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Gier als die Treiberin der Weltpolitik: Putins Russland, Kapitalismus und Helvetograd

Von Dr. Regula Stämpfli - Die Linke, die mit Desinformationskampagnen, Hashtags und Trends Sprechakte pro­du­ziert, die die Demokratie auf­lö­sen, spielt allen Oligarchen brav in die Hand. «Putins Netz», im Original «Putin’s People», erzählt, wie KGB, Oligarchen und Mafiabosse den Kapitalismus sowie die west­li­chen Medien instru­men­ta­li­sie­ren, um deren Demokratien zu beer­di­gen. Hier folgt eine dring­li­che Leseempfehlung.

Als Russland die Ukraine angriff, war ich im Zug zu einem TV-Talk. Geplant war, eine Stunde über den Medienwandel und die neu­en Radikalisierungen links und rechts zu spre­chen, doch es kam anders. Wir führ­ten eine Diskussion über die schwei­ze­ri­sche Neutralität, wie rea­li­stisch Atomkriege im Jahr 2022 sind und dar­über, wes­halb seit über dreis­sig Jahren Geld nicht nur nicht stinkt, son­dern unse­re Demokratien zumüllt.

Seitdem lei­de ich noch stär­ker unter dem Kassandra-Komplex. Wir erin­nern uns. Die Tochter des tro­ja­ni­schen Königs Priamos und der Hekabe, Schwester von Hektor und eine der schön­sten Frauen unter den Beautys der Antike, erweck­te Apollons Begehren, ver­wei­ger­te sich und erhielt eine ent­setz­li­che Strafe: Sie war der Gabe der Weissagung mäch­tig, doch soll­te ihr kein Mensch jemals Glauben schen­ken.

Wie vie­le von uns sahen das Unheil Putin und fan­den in Deutschland und in der Schweiz abso­lut kein Gehör.  Die mutig­ste und klar­ste Journalistin Russlands, Anna Politkowskaja, liess ihr Leben für trans­pa­ren­te Berichterstattung im Tschetschenien-Krieg: Ihre Leiche wur­de Putin 2006 zu des­sen Geburtstag ser­viert.

Wie es die Investigativjournalistin Catherine Belton schafft, immer wie­der nach Russland zu rei­sen und unver­sehrt zurück­zu­kom­men, bleibt mir ein Rätsel. Sogar ich habe seit news.ch-Zeiten eine Reisewarnung auf­grund mei­ner kri­ti­schen Russland-Berichterstattung. Doch im Vergleich zu Belton bin ich eine klit­ze­klei­ne Nummer: Die Investigativjournalistin deckt das System Putin gründ­lich, stich­hal­tig und grund­so­li­de auf.

Mitten in der Pandemie 2020 brach­te Harper Collins das 688-sei­ti­ge star­ke Werk «Putin’s People. How the KGB took back Russia and then took on the West» von Catherine Belton her­aus. Während die Linke mit­tels Sprechakt-Theorie die Auflösung der rea­len Welt in den sozia­len Medien vor­an­treibt und die Informationen zumüllt, weben sich Netzwerke aus Gas, Strom, Stahl und Gold neue Weltdiktaturen – meist mit­hil­fe von Spinnen, die in der ruhi­gen und siche­ren Schweiz hän­gen.

Belton erklärt den Aufstieg Putins, den Zusammenbruch der Sowjetunion, die alten und neu­en Netzwerke des KGB, benennt mit Vollnamen die Mittäter, die in London, in Genf, in Zug und anders­wo im Westen woh­nen, kurz, Belton ist die Lee Miller des 21. Jahrhunderts, und sie­he da: Weder die deut­schen noch die schwei­ze­ri­schen Medien neh­men dies wirk­lich zur Kenntnis. Der Deutschlandfunk absol­viert ein Pflichtprogramm mit Interview zur Publikation der deut­schen (übri­gens her­vor­ra­gen­den Übersetzung), ver­folgt jedoch zur sel­ben Zeit inten­si­ver eine Diskussion über fal­sche Frisuren eini­ger pro­mi­nen­ter Menschen. Es gibt kei­ne eige­nen Recherchen punk­to Oligarchen und Putins Weggefährten im eige­nen Land. Dies ist ein ent­setz­li­ches Armutszeichen für den öffent­lich-recht­li­chen Rundfunk.

