- ensuite | kulturagenda | enBlog - https://ensuite.we-are.gmbh -

Grenzgänge: Fremdheit und Vertrautheit – Das Zürcher Theater Spektakel 2010 kommt …

Von Fabienne Naegeli – Pichet Klunchun (Thailand) und Mass & Fieber (Schweiz): Seit über 30 Jahren stürmt in die kul­tu­rel­le Sommerflaute das Zürcher Theater Spektakel mit einem Programm, das sei­nen Namen wahr­lich ver­dient. Es lockt erfolg­reich mit Theater‑, Tanz- und Performance-Produktionen aus der gan­zen Welt Gross und Klein auf die Landiwiese. Rund 25 bis 30 inno­va­ti­ve, aus­län­di­sche Gruppen oder EinzelkünstlerInnen lädt die Programmleitung jähr­lich ein. Nach Lateinamerika geht es in die­sem Jahr auf die ande­re Seite des Globus. Das Theater Spektakel rich­tet sei­nen Blick näm­lich nach Ost- und Südostasien, in einen geo­gra­phi­schen Raum, der durch rasan­te poli­ti­sche und sozia­le Veränderungen gekenn­zeich­net ist. Ein her­aus­ra­gen­der Künstler die­ses Erdteils ist der aus Bangkok stam­men­de Choreograph und Khon-Tanz-Meister Pichet Klunchun. In sei­nen Projekten ins­be­son­de­re in «Pichet Klunchun and Myself» , das 2006 am Theaterhaus Gessnerallee zu sehen war, geht es ihm um die Verständigung unter­schied­li­cher Kulturen und die Integration von zeit­ge­nös­si­schen Elementen in den tra­di­tio­nel­len Khon-Tanz sei­ner Heimat Thailand. In der genann­ten Arbeit, die er gemein­sam mit dem fran­zö­si­schen Choreographen Jérôme Bel rea­li­siert hat­te, ent­stand durch gegen­sei­ti­ge Befragung ein span­nen­der Dialog über kul­tu­rel­le Unterschiede und künst­le­ri­sche Affinitäten. Ebenso tritt Klunchun in «Nijinsky Siam», das am dies­jäh­ri­gen Theater Spektakel zu sehen sein wird, in einen Dialog, die­ses Mal jedoch mit einem bereits ver­stor­be­nen Tänzer. Im auto­bio­gra­phi­schen Schattentanztheater «Nijinsky Siam» ver­bin­det er die Tradition des Khon mit der west­li­chen Tanz-Kunst des rus­si­schen Ausnahmechoreographen Vaslav Nijinsky, der mit den Ballets Russes zu Beginn des 20. Jahrhunderts an ver­schie­de­nen Opernhäusern tanz­te. Per Zufall stiess Klunchun auf Fotografien der Aufführung «L‘Après-Midi d‘un Faune» («Nachmittag eines Fauns», Claude Debussy) von 1912 an der Pariser Opéra, bei der Nijinsky als Choreograph debü­tier­te. Die Gesten, Posen und Kostüme erin­ner­ten Klunchun stark an den Khon. Tatsächlich hat­te Nijinsky 1910 das Gastspiel einer sia­me­si­schen Tanzgruppe in Sankt Petersburg gese­hen, und mach­te sich die Schönheit des klas­si­schen Thai-Tanzes zu etwas Eigenem. Mit die­sem Blick von aus­sen, so Klunchun, sorg­te Nijinsky für neue Impulse in der Entwicklung der alten Tanzformen, und ermög­lich­te, eine Seite des Tanzes zu sehen, die Eingeweihten bis­her ver­bor­gen blieb. Die Frage, war­um sich Nijinsky die exo­ti­schen Gesten ange­eig­net hat­te, steht für Klunchun im Hintergrund sei­nes Stücks «Nijinsky Siam», wich­tig ist ihm viel­mehr, wie die­se Aneignung funk­tio­niert hat­te. Über archi­vier­te Fragmente begann Klunchun sei­ne Reise auf dem Weg zur Belebung die­ses legen­dä­ren Tänzers. Mit zwei wei­te­ren Khon-Tänzern sei­ner Dance Company, und in Verbindung mit dem Schatten der Nang Yai-Lederstabpuppen lässt Klunchun den Geist Nijinsky wie­der auf­le­ben, schafft eine tän­ze­ri­sche wie auch musi­ka­li­sche Begegnung zwi­schen Asien und Europa, und reflek­tiert so über Rekonstruktion und Neuinterpretation von Kultur. Nebenbei bemerkt ist Pichet Klunchun einer der fünf Nominierten für den Förderpreis der Zürcher Kantonalbank, einer seit 1986 im Rahmen des Festivals ver­lie­he­nen Auszeichnung für jun­ge, unver­wech­sel­ba­re Produktionen, die einen inno­va­ti­ven Umgang mit neu­en Theaterformen pfle­gen. Abgesehen von Kunstschaffenden des dies­jäh­ri­gen Fokus Asien, sowie den zwei Schwellenländern Südafrika und Brasilien, mit deren Kulturszenen in den ver­gan­ge­nen Jahren inten­siv zusam­men­ge­ar­bei­tet wur­de, sind auch Schweizer Theater- und Tanzschaffende am Theater Spektakel 2010 prä­sent. Zum Beispiel die Gruppe Mass & Fieber, eine 1996 