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«Geschichte des grie­chi­schen Königs und des Arztes Duban» aus: «Kitab ‹Alf Laylah wa-Laylah» (Arabisch für «Das Buch Tausendundeine Nacht»)

Von Fred Fritsche - «Das Buch Tausendundeine Nacht», eine anony­me Sammlung von popu­lä­ren Märchen indo-per­si­schen (3. bis 7. Jh.), ara­bi­schen (Bagdad, 9. und 11. Jh.) und ägyp­ti­schen Ursprungs (12. bis 16. Jh.) in ara­bi­scher Sprache, löst vor drei­hun­dert Jahren in Europa hel­le Begeisterung aus. Der magi­sche Klang aus der mor­gen­län­di­schen Fabelwelt und das Panorama von mensch­li­cher Weisheit, Narrentum, Leidenschaft, Barmherzigkeit, Scharfsinn, Niedertracht und Rachsucht fas­zi­nie­ren bis heu­te: «Eine Perlenschnur ori­en­ta­li­scher Erzählkunst» (Ludwig Fulda), die nicht geal­tert anmu­tet, trotz Hunderten von Jahren und Meilen, die zwi­schen jener Welt und der des 21. Jahrhunderts lie­gen. Quellenlage und Textgeschichte sind äus­serst kom­plex und unge­si­chert, vie­le Erzählungen will­kür­lich über­nom­men und irgend­wo ein­ge­fügt. Hinzu kommt eine for­ma­le Besonderheit: Die Geschichten sind laby­rin­thisch inein­an­der ver­schach­telt und in unzäh­li­gen Rahmen ver­zweigt. Ausgangspunkt für den aus­ser­ge­wöhn­li­chen Erfolg die­ser Erzählungen-Anthologie in Europa ist die fran­zö­si­sche Übersetzung von Antoine Galland (1646–1715) aus den Jahren 1704 bis 1717 (postum). Es fol­gen zahl­lo­se ergän­zen­de Editionen nach immer wie­der auf­ge­fun­de­nen Manuskripten bis in die jüng­ste Gegenwart, vie­le basie­ren frei­lich auf weit ver­streu­ten Textfragmenten. Deutsche Übertragungen gibt es eine gan­ze Reihe, zu Beginn auf der Grundlage von Galland, etwas spä­ter aus dem Arabischen, zuerst von Gustav Weil (1837), dann die Neuübersetzungen des Orientalisten Enno Littmann und des­sen Nachfolger (von 1918 bis 2004). Besonders erwähnt sei schliess­lich die Editionsarbeit der Arabistin Claudia Ott von «Tausendundeine Nacht. Nach der älte­sten Handschrift in der Ausgabe von Mushin Mahdi» (München 2004) sowie von «Tausendundeine Nacht. Das glück­li­che Ende» (München 2016). Letztere geht aus der zufäl­li­gen Entdeckung eines falsch ein­ge­ord­ne­ten Manuskripts (um 1500) in der Bibliothek von Kayseri zu den letz­ten 120 Nächten her­vor. Hier ist anzu­set­zen, denn mit die­ser Publikation gewinnt die inhalt­li­che Ausgestaltung von «Tausendundeine Nacht» erst ihren fol­ge­rich­ti­gen Sinn, näm­lich den äus­se­ren Rahmen für Beginn und Schluss der Sammlung, dar­in ein­ge­bet­tet die vier- bis fünf­tau­send Seiten für Erzählungen, Anekdoten, Humoresken, phi­lo­so­phi­sche Diskurse, Gedichte, in Episoden ver­floch­te­ne Koranverse, ver­teilt auf tau­send­und­ei­ne Nacht.

König Schehrijâr regiert sein Reich, eine Insel im Gebiet um Indien und China, mit glück­li­cher Hand. Eines Tages fin­det er sei­ne Gemahlin, «wie sie einen her­ge­lau­fe­nen schwar­zen Sklaven umschlun­gen» hält. In unbän­di­ger Wut lässt er sie ent­haup­ten und nimmt sich fort­an, um jeden Betrug aus­zu­schlies­sen, jede Nacht eine Jungfrau, die am fol­gen­den Morgen ster­ben muss. Nach drei Jahren bleibt nur noch eine Jungfrau, die in Liebreiz und Klugheit den Wünschen von Schehrijâr ent­spricht: Schehrezâd, die Tochter des Wesirs. Diese beginnt nun, jeden Abend eine Geschichte zu erzäh­len, die sie jeweils am fol­gen­den Morgen an der auf­re­gend­sten Stelle abbre­chen lässt: «Da erreich­te das Morgengrauen Schehrezâd, und sie hör­te auf zu erzäh­len. «Ach, Schwester», sag­te Dinrasâd zu ihrer Schwester, «wie span­nend ist dei­ne Geschichte!» – «Was ist das schon», erwi­der­te sie, «gegen das, was ich euch mor­gen Nacht erzäh­len wer­de, wenn ich dann noch lebe und mich der König ver­schont …» Auf die­se Weise geht das wäh­rend tau­send Nächten wei­ter. Schehrezâd schenkt Schehrijâr drei Kinder. Der Schluss, die letz­te Nacht, die auf die tau­send­ste folgt, ist nun seit weni­gen Jahren bekannt: Das Glück ist unge­trübt, die Hochzeitsfeierlichkeiten dau­ern Tage.

