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«Gone Home» und Videospiel-Narratologie

Von Andreas Meier – Videospielentwickler zwän­gen Erzählungen häu­fig mit mehr Gewalt als Geschick in ihre Spiele. Das mag para­dox klin­gen, wenn man sich den Erfolg von «cinea­sti­schen» Games ansieht: Könnte man nicht mei­nen, dass eine Annäherung an ein erzähl­star­kes Medium wie den Film die Erzählung in Spielen stär­ken wür­de? Doch das Problem, gera­de bei film-imi­tie­ren­den Spielen, ist häu­fig eine Spaltung zwi­schen Interaktion und Erzählung. Was der Spieler in den inter­ak­ti­ven Sequenzen tut, hat meist nichts mit der Handlung zu tun, und sobald die­se wei­ter­ge­führt wer­den soll, wird dem Spieler die Kontrolle weg­ge­nom­men und ein Filmchen vor­ge­setzt. Erzählung und Interaktion strei­ten sich um die Zeit des Spielers.

Dass das nicht so sein muss zeigt auf ver­schie­de­ne Arten eine klei­ne Auswahl von Spielen, unter ande­rem das kürz­lich erschie­ne­ne Indie-Spiel «Gone Home». Darin über­nimmt der Spieler die Kontrolle über die 20-jäh­ri­ge Kaitlin Greenbriar, die nach einer lan­gen Europareise in das neue Haus ihrer Familie zurück­kehrt, in wel­ches die­se wäh­rend Kaitlins Abwesenheit ein­ge­zo­gen ist. Das Spiel beginnt mit­ten in Nacht und Sturm vor der Haustür der Familie Greenbriar. Niemand ist zu Hause, etwas ist nicht, wie es sein soll, und der Spieler wird ermu­tigt, das lee­re Haus nach Hinweisen zu durch­stö­bern.

Die Interaktion ist denk­bar sim­pel: der Spieler wan­dert in der Ich-Perspektive durchs Haus, öff­net Türen, Schubladen und Schränke, liest Briefe, und hebt Gegenstände hoch, um sie genau­er zu betrach­ten. Das Haus ist rie­sig, doch fühlt es sich trotz der Grösse und den eben­so sub­ti­len wie augen­zwin­kern­den Geisterhausanspielungen wie ein sehr natür­li­cher Ort an; ein Raum, in dem gelebt wur­de, der Geschichte und Geschichten hat. Die Arbeit, die in die vie­len klei­nen Details inve­stiert wur­de, die ein Haus aus­ma­chen, sind beein­druckend. Hier kommt zurück, was man an Aufmerksamkeit und Zeit inve­stiert. Wer sich etwa die Zeit nimmt, im TV-Raum die Handschriften auf den VHS-Kassetten (das Spiel ist in den 90er Jahren ange­sie­delt) den ver­schie­de­nen Familienmitgliedern zuzu­ord­nen, um ihre Interessen zu bestim­men, macht sicher eine loh­nen­de­re Erfahrung als ein weni­ger inter­es­sier­ter Beobachter.

Die Bewegung durch, und die Interaktion mit die­sem Raum (men­tal wie spiel­me­cha­nisch) ist das Medium, durch das sich die Geschichte ent­fal­tet. Die Räume im Haus sind ähn­lich geglie­dert wie Kapitel in einem Buch. Sie sind auf eine Art the­ma­tisch und chro­no­lo­gisch geglie­dert, die sich den­noch natür­lich anfühlt, und mei­stens, ohne dem Spieler eine bestimm­te Reihenfolge bei der Erkundung der Räume auf­zu­zwin­gen. Die Geschichte muss mit einem gewis­sen Einsatz von Geduld und Achtsamkeit aus ver­streu­ten Hinweisen zusam­men­ge­fügt wer­den, und bil­det schluss­end­lich trotz ihrer Fragmentierung eine erstaun­lich kohä­ren­te, klas­si­sche Geschichte in drei Akten.

Das gröss­te Kompliment, das man «Gone Home» machen kann, ist, dass eine Zusammenfassung der Geschichte sie banal machen wür­de. Es zeigt, dass die Entwickler ihren Fokus auf das Richtige gelegt haben. Hier zählt nicht das «Was?», son­dern das «Wie?». Die Art und Weise der Geschichtenerzählung macht aus der simp­len Handlung eine ein­zig­ar­ti­ge Erfahrung. Eine, die man so in kei­nem ande­ren Medium repli­zie­ren könn­te. «Gone Home» ver­sucht nicht, Film oder Literatur zu imi­tie­ren, und wirft selbst die mei­sten Charakteristiken von Videospielen über Bord, um eine spe­zi­fi­sche Stärke des Mediums voll aus­zu­spie­len: das Navigieren von Raum. Ein ande­res Medium, das dem am näch­sten kommt, ist der Film, aber hier gehört der Blickwinkel immer der Kamera, die nach ihrem eige­nen Tempo zeigt, was sie nötig fin­det. Ein Film ris­kiert stän­dig, die Neugierde des Zuschauers unbe­frie­digt zu las­sen. Ein Spiel dage­gen prä­sen­tiert die ein­ma­li­ge Gelegenheit, die «Kamera» dem Spieler in die Hände zu drücken und ihn damit in einem frem­den Raum auf Erkundungstour zu schicken. Da wir Raum nicht auf die linea­re Weise wahr­neh­men, die uns in vie­len Filmen prä­sen­tiert wird, deckt sich das Erleben von Raum im Spiel viel eher mit unse­rem all­täg­li­chen Raumerleben.

In einer Diskussion über Raum und Erzählungen ist auch die Figur wich­tig, durch wel­che der Raum erforscht wird. Viele Spiele kämp­fen mit dem Problem der Identifizierung, gera­de bei Spielen, die aus der Ich-Perspektive erlebt wer­den; hat eine steu­er­ba­re Figur zu viel «Charakter», besteht die Gefahr, dass sie dem Spieler zu wenig Spielraum bie­tet. Hat sie zu wenig, kann die Figur schnell zu blass wer­den, was die Identifikation wie­der­um schwer macht. «Gone Home» löst das Problem mit Eleganz. Die anfäng­li­che Ignoranz des Spielers ist weit­ge­hend die­sel­be, mit der auch Kaitlin kon­fron­tiert ist; sie ist an einem unbe­kann­ten Ort und weiss nicht, was gesche­hen ist. So sind die Motivationen der Figur und des Spielers gröss­ten­teils iden­tisch. Kaitlins Charakter tritt hin­ter dem Rest ihrer Familie zurück, ohne zu ver­schwin­den. Sie ist durch ihre Familie immer prä­sent in die­sem Haus – etwa durch Postkarten, die sie wäh­rend ihrer Reisen nach Hause geschickt hat – ohne je zum Fokus zu wer­den.
«Gone Home» ist eines der Spiele, die ihr Medium aus dem Schatten von eta­blier­te­ren Medien wie Film her­vor­zer­ren und sich einen eige­nen Raum schaf­fen. Wer sich für das Potenzial eines jun­gen Mediums inter­es­siert und ein paar Stündchen Zeit und soli­de Englischkenntnisse hat, soll­te einen Blick wagen.

«Gone Home» ist auf www.gonehomegame.com für 19.99$ als Download für Windows, Mac und Linux erhält­lich.

Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2013