gegrün­de­te Kooperation von Theatermachern, Musikern und SchauspielerInnen, die sich nach «Bambifikation» oder «Die schwar­ze Kammer» in ihrem neu­sten Stück «Geld und Gott – Superhelden-Komödie nach Dante» mit den Absurditäten unse­rer heu­ti­gen Wirtschaft aus­ein­an­der­set­zen, und so ver­su­chen, der aktu­el­len Weltsituation eine Utopie ent­ge­gen­zu­hal­ten. In typi­scher ScrewBall-Comedy-Manier, einem vom Crime Noir inspi­rier­ten Genre, das in den 1930er-Jahren wäh­rend der Wirtschaftskrise die Komödienform revo­lu­tio­nier­te, begeg­nen sich durch Zufälle vier leicht ange­schla­ge­ne Menschen in der Grossstadt Gotham City am Mittelmeer, und gera­ten durch kom­pli­zier­te Verwicklungen in völ­lig unnor­ma­le Zustände. Der Anwalt Maximilian trinkt auf einen Anruf für eine halb­le­ga­le Geldübergabe war­tend die gan­ze Nacht mit der ein­sa­men, erfolg­lo­sen Schauspielerin Betty in der Hotelbar. Am Morgen stürzt sich ein Mann im Superheldenkostüm, Horst, aus dem Fenster in den Tod, wor­auf die gestress­te Polizistin Josefine, die ihren seni­len Vater aus Geldnöten zu Hause hat, um auf ihr Kind auf­zu­pas­sen, in die­sem Fall ermit­teln muss. Indessen trifft der schlaf­los durch die Stadt wan­dern­de, depres­si­ve Hotelkoch Juan auf einen Mann, der aus­sieht wie Bob Dylan, und ihn nach dem Vorbild von Dantes «Göttlicher Komödie» zu einem höl­len­haf­ten Rundgang durchs dies­sei­ti­ge Jenseits ein­lädt. Doch wie das Leben in einer Stadt, wo jeder kurz­at­mig rennt und stol­pert, aber kei­ner vor­an­kommt, halt so spielt, wer­den dem Anwalt die drei Millionen gestoh­len, und wo kann das Geld wohl ande­res sein als im Umfeld des reich­sten Manns von Gotham, dem ner­ven­den Otto Gott. So begeg­nen sich die vier Menschen bei einer Party der Schönen und macht­hung­ri­gen Superreichen auf Gottes Jacht Purgatoria. Aber das Geld singt eben nicht für jeden, und das mit der Rückführung ins Paradies ist halt auch eine schwie­ri­ge Sache, für die eigent­lich über­mensch­li­che Fähigkeiten nötig wären. So beschlies­sen die Vier eine Bande ganz im Sinne der Superheldencomics zu bil­den, um gemein­sam zurück­zu­schla­gen, und im Schlauchboot die zukünf­ti­ge Welt zu ret­ten. Auf einer kaum möblier­ten Bühne, mit Gotham-Swing und in rasan­tem Gangsterslang, erzäh­len Mass & Fieber in ihrer am kom­men­den Theater Spektakel Uraufführung fei­ern­den Produktion «Geld und Gott» vom durch Handlungsunfähigkeit gepräg­ten Leben, des­sen kri­sen­haf­tem Stillstand nur durch ein super­hel­den­glei­ches: «Zusammen sind wir stark!» ent­ge­gen­ge­wirkt wer­den kann. Neben den bei­den her­aus­ge­pick­ten Produktionen war­tet das dies­jäh­ri­ge Theater-Spektakel noch mit einer gan­zen Reihe wei­te­rer Highlights auf, wie dem Noveau Cirque-Stück «Chouf Ouchouf» von Zimmermann & de Perrot, dem Puppentheater über die Zustände in Afghanistan von Neville Tranter, der bel­gi­schen Produktion «Gardenia» über Transsexualität, oder der inter­kul­tu­rel­len Open-Air-Inszenierung «La Cérémonie – Eine Geisterbahn» von 400asa & Peng Hao Theater, über bür­ger­li­che Zeremonien und die Wiederbelebung von revo­lu­tio­nä­ren Traditionen. Des Weiteren wer­den, ergän­zend zu Theateraufführungen und Performances, Videos von und über KünstlerInnen und deren Arbeiten gezeigt, es fin­den Konzerte von Schtärneföifi oder dem Ho Orchestra statt, sowie Künstlergespräche und «Tafelrunden» mit ExpertInnen, und der «Kiosk à gogo» von Herrn und Frau Sommer, oder Matsune & Subal’s «Performance-Store» laden zum tau­schen und shop­pen ein. Übrigens, falls Sie sich bereits über das Motiv der Werbeplakate gewun­dert haben: Das sind Kaijus, japa­ni­sche Monsterfiguren oder soge­nann­te «rät­sel­haf­te Bestien», die da abge­bil­det sind. Ihr berühm­ter Übervater ist die film­be­kann­te Riesenechse Godzilla. Ursprung der Kaiju-Welt ist die Mythologie Japans. Für die Theater-Spektakel-Kampagne hat der Fotograf Hans-Jörg Walter eini­ge Kaijus aus der Sammlung des Rockmusikers Martin Strickler insze­niert.

Foto: zVg.
ensuite, August 2010