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Graatzug – ein Tanzfilm

Von Ruth Kofmel – Es ist eines mei­ner Lieblingsgenres über­haupt: der Tanzfilm, aber es ist auch eines der Genres, das in der Schweiz prak­tisch inexi­stent ist. Die Tänzerinnen und Choreografinnen Nina Stadler und Annalena Fröhlich und der Filmer Jan Mühlethaler haben sich nun aus purer Begeisterung an die­ses Genre gewagt, und nach einer alten Walliser Sage einen Kurzfilm geschaf­fen. Die Premiere fin­det im Rahmen des Kurzfilmfestivals Shnit statt.

Wie ist die Idee zum Film ent­stan­den?

Annalena Fröhlich: Tanz draus­sen in der Natur und in den Städten zu insze­nie­ren fas­zi­nier­te uns. Wir woll­ten unse­ren Tanzstil in eine unge­wohn­te Umgebung stel­len, und somit die Orte und Choreografien umdeu­ten und ver­frem­den.

Im Frühling 2010 gin­gen wir im Wallis wan­dern, um unse­re Idee, einen Tanzfilm in der Natur zu dre­hen, zu ver­tie­fen. Immer dunk­ler wur­den die Wälder, immer ver­wun­sche­ner die Natur, und da erzähl­te mir Nina zum ersten Mal die Geschichte des Graatzugs, wel­che ihre Grossmutter ihr frü­her immer erzählt hat­te. Die Geschichte die­ser unheil­vol­len Gestalten fas­zi­nier­te uns bei­de sehr, und leg­te für uns einen inspi­rie­ren­den Boden.

Nina Stadler: Die Geister, wie sie in der alten Walliser Sage beschrie­ben wer­den, schwe­ben einen hal­ben Meter über dem Boden.

Die Physiognomie die­ser über­ir­di­schen Gestalten tän­ze­risch umzu­set­zen brach­te uns auf die Idee, das Ganze mit dem Medium Film dar­zu­stel­len.

Warum erzählt ihr eine Geschichte und bleibt nicht abstrakt – ist das nicht beson­ders schwie­rig mit dem Medium Tanz zu bewerk­stel­li­gen?

Annalena Fröhlich: Mit Tanz eine Geschichte zu erzäh­len ist für uns sehr wich­tig. Wir wol­len durch den Körper und die Bewegungen Geschichten erzäh­len und Emotionen kör­per­lich aus­drücken. Die Protagonisten erhiel­ten eine genaue Charakterbeschreibung ihrer Figur und ent­wickel­ten eine für ihren Charakter spe­zi­fi­sche Bewegungssprache. Als TänzerIn ist es sehr natür­lich mit Tanz etwas zu erzäh­len.

Nina Stadler: Tanz ist für mich nicht nur Bewegung und form­schö­nes, abstrak­tes «live Bild», son­dern  eine in Perfektion erar­bei­te­te Körpersprache. Der Körper sagt oft mehr als tau­send Worte.

Mich fas­zi­niert auch die Idee, den zeit­ge­nös­si­schen Tanz mit Ansätzen des Handlungs-Balletts zu ver­bin­den; ohne ver­staubt zu wir­ken und pla­ka­tiv zu wer­den.

Jan Mühlethaler: Für den Tanzfilm war der rote Faden, die Geschichte als Rahmen sehr wich­tig.

Welche Funktion über­nimmt das Medium Film dabei?

Jan Mühlethaler: Der Film ermög­licht es, die Geschichte und den Tanz in der rea­len Welt statt­fin­den zu las­sen. Er bricht aus der abstrak­ten Enge der Bühne aus und zieht den Betrachter mit auf die nächt­li­che Reise.

Annalena Fröhlich: Der Film ermög­licht es die Geschichte des Graatzugs in der Natur statt­fin­den zu las­sen, dort wo man ihn wirk­lich antrifft.

Nina Stadler: Den Tanz fest­zu­hal­ten scheint schier unmög­lich. Filmt man zum Beispiel ein Bühnenstück, kommt die unmit­tel­ba­re Faszination des Tanzes nicht so zur Geltung wie wenn man das Stück live gese­hen hät­te. In unse­rem Film ver­hält sich die Kamera wie das Auge eines Zuschauers und nimmt wie bei einer Live Performance selek­tiv Eindrücke und Stimmungen auf.

Gibt es Parallelen zwi­schen Film und Tanz? Wenn ja, wel­che?
Jan Mühlethaler: Für mich ist Tanz vor allem Ausdruck und Bewegung, bei­des auch Elemente des Films – beim Tanz in Reinform, beim Film dage­gen als Teil-Hilfsmittel.
Nina Stadler: Im Tanz arbei­ten wir viel mit Assoziationen und regen die Fantasie des Zuschauers an, das kann man wohl vom Film auch behaup­ten.

Wie sind die Choreografien ent­stan­den? Wie habt ihr gear­bei­tet?

Annalena Fröhlich: Nina Stadler und ich haben die Choreografien in gemein­sa­mer Arbeit an den ver­schie­de­nen Schauplätzen cho­reo­gra­fiert, und uns durch die jewei­li­gen spe­zi­fi­schen Möglichkeiten der Orte inspi­rie­ren las­sen. Auch die ver­schie­de­nen Charaktere der Figuren des Zuges haben uns bewe­gungs­tech­nisch inspi­riert. Wir haben uns gefragt, wie sich die­se Figuren in die­ser unhei­li­gen Konstellation kör­per­lich zuein­an­der ver­hal­ten, und woll­ten das Leiden, wel­ches die­se Gestalten erdul­den müs­sen, tän­ze­risch dar­stel­len.

