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Hans Sachs in allen Gassen

Von Albert le Vice – Vor unge­fähr einem Jahr habe ich an die­ser Stelle («ensuite», Sept. 2011) mei­ne Geschichte vom «Berner Geburtstag», also die Geschichte einer Idee für die 800-Jahrfeier der Stadt Bern, erzählt. Dieses Vorhaben ist im Sand ver­lau­fen.

Heute will ich dar­über berich­ten, wie ein ver­gleich­ba­rer Anlass in Nürnberg, unter bestimmt nicht ein­fa­che­ren Bedingungen, gut gelun­gen ist. Es geht um das Stadtfest «Hans Sachs in allen Gassen» vom 10./11. Juli 1976, anläss­lich des 400. Todestages von Hans Sachs, dem Dichter, Meistersinger und Schuster, einem der berühm­ten Söhne Nürnbergs.

Hans Sachs, der popu­lä­re Stückeschreiber, der väter­li­che Meistersinger von Richard Wagners Gnaden, und der tüch­ti­ge Handwerksmeister des Nürnberger Bürgertums. Wie fei­ert man eine sol­che Figur heu­te?

Nach der Meinung der Stadtoberen mit einem Volksfest – einem lite­ra­ri­schen.

Literarisches Volksfest! Allein schon der Begriff «lite­ra­ri­sches Volksfest» pro­vo­ziert Widerspruch: Wie um Himmels Willen soll sowas funk­tio­nie­ren? «Literatur», «Volk», «Fest», das schliesst sich doch all­sei­tig aus! Schliesst sich, wie ich mei­ne, nicht aus. Aber es kommt eben dar­auf an, was einem als «lite­ra­risch» vor­schwebt, ob mau Literatur mit «Buch», mit «Denken», mit «Grübeln» und «Schreiben» gleich­setzt, oder viel­leicht mal mit «Spiel». Gleichzeitig ist es in unse­rem Zusammenhang nicht unwe­sent­lich, was man unter «Volksfest» ver­steht; ob man auto­ma­tisch ans Bierzelt denkt, ans Schunkeln und die in Bayern übli­che Oktoberfest-Seligkeit, oder eher an ein fröh­li­ches, gemein­sa­mes Spielen in den Gassen einer schö­nen Stadt.

Also, ich habe nun mei­ner­seits der gän­gi­gen Meinung wider­spro­chen, habe eine Idee ent­wickelt, die in kei­ner Weise den gän­gi­gen Erwartungen der Behörden ent­spro­chen hat mit dem Resultat, dass mich eini­ge Leute als naiv und welt­fremd ange­se­hen haben. Ich habe näm­lich behaup­tet, das Volk sei nicht so, wie es die land­läu­fi­ge Meinung wahr­ha­ben möch­te, dass bei­spiels­wei­se die Bevölkerung von Nürnberg durch­aus mit Dingen zu begei­stern wäre, die gene­rell als eli­tär ver­schrien sind. Doch woher hat­te ich mei­ne Sicherheit? Eigentlich aus den blos­sen Beobachtungen wäh­rend unse­rer lan­gen Theatertournee mit dem «schie­fen Theater». Dort ist mir zum Beispiel auf­ge­fal­len, dass bei Grossanlässen die Langeweile von Festteilnehmern qua­si der ein­zi­ge Inhalt der gan­zen Veranstaltung ist. Das muss man sich vor­stel­len, und dann ver­wun­dert es auch nicht, wenn die Leute sich besau­fen und her­umgröh­len. (Ein Phänomen übri­gens, das in den heu­ti­gen Städten durch­aus wie­der zu beob­ach­ten ist.) Also, der Langeweile begeg­nen und ein gros­ses, öffent­li­ches Spiel begin­nen mit dem, was Literatur buch­stäb­lich aus­macht: Mit Buchstaben. Ich habe des­halb dem Nürnberger Kulturreferat «Das Nürnberger Buchstabenfest» vor­ge­schla­gen. Darunter muss man sich etwa Folgendes vor­stel­len:

«Das Nürnberger Buchstabenfest»
Im Mittelpunkt eines zwei­tä­gi­gen Festes steht der Buchstabe. Diesen Buchstaben betrach­te ich als Maske, die aus einer men­schen­gros­sen Schachtel besteht, in der natür­lich jemand Lebendiger steckt.

Auf der Schachtel ist – auf jede Seite hin sicht­bar – ein gros­ser Buchstabe drauf gemalt. Und wie das bei Buchstaben so ist, müs­sen sie sich zusam­men­tun, wenn sie Bedeutung erlan­gen wol­len. Der Rest ist Spiel und Improvisation.

Soweit das Prinzip «Buchstabenfest», das vom Rat nach lan­ger Diskussion als nicht rea­li­sier­bar abge­lehnt wor­den ist.

