus­drücken. Michael Neuenschwander glänzt in der Rolle die­ses ver­wirr­ten, von der rea­len Welt abge­drif­te­ten Königs, der unver­ständ­li­che Ansprachen hält, sich einen Knoten ins Schnupftuch bin­det, um sich an sein Volk zu erin­nern, und der vor dem ver­sam­mel­ten Staatsrat nichts zu sagen weiss aus­ser: «Ich bin ich – was hal­ten Sie davon, Präsident?». Das Phänomen der Langeweile ist aber nicht an eine histo­ri­sche Zeit gebun­den. Auch die moder­ne Gesellschaft kennt sie. Die Industrialisierung und Technologisierung hat uns den Fortschritt gebracht und uns mehr Zeit ein­ge­räumt, die soge­nann­te Freizeit. In die­ser Freizeit trei­ben wir Sport, tref­fen uns mit Freunden, gehen tan­zen, lesen Bücher, hören Musik, schau­en Fernsehen, gehen Shoppen und vie­les mehr. Tun wir das, um vor der Langeweile zu flüch­ten? Weil wir uns sonst mit uns selbst und unse­rer Sterblichkeit beschäf­ti­gen müss­ten? Wahrscheinlich. Das Bühnenbild von Bettina Meyer deu­tet jeden­falls dar­auf hin: Die Langeweile, die durch Beschäftigungstherapie unter­drückt wer­den will, wird mit zahl­rei­chen Schaufensterfronten von Boutiquen und Läden ange­deu­tet.

Langeweile und Ohnmacht «Leonce und Lena» erzählt die Geschichte der bei­den Königsfamilien Pipo und Pipa, die sich durch eine Heirat zusam­men­schlies­sen wol­len. Prinz Leonce von Pipo und Prinzessin Lena von Pipa sind jedoch alles ande­re als von­ein­an­der ange­tan. Leonce ist ein Müssiggänger durch und durch. Er ver­treibt sich den Tag mit Absurditäten wie dem Zählen von Staubkörnern, dem auf Steine Spucken, oder Erörterungen wie war­um sich der Mensch die Nase mit den Händen putzt und nicht mit den Füssen, wie es die Fliegen tun. Um der Hochzeit und den Aufgaben als zukünf­ti­ger Herrscher zu ent­kom­men, flieht Leonce zusam­men mit dem arbeits­scheu­en Herumtreiber Valerio kur­zer­hand nach Italien. Prinzessin Lenas Welt sieht ähn­lich leer aus. Sie fühlt sich ein­ge­sperrt und ein­sam hin­ter den könig­li­chen Mauern und flieht zusam­men mit ihrer Gouvernante eben­falls nach Italien. Dort tref­fen sie durch Zufall auf­ein­an­der, ver­lie­ben sich, und schaf­fen es letzt-
lich durch eine raf­fi­nier­te Täuschung, doch noch von König Peter getraut zu wer­den.

Flucht in die Komik Vor dem Hintergrund die­ser Handlung sind es die Dialoge, die bril­lan­ten poe­ti­schen Wortschöpfungen und phi­lo­so­phi­schen Gedankenkonstrukte, wel­che die the­ma­ti­sche Reichweite begriff­lich machen. Die Figuren, alle­samt bizar­re, ver­schro­be­ne Gestalten, wis­sen weder ihre Pflichten wahr­zu­neh­men, noch sind sie ihrer selbst Herr. Sie sind Ohnmächtige, und damit Gefangene ihrer Körper, ihres Standes und ihrer Zeit. Die Komik dient als Fluchtweg. Die Sprache, in der das lyri­sche Wort der Handlung voll­kom­men über­le­gen ist, ruft sie eben­so her­vor wie der Kontrast zwi­schen der Sprache und dem, der sie spricht. Letztlich ist es natür­lich auch die zele­brier­te Langeweile selbst, die Anlass zum Schmunzeln gibt.

Schauspiel und Gesang zum Besten gege­ben Regisseurin Barbara Frey ver­steht es bestens, die­se Komik aus­zu­lo­ten, dabei aber nie die Grenze zur rei­nen Lächerlichkeit zu über­schrei­ten. Die Ernsthaftigkeit, mit der die Figuren ihrem Schicksal begeg­nen sowohl als auch die Ruhe, die sie trotz ihres töl­pel­haf­ten Wesens bewah­ren, machen dies mög­lich. So gelingt es Jirka Zett in der Rolle des Leonce sehr gut, die Facetten sei­ner Figur, die vom Müssiggänger über den Träumer, dem Verliebten bis hin zum Gelangweilten und Resignierten rei­chen, über­zeu­gend dar­zu­stel­len. Valerio, die­ser Lebenskünstler, der sich eben­falls sehr ger­ne reden hört, und dazu noch, wie Leonce, kei­ne Anstalten macht, einer anstän­di­gen Arbeit nach­zu­ge­hen, wird von Markus Scheumann ver­kör­pert. Die Gratwanderung zwi­schen ein­fäl­ti­gem und genia­lem eben­so wie zwi­schen myste­riö­sem und när­ri­schem Wesen mei­stert er vor­züg­lich. Wenn er dann noch mit dem legen­dä­ren Song «I Put a Spell on You» von Screamin’ Jay Hawkins die Gouvernante bezirzt, stiehlt er Leonce voll­ends die Show, und macht die Bühne zur sei­ni­gen. «I Put a Spell on You», 1956 her­aus­ge­bracht, ist aber nicht irgend­ein Lied. Dieses exzen­tri­sche Liebeslied, wel­ches trotz dem Boykott sei­tens der Radiostationen und eini­ger Plattenläden zum gros­sem Erfolg wur­de, erzählt von einer Liebe, die sowohl aus­weg­los als auch bedin­gungs­los ist, und wird von schril­lem Geschrei, Gebrüll und Grunzen beglei­tet. Ob es nun «I Put a Spell on You» von Hawkins ist, «Good Night» von den Beatles, «Hör ich das Liedchen klin­gen» von Robert Schuhmann oder ein ande­res Lied, die Interpretationen sind bestechend (Musik: Claus Boesser-Ferrari; Barbara Frey) und die Songs sorg­fäl­tig in die Handlung ein­ge­bet­tet.

Barbara Freys Inszenierung über­zeugt durch die schau­spie­le­ri­schen Leistungen eben­so wie durch das moder­ne Bühnenbild und die Interpretationen der musi­ka­li­schen Intermezzi. Die Thematik der Langeweile, die als Folge von Überdruss und Ohnmacht schliess­lich in eine exi­sten­ti­el­le Krise mün­det, hat uni­ver­sa­len Charakter, und wird in Freys Inszenierung behut­sam ange­deu­tet – zeit­wei­se fast zu behut­sam, sodass hin­ter der Komik der Ernst zu ver­schwin­den droht.

Foto: Matthias Horn
ensuite, November 2011