Dabei ist Beltons Buch voll mit poli­tisch rele­van­tem Sprengstoff. Belton beginnt mit einer Namensliste, den Namen der «Silowiki». Es ist eine Übersicht, die an übel­ste Agententhriller mit Folter, Auftragsmorden, orga­ni­sier­ten Verbrechen, Banken, Menschenhandel und Geldwäscherei erin­nert, ohne Happy End, lei­der. Der KGB, so die ein­drück­li­che Beweisführung von Catherine Belton, hat nie auf­ge­hört zu exi­stie­ren. Als Ende der 1980er-Jahre die Sowjetunion zusam­men­brach, war der KGB schon längst in Stellung. Lange vor dem Fall der Mauer rech­ne­te die KGB-Elite damit, dass die Stunden mar­xi­stisch-leni­ni­sti­scher Herrschaft gezählt waren.

Zitat aus dem Buch: «Doch in Wahrheit ver­lief die Revolution, die der sie­ben Jahrzehnte wäh­ren­den kom­mu­ni­sti­schen Herrschaft ein Ende setz­te, vor allem des­halb gröss­ten­teils unblu­tig ab, weil vie­le inner­halb des Systems der Partei und des Sozialismus über­drüs­sig waren.»

Die KGB-Spitze habe, so ein rang­ho­her Agent in Beltons Buch, beschlos­sen «ihr eige­nes Zuhause in die Luft zu jagen».

Mit dem alles ande­re als unwich­ti­gen und nie­der­schwel­lig akti­ven Agenten Wladimir Putin im Zentrum bil­de­ten die KGB-Auslandsagenten dabei die ruhi­ge Sturmtruppe, die zu fast jedem Zeitpunkt imstan­de war, auch das neue Russland zu gestal­ten. KGB zu sein, ist ein System, kein Leben. Es ist auch kei­ne Mafia, wie Catherine Belton schreibt, obwohl sie die Geschäftsbeziehungen der nament­lich genann­ten Oligarchen mit der orga­ni­sier­ten Kriminalität ähn­lich wie die der Mafia beschreibt. Nein: Der KGB ist wie die KP der Volksrepublik China Alpha und Omega, System und Gegensystem in einem. Es ist die pul­sie­ren­de Chimäre, die alle ermor­det, die sich nicht wider­stands­los ver­schlucken las­sen. Sowjetischer Totalitarismus, dies wis­sen wir seit Hannah Arendt, zeich­net sich dadurch aus, dass Lügen wahr­spre­chen bedeu­tet und dass sich alle kon­stant sel­ber bespit­zeln, um sich bei nächst­pas­sen­der Gelegenheit sogar der eng­sten Familienmitglieder ent­le­di­gen zu kön­nen.

Ein Wort noch zur Misere der Medieninformationen:  «Putins Netz» müss­te zur flä­chen­decken­den Investigation rus­sisch­stäm­mi­ger, Ex-KGB‑, Ex-Stasi- und aktu­el­ler Zerstörer west­li­cher Demokratien vor unse­rer Haustür füh­ren, doch nichts der­glei­chen geschieht. Bis zum Redaktionsschluss die­ses Artikels – 15. August 2022 – brach­te SRF kei­nen ein­zi­gen Beitrag zu «Putins Netz»:  weder zu Catherine Belton noch zu ihrem Werk. Dies zeigt die Abgründe des­sen, was Desinformation in den 2020er-Jahren alles bewirkt: Desinformation und irrele­van­ter Klickjournalismus. Ein Blick in die SMD, die Schweizerische Mediendatenbank, zeigt: Catherine Belton und «Putins Netz» erzie­len lächer­li­che 5000, Hits wäh­rend einen Dauerschwätzer wie Richard David Precht über 100 000 sei­ten­lan­ge Artikel über sei­ne Person und sein Putin-Versteher-Werk aus­wei­sen.

Prominenz statt Relevanz zer­stört mit­tels Desinformation eben die Demokratie – um noch­mals mei­nen Punkt zum Medienwandel zu wie­der­ho­len.