Nina Stadler: Im Film gibt es immer wie­der Gruppenchoreografien. Diese basie­ren auf der Idee, dass die Geister die glei­che weh­kla­gen­de Geschichte erzäh­len. Deshalb wur­de das Bewegungsmaterial von uns Choreografinnen klar vor­ge­ge­ben. Doch es war uns sehr wich­tig, dass die Tänzerinnen und Tänzer sich mit ihrer Rolle inten­siv aus­ein­an­der­set­zen, damit sie die vor­ge­ge­be­nen Schritte auf die indi­vi­du­el­le Körpersprache ihres Charakters kon­se­quent umset­zen konn­ten.

Choreografiert ihr anders für den Film als für die Bühne?

Annalena Fröhlich: Absolut, denn Bewegungen auf der Bühne wir­ken total anders als wenn man sie mit einer Kamera filmt und sie dann auf eine Leinwand pro­ji­ziert.

Nina Stadler: In gewis­sen Szenen geht es nicht um ein Gesamt-Bild. Da die Kamera einen Fokus aus­wählt, ist es hier mög­lich, mehr ins Detail zu gehen. Eine Fingerkrümmung zum Beispiel gewinnt an gros­ser Bedeutung. Deshalb war die Zusammenarbeit mit Jan Mühlethaler ein wich­ti­ger Bestandteil und eine Befruchtung für unse­re Choreografien.

Jan Mühlethaler: In mei­nen Augen ein gros-ser Unterschied ist die natür­li­che Umgebung, wel­che Annalena Fröhlich und Nina Stadler sehr stark in die Choreografien ein­ge­bun­den­ha­ben. Dies auf eine kom­pro­miss­lo­se Art und Weise, so dass es meh­re­re Momente auf dem Set gab, wo ich mit offe­nem Mund der Performance zuschau­te, mit leich­ter Sorge um die Tänzer.

Wie wich­tig waren Kulissen, Kostüme, Masken zum Erzählen der Geschichte?

Jan Mühlethaler: Es war uns wich­tig, alle Elemente wie zum Beispiel Kulissen, Kostüme, und Musik als Erzählmittel zu ver­wen­den. Auch als Gegenstück zu Bühneninszenierungen mit oft abstrak­ten Kulissen, Kostümen und Musik.

Nina Stadler: Die von der Natur vor­ge­ge­be­nen Kulissen haben uns zu den Choreografien inspi­riert, uns aber auch Grenzen gesetzt. Zudem waren Kostüme und Maske für die Art und Weise wie wir die Sage erzäh­len unab­ding­bar. Unsere Kostümbildnerin Arlette Schneider half uns, die Charaktere der Tänzer bezie­hungs­wei­se der Geister zu unter­strei­chen.

Warum habt ihr eine eher düste­re Walliser Sage als Vorlage gewählt?

Annalena Fröhlich: Uns fas­zi­nie­ren Zusammentreffen von exzen­tri­schen und gespal­te­nen Menschen. Was pas­siert, wenn die­se ganz unter­schied­li­chen Charaktere auf­ein­an­der­tref­fen. Dieser Zwiespalt der gegen­sei­ti­gen Abhängigkeit, und die­ses Gefangensein im eige­nen Charakter inspi­riert uns sehr.

Nina Stadler: Wir hat­ten eine Idee, waren beses­sen davon, und muss­ten sie ver­wirk­li­chen!

Wie wich­tig war der Schnitt? Und wel­che Besonderheiten, Unterschiede gibt es bei einem Tanzfilm im Vergleich zum Spiel-/Dokumentarfilm?

Jan Mühlethaler: Bei einer eher abstrak­ten Inszenierung wie die­ser, ohne Dialoge, ist der Schnitt ein sehr wich­ti­ges Erzählelement. Die Schnittfolge bringt ein­zel­ne Elemente in Beziehung und bestimmt den Rhythmus des Films.

Was war beson­ders, beson­ders schwie­rig bei der Kameraführung?

Jan Mühlethaler: Die Eigenart bei der Umsetzung war, dass sowohl Dialoge, wie auch die Möglichkeit, die Choreografien im Vorfeld mit der kom­plet­ten Besetzung zu sehen, fehl­ten. Die Storyboards und Shotlisten erstell­te ich zusam­men mit dem Kameramann Philipp Künzli  eher intui­tiv und abstrakt. Dies for­der­te beim Dreh von allen Beteiligten ein hohes Mass an Flexibilität, da oft etwas so nicht mög­lich war, oder ande­res plötz­lich inter­es­sant wur­de

Gab es Vorbilder im Tanz, Film? Einflüsse, die euch inspi­rier­ten?

Jan Mühlethaler: Ich liess mich von den Choreografien inspi­rie­ren, und unter­be­wusst sicher auch von ande­ren Filmen und Fotografien.

Nina Stadler: Die Geister. Ich wünsch­te mir mein Körper könn­te sich so bewe­gen wie es die Geister in mei­ner Vorstellung tun.

Was hat euch an die­ser Verbindung von Tanz und Film gereizt?

Jan Mühlethaler: Die Herausforderung etwas «Neues» zu machen, und die per­sön­li­che Vorliebe für Choreografien.

Annalena Fröhlich: Uns reiz­te die fil­mi­sche Umsetzung von Tanz. Wir woll­ten Tanz in der Natur und in der Stadt zei­gen. Auch inter­es­sier­te uns, spe­zi­ell für die Kamera Choreografien zu insze­nie­ren.

Nina Stadler: Versuchen, die Gegenwärtigkeit des Tanzes fest­zu­hal­ten, das ist der Reiz!

Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2011