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Hörgenuss und Augenschmaus

«Ich brau­che die­se Stadt nicht», urteil­te zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der bekann­te­sten tsche­chi­schen Literaten sei­ner Generation, Max Brod, über Zürich. Auf sei­ner som­mer­li­chen Stippvisite mit Franz Kafka 1911 galt sein Hauptinteresse dem Baden im Zürichsee; für kul­tu­rel­le Veranstaltungen, etwa ein Konzert in der Tonhalle, hat­te er nur spöt­ti­sche Worte übrig: «Unmusikalische Städte prot­zen immer mit ihren Veranstaltungen für Musik.»

«Ich mag die­se Stadt!», heisst es anders rund 100 Jahre spä­ter bei Jaroslav Rudiš, einem der pro­fi­lier­te­sten tsche­chi­schen Autoren der aktu­el­len mitt­le­ren oder jün­ge­ren Generation. Mit ihren Strassenbahnen erin­ne­re ihn Zürich an die Tramstadt Prag, lässt er das Publikum im voll­be­setz­ten Saal des Literaturhauses am Donnerstagabend wis­sen – nur dass die Bahnen hier­zu­lan­de weni­ger hals­bre­che­risch schnell fah­ren.

Eine neue Generation

Wo Brod dem Badeplausch frön­te, ist Rudiš auf kul­tu­rel­ler Mission zu Gast: Zusammen mit der Schriftstellerin Petra Hulová und der Alternative-Rockband «Priessnitz» ist er ange­reist, um in der Limmatstadt eine «Tschechische Nacht» zu bestrei­ten. Im Rahmen des Projekts «LITERAToUR.CZ» hat der Verband der Literaturhäuser (literaturhaus.net) jun­ge Autoren auf eine Lesereise quer durch Deutschland, Österreich und die Schweiz geschickt; am Ende tref­fen sie sich alle auf der Leipziger Buchmesse. Ziel der Veranstaltungen ist, die tsche­chi­sche Gegenwartsliteratur jen­seits ihrer bekann­te­sten Exponenten wie Václav Havel oder Jiři Gruša im deutsch­spra­chi­gen Raum bekannt zu machen.

In Zürich wer­den indes nicht nur Einblicke ins lite­ra­ri­sche, son­dern auch ins musi­ka­li­sche, ja – im wei­te­ren Sinne – ins fil­mi­sche Schaffen Tschechiens gewährt. Im ersten Teil des Abends aber wird aus­schliess­lich gele­sen und gespro­chen. Petra Hulová trägt einen Auszug aus ihrer Novelle «Umělohmotný tří­po­koj» («Prager Plastik») auf tsche­chisch vor, anschlies­send rezi­tiert die Schauspielerin Katharina von Bock einen län­ge­ren Ausschnitt aus der deut­schen Übersetzung. Von Bocks schnei­di­ge Stimme passt gut zu die­ser inhalt­lich kru­den, sti­li­stisch arti­fi­zi­ell-kunst­vol­len Erzählung, einer Art iro­ni­schen Gesellschaftskommentar aus der Sicht einer Prostituierten. Die Geschichte sei von Elfriede Jelinek inspi­riert, erklärt Hulová dem Moderator Georg Escher (auf tsche­chisch, eine Dolmetscherin über­setzt fürs Publikum), sie habe sie wäh­rend eines Russlandaufenthalts wie im Rausch innert einer Woche nie­der­ge­schrie­ben.

Derweil Hulová sich bemüht, ernst­haft über ihr lite­ra­ri­sches Schaffen und ihr wach­sen­des Interesse an poli­tisch moti­vier­ten Texten Auskunft zu geben, gibt Rudiš zunächst ein­mal den Scherzkeks: Seinen Roman «Die Stille in Prag» stellt er unter dem Gelächter des Publikums mit­tels drei­er zufäl­lig gewähl­ter Sätze aus Anfang, Mitte und Ende des Buchs vor, gibt Anekdoten zum besten und erzählt, mit wel­chen Autorengrössen er mit­un­ter völ­lig zu Unrecht ver­gli­chen wer­de. Doch auch er wird ernst, wenn es um den Generationenwechsel in der tsche­chi­schen Literatur geht, den er mit dem Ableben von Václav Havel und Josef Škvorecký für besie­gelt hält, oder wenn er auf das lan­ge tabui­sier­te Thema «Sudetenland» zu spre­chen kommt, das in sei­ner Graphic Novel «Alois Nebel» eine wich­ti­ge Rolle spielt.

Musikalisch-fil­mi­scher Ausklang

Die Comicfigur Alois Nebel, Fahrdienstleiter auf einem klei­nen Provinzbahnhof, ein Einzelgänger und Outsider, ist in Tschechien bin­nen Kurzem zur Kultfigur avan­ciert. Rudiš’ ganz in schwarz­weiss gehal­te­ner Cartoonroman wur­de inzwi­schen ver­filmt und ist kürz­lich mit zwei «Gläsernen Löwen», dem höch­sten tsche­chi­schen Filmpreis, geehrt wor­den. Der dick­li­che, schnauz­tra­gen­de Antiheld bil­det den Link zum zwei­ten Teil des Abends, denn Jaromír 99 (Jaromír Svejdík), der den Comic illu­striert hat, ist zugleich Sänger der Band «Priessnitz».

Vom Gitarristen der Gruppe beglei­tet, liest Rudiš zunächst noch eine Kurzgeschichte vor, dann ver­ab­schie­det er sich von der Bühne, und Priessnitz über­nimmt. Während die vier Tschechen, die sich als ein­ge­spiel­te Band prä­sen­tie­ren, ihre ent­spann­ten Folkrock-Songs zum besten geben, wer­den auf einer gros­sen Leinwand hin­ter ihnen Ausschnitte und geloop­te Szenen aus dem Alois Nebel-Film pro­ji­ziert. Im Zusammenspiel mit der Musik ent­fal­ten die düste­ren, schau­rig-schö­nen Bilder eine bei­na­he hyp­no­ti­sche Wirkung. Da stört es wenig, dass die deut­sche Übertitelung der tsche­chi­schen Lyrics nicht ganz syn­chron zu Jaromirs ange­neh­mem Gesang ver­läuft.

Selbst wenn die Zürcher so unmu­si­ka­lisch sein soll­ten, wie Brod einst behaup­te­te – ein gutes Konzert wis­sen sie zu schät­zen. Mit viel war­mem Applaus bewe­gen sie die Gruppe, zwei Zugaben zu spie­len. Und beim anschlies­sen­den Apéro ver­ste­hen sie es sogar, die Weingläser schön zum Klingen zu brin­gen.

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