Hallo und Hurra!

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ensuite_148_April_2015Von Lukas Vogelsang – Europa, oder wahr­schein­lich die gan­ze Welt, steckt in einer Sinnkrise, und wir wis­sen nicht mehr so recht wohin mit uns. Die gesell­schaft­li­che Mechanik hat Rost ange­setzt und ist brüchig gewor­den, Teile müssen ersetzt wer­den, mit Öl kön­nen wir nicht mehr so ein­fach das Getriebe repa­rie­ren. Doch wo sol­len wir anset­zen? Was macht Sinn? Und vor allem: Was haben wir für die Zukunft?

Immerhin kön­nen wir auf eine erfolg­rei­che Zeit zurückblicken: Wir haben es hin­ge­kriegt, dass die lau­ten VordenkerInnen lei­se gewor­den sind. Und jene, die noch was zu sagen haben, ste­hen vor einer Masse Menschen, wel­che nur noch ver­dutzt auf die­se Worte star­ren und damit nichts mehr anfan­gen kön­nen. Schuld dar­an sind vie­le Faktoren – einer der Wesentlichsten ist sicher, dass wir faul gewor­den sind und Maschinen für uns arbei­ten las­sen. Damit haben wir den Bezug zu den ein­zel­nen Arbeitsschritten und Denkprozessen und damit die Erinnerung an deren emo­tio­na­le und sinn­li­che Effekte ver­lo­ren. Unser Denken redu­ziert sich mehr und mehr auf die «Ich-Erfahrung» und auf die «Ich-Theorie». Wer denkt bei sei­nen Handlungen noch an Staaten? Wer an gesell­schaft­li­che Auswirkungen? Zwar bemühen sich eini­ge Gruppen noch um «Nachhaltigkeit», und damit eine all­ge­mein erträg­li­che Zukunft. Doch was erwar­ten wir? Wir haben unser «Paradies» sel­ber erschaf­fen.

Hat der Mensch das Denken ver­lernt? Das fra­ge ich mich oft, wenn ich in der Nacht bei Nebel oder star­kem Schneefall auf der Autobahn den Rücklichtern von Rasern nach­blicke. Nun, ich hüte mich, die­se Frage zu beant­wor­ten. Aber was mei­nen Sie, lie­be LeserInnen? Haben Sie von sich sel­ber das Gefühl, in den letz­ten 10 Jahren evo­lu­ti­ons­tech­ni­sche Denkfortschritte gemacht zu haben? Und ich mei­ne das ganz unpo­le­misch. Haben Sie an sich sel­ber eine Entwicklung fest­stel­len kön­nen, hat sich was ver­än­dert, und wenn ja, was? Ist Ihr Wissen brei­ter und tie­fer gewor­den? Ist ihre Entscheidungsfähigkeit gewach­sen? Sind wir «bes­se­re Menschen» gewor­den in die­ser Zeit?

Peter Tauber, CDU Generalsekretär und Mitglied des Deutschen Bundestages, bringt mei­ner Meinung nach die Denkkrise und unse­ren Zustand in sei­nen Podcasts auf den Punkt: «Hallo und Hurra!» – Mit die­sen Worten ver­sucht er, sei­ne Politik und die Wähler zu bewe­gen. Das «Hallo» inter­pre­tie­re ich als den Versuch, auf Menschen zuzu­ge­hen, fra­gend und suchend. Das «Hurra!» hat er sinn­ge­mäss von Constantin von Brandenstein-Zeppelin, «Burgherr» von Burg Brandenstein im Bergwinkel, übernommen und der erklärt es so: «Oft ist nicht viel Zeit, wenn Menschen aus­ein­an­der­ge­hen, aber man möch­te doch die besten Wünsche mit auf den Weg geben, Zuversicht zum Ausdruck brin­gen, dass sich die Dinge zum Guten wen­den, und die Freude tei­len, dass man sich begeg­net ist. Das alles steckt in dem schö­nen Wort Hurra. Darum sage ich das zu Ihnen, wenn wir uns ver­ab­schie­den.» Mit ande­ren Worten: Das «Hurra!» ist Ausdruck einer Überforderung. Wir gehen auf­ein­an­der zu und tren­nen uns überfordert. Mich erstaunt dies bei unse­rer freundlos‑übersozialisierten Gesellschaft gar nicht. Überforderungen, Reizüberflutungen sind ein mehr als ernst­zu­neh­men­des Problem. Wir, die dar­in gross gewor­den sind, haben noch eine Begrifflichkeit dafür. Aber was ist mit jenen Menschen, wel­che in unse­re Regionen flüchten, aus Ländern, deren Reizüberflutung und Überforderung durch Bomben und rückständige Patriarchate beherrscht wer­den? Es muss die Hölle sein.

Und die Kultur und die Kunst? Was bie­ten die­se aus­ser «zen­tri­fu­gal dyna­mi­sche» Erklärungen, die einen so ver­schwub­bel­ten Unsinn von sich geben und kei­nen Realitätsbezug mehr her­zu­stel­len ver­mö­gen? Seit Monaten ist es um die kul­tur­po­li­ti­schen Dialoge still gewor­den. Und die Inspiration scheint sich bei den mick­ri­gen Besucheraufkommen in Grenzen zu hal­ten. Kultur bie­tet mehr­heit­lich Unterhaltungsprogramme an – für Massen
gedacht. Die Politik hat, statt sich den Philosophien der Gesellschaft zu stel­len und öffent­lich zu dis­ku­tie­ren, die Kulturbudgets für die näch­sten Jahre bewil­ligt – und sogar noch ein paar Fränkli mehr dazu gelegt. Nur ja nicht darüber debat­tie­ren. Nur ja nicht die noch schla­fen­den Hunde wecken. Ich glau­be, jede und jeder PolitikerIn hofft ins­ge­heim, dass die wesent­li­chen gesell­schaft­li­chen Fragen nach ihrer Amtsperiode explo­die­ren – nur nicht jetzt. Jetzt müssen wir still sein. Hurra!

 

Titelbild: Exklusiv für ensuite geschaf­fe­nes Titelbild vom Pop-Art Künstler James Francis Gill, auf dem Porträt, foto­gra­fiert vom Berner Fotografen Remo Neuhaus. Die letz­te Magazintitelseite mach­te Gill für das «Time Magazin» im Jahr 1968. Die Ausstellung ist in Bern in der Galerie Rigassi noch bis zum 25. April 2015 zu sehen.

www.galerierigassi.ch
www.premium-modern-art.com
www.remoneuhaus.com

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