Trotzdem, irgend­et­was an mei­ner Geschichte hat die­se Behörde «gwund­rig» gemacht, und so hat sie mir den Auftrag erteilt, ein zwei­tes Konzept zu ent­wickeln. Daraus ist «Hans Sachs in allen Gassen» ent­stan­den, ein viel­fäl­ti­ges Fest mit drei Schwerpunkten: Den Wortspielen von Nürnberg, dem Meistersingen und den Schuhspielen.

Und was hat man sich kon­kret unter einem sol­chen Fest vor­zu­stel­len? Eigentlich nichts ande­res, als ein Spielen mit dem, was Hans Sachs als geehr­te Figur anbie­tet. Vom Grundgedanken her ist «Hans Sachs in allen Gassen» genau das nicht, was Wagner in sei­nen Meistersingern aus Sachs her­aus­holt. Es ist nicht das Zelebrieren eines edlen Volksdichters, es ist kei­ne Volksbelehrung über das Gute und Erstrebenswerte eines Vorbildes, son­dern viel ein­fa­cher der lust­vol­le Umgang mit dem, womit sich Sachs her­um­ge­schla­gen und wahr­schein­lich auch abge­müht hat­te. Nicht der Zeigefinger kommt hier zum Zug, son­dern die Lust am Selbertun, das Erleben einer städ­ti­schen Vielfalt an Ideen.

Nicht das Raisonable (das man schliess­lich zur Genüge kennt) steht hier im Vordergrund, son­dern der Geist, der Witz, der spon­ta­ne Einfall und vor allem das Erleben der Gemeinschaft «Stadt». Ausgesehen hat das etwa so:

Die Reimversteigerung
Der Reim als Zahlungsmittel. Stellen Sie sich Folgendes vor: Vor Ihnen lie­gen, auf einem Tisch prä­sen­tiert, lau­ter mehr oder weni­ger nütz­li­che Dinge: eine Flasche, Pfannentatzen, eine Spielzeugeisenbahn, ein Fähnchen mit Plattenuntersatz. Diese Dinge wer­den jetzt ver­stei­gert – aber nicht gegen Geld, son­dern gegen Reime. Der zu ver­stei­gern­de Gegenstand lie­fert den ersten Reim: Flasche – Tasche – nasche – der Rasche … usw. Die Reime kom­men spon­tan aus dem Publikum. Wenn nun die Leute kei­ne Reime mehr wis­sen, kriegt die letz­te Reimerin die Flasche.

Der Irrgarten
Geschriebenes ist ver­wir­rend und man kann sich dar­in ver­lie­ren, ja sogar manch­mal ver­ir­ren. Genau das kann hier in einem rie­si­gen Irrgarten real erlebt wer­den.

Lotterie mit Herzen
Herz – Liebe – Geschenk – Lotterie – Nürnberger Lebkuchentradition. Der Lebkuchen als Träger einer Liebesbotschaft. Nürnberger Schriftsteller tex­ten Liebesbotschaften auf Lebkuchen, die mit­tels Glücksrad ans Publikum aus­ge­lost wer­den.

Buchstabenwäsche
Wie feuch­te Wäsche hän­gen hier Buchstaben quer über die Gasse. Und mit die­ser Wäsche lässt sich schrei­ben. Jeder Buchstabenfetzen kann ein­zeln und mit­tels Seilen hin- und her­ge­zo­gen wer­den bis sich ein Sinn dar­aus ergibt.

Das Denk-Mal ist ein Denkmal.
Ein Denk-mal-Denkmal, das aus der Aufforderung «denk mal» und 492 Buchstaben besteht, mit denen man in der Form eines drei­di­men­sio­na­len Kreuzworträtsels spie­len kann.

Die Flaschenpost
Das Sich-Mitteilen ist das Thema hier. In der Pegnitz (dem Fluss, der Nürnberg trä­ge durch­quert) schwim­men bunt­be­mal­te Flaschen, die man her­aus­fi­schen und damit irgend­et­was gewin­nen kann. Und wie das so üblich ist bei Lotteriespielen, über­wie­gen die Nieten die Gewinne. Die gehei­me Botschaft in der Flasche hier ist dem­nach «Gewinn» oder «Niete». Und dies wird dem Angler in der Form eines wit­zi­gen Flaschenbriefs mit­ge­teilt.

Striptease (für Männlein und Weiblein)
Das Verborgene in Worte fas­sen. Was Striptease ist, wis­sen alle ganz genau. Aber sel­ber ein Bild ent­klei­den und das in Worte fas­sen – also dar­über reden? Hier wird Reden leicht gemacht, mit­tels eines Pfeilwurfspiels, das ent­blös­sen­den und ver­hül­len­den Charakter hat und sogar die Zunge löst.

