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Häppchen im Taktrausch

By Carmen Beyer

Eine fieb­ri­ge Atmosphäre liegt in der Luft. Das Foyer ist rap­pel­voll, dicht drän­gelt sich alles anein­an­der, Stau an der Kasse. Ein Stockwerk höher ist das Treiben bereits in vol­ler Bewegung: «Theater in allen Räumen» unter die­sem Namen öff­ne­te das Gebäude an der Gessnerallee bereits zum 18. Mal die Türen und Fenster für das zwei­tä­gi­ge Theaterfestival der Zürcher Hochschule der Künste. Neben Werkschau und offe­ner Werkstatt bedeu­tet das immer auch eine gros­se, ver­spiel­te Gaudi, die schon zur all­jähr­li­chen Tradition gewor­den ist – und dass ist gut so.

Überall lie­gen Stücke

117 StudentInnen, 80 Produktionen, zwei Tage, ins­ge­samt 13 Stunden. Diese aus­ufern­den Facts klin­gen nach Marathon. Und das bestä­tigt sich, sobald einem der zwei­tei­li­ge Veranstaltungsplan am Eingang mit auf den Weg gege­ben wird: Auf beid­sei­tig bedruck­tem A3-Papier reiht sich in Schriftgrösse Zwölf eine Produktion an die ande­re. Den vol­len Stunden unter­ge­ord­net, fin­den sich Klein- und Kleinstvorstellungen im 15‑, 30- oder 45-Minutentakt und ver­lan­gen vom Besucher gleich zu Beginn einen star­ken Entscheidungswillen. «Manifest der Einsamkeit», «Durst (ver­dammt)» oder doch «Urlaub fürs Gehirn»? Die schie­re Fülle an Produktionen ver­wan­delt das Gebäude in einen Ameisenhaufen. Die Studenten flit­zen von einem Gang in den näch­sten, schie­ben sich an den Wartenden vor­bei, ver­schwin­den mit rotem Kopf in den Garderoben und kom­men nach gefühl­ten Sekunden mit neu­em Kostüm wie­der her­aus. Kaum ist eine Vorführung been­det, wird umge­baut, ver­scho­ben, ver­wan­delt. Im Lift rauscht mit jeder Fahrt eine audio­vi­su­el­le Installation hin­ab. In der Toilette wer­den mit jeder Spülung Papierboote auf Reisen geschickt. Überall ist Taktrausch. Alles wird bespielt. Wirklich alles.

Tobender Stau in der Werkstatt

Dass hier kein noch so unge­wöhn­li­cher Ort unbe­spielt gelas­sen wird, liegt im Konzept: «Theater in allen Räumen» will die Öffnung und den Austausch nach aus­sen und unter­ein­an­der. So berei­te­ten sich Studierende der Richtungen Schauspiel, Regie, Dramaturgie, Theaterpädagogik und Szenografie wochen­lang auf das Ereignis vor und stel­len gemein­sam ein Mammut-Programm aus unter­schied­lich­sten Produktionen auf die Beine. Wo sonst unterm Semester die gros­sen Fenster und vie­len Gucklöcher der ehe­ma­li­gen Stallanlage eher ver­deckt und geschlos­sen blei­ben (der teil­wei­se inti­men Seminararbeit zulie­be), öff­net sich an die­sen zwei Tagen jeder Winkel zu einer Werkschau der etwas ande­ren Art. Und das Angebot wird so gut auf­ge­nom­men, dass das Haus rap­pel­voll ist und sei­ne Gänge und Treppen häu­fig blockiert sind. Immer wie­der kommt es zum unver­meid­li­chen Stillstand und Anstehen. Angeregt wird Gesehenes wei­ter erzählt und dis­ku­tiert, wer­den Küsschen und Umarmungen ver­teilt. Die eine Hälfte kennt sich, die ande­re lernt sich gera­de ken­nen. Viele der Anwesenden sind oder waren selbst Studenten an der ZHdK. Zuweilen wird man das Gefühl nicht los, der Szenerie eines Absolvententreffens bei­zu­woh­nen, einem Wiedersehen mit guten. Auch das scheint zum Konzept zu gehö­ren: Wenn sich beim Anstehen die fieb­ri­ge Vergnügtheit hoch­schau­kelt, fin­den ganz auto­ma­tisch Austausch und Öffnung statt. Sowohl nach aus­sen, als auch nach innen.