Putin – so Beltons Fazit –  war schon immer alles ande­re als der zum rus­si­schen Nationalisten gewan­del­te Secondhand-KGB, wie die Story im Westen ger­ne kol­por­tiert wird. Putin und sei­ne Männer waren seit den 1970er- und 1980er-Jahren die mäch­ti­gen Zweitstädter in Leipzig und Leningrad. Sie gin­gen viel bru­ta­ler gegen ihre Gegner vor als die eher vor­neh­me­ren KGB-Hauptstädter in Berlin und Moskau.

«Die ober­ste Riege der sowje­ti­schen Nomenklatura wur­de aus dem Amt gefegt, und anschlies­send über­nah­men Teile der zwei­ten und drit­ten Reihe das Ruder», mein­te Thomas Graham vom Nationalen Sicherheitsrat der USA. «Die Leute hat­ten ver­stan­den, dass es ihnen ohne die ideo­lo­gi­schen Vorgaben bes­ser erging. Die Sowjetunion ging unter, weil die Vertreter aus der zwei­ten und drit­ten Reihe kein Interesse an ihrem Überleben hat­ten. Sie hat­ten her­aus­ge­fun­den, wie sie das neue System zu ihrem Vorteil nut­zen konn­ten.» (S. 99 ff.)
Als sich die rus­si­sche Staatsanwaltschaft in den 1990er-Jahren dar­um bemüh­te, sich auf die Suche nach dem ver­schwun­den Vermögen der Kommunistischen Partei zu machen, waren es «die Wachposten des Auslandsgeheimdienstes, die alles in ihrer Macht Stehende unter­nah­men, um die Ermittlungen zu behin­dern. (…) Jewgeni Primakow wur­de von Jelzin ein­ge­setzt, damit das heim­li­che Finanznetzwerk des rus­si­schen Auslandsgeheimdienstes auf­blüh­te. (…) Es wur­den Dutzende Milliarden Dollar abge­schöpft, um die Netzwerke des KGB im Ausland auf­recht­zu­er­hal­ten. Vor dem Putsch gegen Jelzin wur­den Hunderte aus­län­di­sche Tarnfirmen und sowje­ti­sche Gemeinschaftsunternehmen gegrün­det, hand­ver­le­se­ne Gesandte des Komsomol und sowje­ti­sche Auswanderer.»

Der Fall der Sowjetunion war also ein Scheinmanöver: Zwar wur­de der KGB im Oktober 1991 für die Kameras auf­ge­löst, doch er ope­rier­te mun­ter wei­ter. 2021 gab es in Moskau eine Internetabstimmung, ob es ein neu­es Denkmal für den Terrorfürsten und Erfinder des KGB Felix Dzierzynski geben sol­le oder für Fürst Newski. Als Fürst Newski gewann, wur­de die Abstimmung aus­ge­setzt mit dem Argument, man sol­le doch Russland nicht wegen einer neu­en Statue spal­ten.

«Putins Netz» gehört zu den besten Sachbüchern des 21. Jahrhunderts. Es ist der Autorin und dem Verlag zu wün­schen, dass Millionen die Recherche lesen und damit die Klagen der Oligarchen gegen das Buch bewäl­ti­gen. Das bahn­bre­chen­de Buch erklärt nicht nur Putin, Russland und die Finanz-Mafia, son­dern erzählt viel über den besorg­nis­er­re­gen­den Zustand unse­rer Demokratien. Besonders besorg­nis­er­re­gend sind auch die Kapitel über Englands gekauf­te Justiz. Das Werk von Catherine Belton ist immer noch unge­schwärzt erhält­lich – in London scheint sich das grad zu ändern.
Catherine Belton: Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurück­hol­te und dann den Westen ins Auge fass­te.

Info:
2008 führ­te Putin Krieg gegen Georgien, 2014 annek­tier­te er die Krim, über der Ostukraine wird ein Passagierflugzeug abge­schos­sen, Politiker Nemzow wird 2015 in Kremlnähe ermor­det, auf Syrien fal­len ton­nen­wei­se rus­si­sche Bomben, 2020 über­lebt Nawalny nur knapp einen Giftanschlag, er kehrt nach Russland zurück – eine sehr von Dostojewski inspi­rier­te Tat – und wird bis ans Lebensende ein­ge­ker­kert, und was titelt SRF – stell­ver­tre­tend für alle Putin-Versteher? «Selenski pro­vo­ziert mit sei­ner aggres­si­ven Rhetorik.» Echt jetzt?