Der schön­ste Witz
Nürnberg ver­steckt sei­nen dis­kre­ten Witz hin­ter alten, dicken Mauem! Das ist ille­gal oder zumin­dest unso­zi­al. Wenn schon mal einer was zu lachen hat, sol­len auch ande­re dar­an teil­ha­ben kön­nen. Deshalb die­se öffent­li­che Witzrunde. Nur, wer ist wit­zig? Wer darf in der Runde Platz neh­men? Einfache Antwort: Wer einen Witz zu erzäh­len hat. Und er gehört so lan­ge zur Runde, als er was zu erzäh­len weiss (pro Runde einen Witz). Wer aus­ge­lei­ert ist, muss einem «Vollgetankten» Platz machen. Also rei­ne, unbarm­her­zi­ge Ausbeutung! Ja, aber eine lusti­ge.

Der Wörtermarkt
Wörter als Ware. Wörter als Gebrauchsartikel, den Gesetzen des Marktes unter­wor­fen: Neuheiten, Ladenhüter, Knüller, Sonderangebote. Dieser Markt bie­tet Worte zum Sonntag, Reizworte, Trostworte, Koseworte, blu­mi­ge Worte, Abschiedsworte. Schimpfwörter, Fremdwörter, Stilblüten, Befehle, Bitten, Klagen. Wörter auf dem Markt bedeu­tet Gedankenverkauf. Und mit Gedanken lässt sich eini­ges anstel­len, zum Beispiel an einer Plakatwand, in der sie den Grossen ihre Gedanken in den Mund legen kön­nen, zum Bespiel in einer rie­si­gen Wandzeitung, die jeder­mann zugäng­lich ist.

Insel für Schwätzer und Spieler
Buchstaben tau­gen eigent­lich erst in Gruppen was. Daraus lässt sich viel Lustiges ablei­ten, das man daheim mit Kindern und Freunden spie­len kann. Hier wer­den ganz ein­fach gute Spiele mit der Sprache ver­mit­telt. Man kann sie gleich mit­spie­len und aus­pro­bie­ren.

Das Kreuz(w)örtchen
Der Ort, wo sich alles kreuzt, was Sinn ergibt. Was in der Regel eine ziem­lich ein­sa­me Sache ist, wird hier zum gemein­sa­men Erlebnis. Übrigens, Kreuzworträtsel ist nicht gleich Kreuzworträtsel, oder anders­her­um: Wie sieht zum Beispiel ein Kreuzworträtsel aus, bei dem nur fal­sche Antworten die rich­ti­gen sind.

Schuhspiele
Mit den Schuhen spielt man nicht – mit ihnen trot­tet man durch den Alltag. Wenn nun aber einer trotz­dem zu spie­len beginnt, wird aus dem All- ein Festtag. So ein­fach ist das. Wenn wir also ein Fest wol­len, brau­chen wir bloss mit unsern Schuhen ein Spiel anzu­fan­gen: Schuhe kann man in die Weite schlen­kern, man kann mit ihnen Boggia spie­len oder Kegeln. Man kann Modeschauen mit Schuhen ver­an­stal­ten und Prominentenschuhe ver­stei­gern, mit Holzschuhen Stafetten lau­fen oder gar mit Schwimmflossen Fussball spie­len. Und war­um auch nicht aus­ge­fal­le­ne Latschen zum Ballschuh eines «Latschenballs» erklä­ren.

Schuvenirs
Schuvenirs sind Souvenirs aus Schuhen. Und Souvenirs müs­sen ja sein. Bekanntlich sind Souvenirs unnüt­ze Dinge, die an etwas Denk-Würdiges erin­nern sol­len. Deshalb stellt man sie auch aufs schö­ne Buffet oder hängt sie an die Wand. Souvenirs erin­nern auch. Und weil es in die­sem Fest ans Erinnern an einen offen­bar pfif­fi­gen Hans Sachs geht, könn­te man dies für ein­mal eben mit pfif­fi­gen Souvenirs aus Schuhen bewerk­stel­li­gen. In einem gros­sen Schuvenir-Wettbewerb unter den Schulen Nürnbergs sind über 1300 Schuvenirs ent­stan­den, die die Schüler wäh­rend des Festes ans Publikum ver­kau­fen dür­fen.

Das Meistersingen
Eine klei­ne Singtournee (im Wechsel mit kur­zen Theaterstücken) von über 30 sin­gen­den Gruppen durch das gan­ze Fest: Nürnberg singt! Vom Opernchor bis zum Fleischerchor, von der Konzertgesellschaft, über die Kantorei zur Singschule, zum Spiritualkreis und zum Männerchor der tür­ki­schen Beratungsstelle, alles singt in die­sem Fest.

Foto: zVg.
ensuite, August 2012