Wildente und Kopfstand

Es herrscht eine all­ge­gen­wär­ti­ge Aufregung, die einen von Stück zu Häppchen schiebt. Selten über­schrei­tet eine Vorführung die Einstundenmarke, vie­le sind tat­säch­lich nur vier­tel- oder halb­stün­di­ge Snacks und erwecken den Anschein einer Übungsanlage. Zum Beispiel, wenn im Stimmprojekt «Cellist von Sarajevo» sechs Darsteller Textversatzstücke in ver­schie­de­nen Körperhaltungen wie­der­ge­ben. Sie spre­chen im Kopfstand, beim Robben über den Boden, schich­ten sich über­ein­an­der und sind doch bis in den hin­ter­sten Winkel hör­bar. Auch wenn der Spannungsbogen bereits vor der hal­ben Stunde erschlafft, ist das ein­drucks­voll. Stimmausbildung heisst nicht nur gut arti­ku­liert oder betont zu spre­chen, son­dern vor allem zu ent­decken, wel­che Dynamik die Stimme selbst in unmög­li­chen Körperhaltungen besitzt. Unter den zahl­rei­chen Produktionen fin­den sich auch eini­ge Abschlussprojekte. Beispielsweise Henrik Ibsens «Die Wildente (2)», eine Inszenierung, die bereits im Dezember 2013 Premiere fei­er­te. Auf 45 Minuten kon­den­siert sie die Geschichte einer Familie, deren Glück ein abrup­tes Ende nimmt, sobald Lüge durch schein­ba­re Wahrheit ersetzt wird. «Dem Menschen sei­ne Lebenslüge zu neh­men, ist ihm sein Glück zu neh­men», leg­te Ibsen einer Figur das ernüch­tern­de Fazit in den Mund. Zwar bleibt die­se Erkenntnis in der auf­ge­führ­ten Produktion nur ange­deu­tet, doch besticht es mit dem Einfall, die Spieler auf der Bühne mit Ton arbei­ten zu las­sen. Sie ver­wen­den die Masse in ihren herr­lich über­zo­ge­nen Darstellungen; bear­bei­ten, defor­mie­ren und nut­zen sie als Projektionsfläche für das immer nur Angedeutete.

Unfertig genau rich­tig

Manche der gezeig­ten Produktionen sind kurz­wei­lig, wäh­rend sich ande­re gera­de­zu fest­beis­sen. Doch sie alle ver­bin­det eine spür­ba­re, anstecken­de Lust und Neugierde, Möglichkeiten aus­zu­pro­bie­ren, zu spie­len, zu erpro­ben. Theater – so kommt der Gedanke – ist mehr als Unterhaltung und darf sich auch den Freiraum neh­men, etwas weni­ger zu sein. Sich zu den Bildern, die unse­re Gesellschaft her­vor­bringt, ins Verhältnis zu set­zen: das ist es, was Theater kann und soll. Es zer­stückelt und formt die­se in sei­nem eige­nen spie­le­ri­schen Charakter neu – auch mal ohne den Anspruch eines fer­ti­gen Produkts. «Theater in allen Räumen», so scheint es, zeigt nicht nur ein bis in die letz­ten Winkel bespiel­tes Hochschulgebäude; es posi­tio­niert sich viel­mehr am ambi­va­len­ten Punkt des Offenen und Verschlossenen, des Fertigen und Unfertigen, und es tut das mit einem ange­neh­men Werkstattcharakter.

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