Ausgerechnet die viel­leicht pro­mi­nen­te­sten Märchen zäh­len aller­dings nicht zu den ursprüng­lich authen­ti­schen Texten von «Tausendundeine Nacht»: «Ali Baba und die vier­zig Räuber», «Sindbad der Seefahrer», «Aladin und die Wunderlampe». Sie sind erst spä­ter auf­grund ihrer erzäh­le­ri­schen Qualität, der Attraktivität und aben­teu­er­li­chen Absonderlichkeit des Geschehens in die Sammlung auf­ge­nom­men wor­den. Zahlreich sind die Kürzungen und auch Streichungen im Laufe der lan­gen Rezeptionsgeschichte, teils aus Gründen der Schicklichkeit, teils wegen reli­giö­ser Vorbehalte, teils infol­ge der Grausamkeit der ver­häng­ten und voll­streck­ten Strafen. Auch Adaptionen an Geschmack und Vorlieben der euro­päi­schen Gesellschaften fin­den sich bereits in den ersten Ausgaben auf der Basis von Gallands Übertragung. Und wenn die Titel der Geschichten sug­ge­rie­ren soll­ten, dass «Tausendundeine Nacht» die patri­ar­cha­li­schen Sozialstrukturen des Orients unver­hoh­len und akzen­tu­iert dar­stel­len wür­den, so gilt es, Folgendes zu unter­strei­chen: In zahl­rei­chen Erzählungen spie­len Frauen die ent­schei­den­de Rolle im Hinblick auf eine schliess­lich glück­li­che Wende. Für die­se Feststellung spricht nicht zuletzt und beson­ders aus­ge­prägt die Rahmengeschichte mit der Figur der Schehrezâd.

Ein Hinweis darf nicht feh­len, näm­lich jener auf den Herrscher aus der Abbasiden-Dynastie Harûn er-Raschîd. Geboren um 763 n. Chr. in der Nähe von Teheran, wird er Kalif von Bagdad (768–809) und führt die Stadt zu einer unver­gleich­li­chen Blüte. Bagdad steht in «Tausendundeine Nacht» mit dem Namen Harûn er-Raschîd als idea­les Zentrum für Handel, Wissenschaft und Kultur der «ori­en­ta­li­schen Welt».

Bereits die ersten Nächte von «Tausendundeine Nacht» sind zu einem kom­ple­xen Gefüge von Erzählungen ver­floch­ten, mit Rahmen, die sich immer wei­ter ver­zwei­gen. Die vor­lie­gen­de Textpassage gehört zu einer Geschichte, die Schehrezâd Schehrijâr mit sechs Unterbrechungen in den Nächten elf bis sieb­zehn erzählt. Den Rahmen unter ande­ren bil­det die berühm­te Geschichte «Der Fischer und der Dschinni», wo sich der aus einer Flasche ent­wi­che­ne Geist durch die List des Fischers wie­der in sei­ne enge Behausung zurück­zieht. Zuvor erzählt ihm der Fischer aber die Begebenheit mit dem Arzt Duban und dem König von Fars im Lande Suman mit Namen Yunan. Dieser ist von Aussatz befal­len, und nie­mand kann ihn hei­len. Da kommt eines Tages ein Arzt namens Duban in die Stadt, der «alle Bücher gele­sen hat­te, grie­chi­sche, per­si­sche, tür­ki­sche, ara­bi­sche und latei­ni­sche, syri­sche und hebräi­sche. Alles Wissen, was dar­in­nen stand, hat­te er sich ange­eig­net.» Er heilt den König, doch statt Dankbarkeit zu erfah­ren, lässt sich der gene­se­ne Herrscher von des­sen miss­gün­sti­gem Wesir über­re­den, er müs­se den Arzt als gefähr­li­chen Feind betrach­ten, den er sich mit­tels Todesurteil und durch Enthaupten vom Halse zu schaf­fen habe. Alles Bitten und Flehen um Gnade von Duban ist umsonst:

«Als der Arzt nun sei­nen Tod mit Gewissheit vor Augen sah, sag­te er: ‹O König, ver­schie­be nur mei­nen Tod, bis ich nach Hause gegan­gen, um anzu­ord­nen, wie man mich beer­di­gen sol­le, Almosen spen­de, Geschenke mache, unter mei­nen Kindern mein Erbe ver­tei­le, mei­ner Frau ihr Bestimmtes gebe und mei­ne Bücher Leuten zuwei­se, die sie ver­die­nen. Auch habe ich ein höchst aus­ge­zeich­ne­tes Buch, das ich dir schen­ken will; ver­wah­re es wohl in dei­nem Schatze!› – ‹Und wor­in besteht der Wert die­ses Buches?›, frag­te der König. ‹Es ent­hält unzähl­ba­re Geheimnisse. Das erste ist: Wenn du mich hast umbrin­gen las­sen und das sech­ste Blatt öff­nest und drei Zeilen von der rech­ten Seite lie­sest und mich ansprichst, so wird mein Kopf auf alle dei­ne Fragen ant­wor­ten kön­nen.› Der König war sehr erstaunt und sag­te: ‹Das ist höchst son­der­bar; dein Kopf wird mit mir reden, wenn ich das Buch öff­ne und drei Zeilen dar­in lese?› Er gab ihm dann sogleich Erlaubnis, nach Hause zu gehen. Der Arzt tat die­ses, ver­rich­te­te sei­ne Geschäfte bis zum andern Tage, dann kam er wie­der in den Palast, wo die Fürsten, Wesire, Adjutanten und son­sti­gen Grossen des Reiches alle ver­sam­melt waren. Der Arzt Duban kam mit einem alten Buche und einem Schächtelchen voll Pulver, setz­te sich und for­der­te eine Schüssel. Als man sie ihm gebracht, streu­te er das Pulver hin­ein und sprach: ‹O König, nimm die­ses Buch, öff­ne es aber nicht, bis mir der Kopf abge­schla­gen ist. Wenn dies gesche­hen, so las­se ihn in die Schüssel auf das Pulver set­zen; das Blut wird dann sogleich gestillt wer­den; öff­ne hier­auf das Buch und fra­ge mei­nen Kopf, er wird dir sicher ant­wor­ten. Es gibt kei­nen Schutz und kei­ne Kraft, aus­ser bei dem erha­be­nen Gott: Doch läs­sest du mich leben, so wird auch Gott dich erhal­ten.› Aber der König sag­te: ‹Ich wer­de dich umso gewis­ser töten las­sen, damit ich sehe, wie dein Kopf mit mir spre­chen wird.› Der König liess ihm hier­auf den Kopf abschla­gen und nahm ihm das Buch ab. Als der Scharfrichter damit fer­tig war, ward der Kopf in die Schüssel auf das Pulver gedrückt, und das Blut hör­te sogleich auf zu flies­sen. Der Arzt Duban öff­ne­te dann die Augen und sag­te: ‹Nun kannst du das Buch öff­nen, o König!›

Der König tat es und schlug ein Blatt nach dem andern um; da die Blätter aber anein­an­der­kleb­ten, leg­te er den Finger an die Lippen und benetz­te ihn; so wen­de­te er bis zum sie­ben­ten Blatte her­um, fand aber nichts dar­in geschrie­ben. Darauf sag­te er: ‹O Arzt, ich fin­de ja nichts in die­sem Buch.› Der Kopf des Arztes ant­wor­te­te: ‹Schlage nur wei­ter um!› Der König schlug immer wei­ter um und benetz­te den Finger dabei, bis er die Arznei, mit der das Buch ver­gif­tet war, abge­rie­ben hat­te. Auf ein­mal fing der König an zu wan­ken und Schwindel zu füh­len.
Als der Kopf des Arztes sah, dass der König der Griechen nicht mehr auf­recht ste­hen konn­te, dach­te er sich, dass er das Gift ein­ge­so­gen, und sprach fol­gen­de Verse:
‹Sie haben ein stren­ges Gericht gehal­ten, und noch ein wenig, so war es, als hät­ten sie kein Urteil gefällt. Wären sie gerecht gewe­sen, so wäre auch ihnen Gerechtigkeit wider­fah­ren, ihre Gewalttat wur­de ihnen aber vom Schicksal mit Elend und Tod ver­gol­ten, und nach­her sag­te ihnen eine bild­li­che Sprache: Dies ist dafür – und man kann dem Schicksal kei­ne Vorwürfe machen.›

Als der Kopf des Arztes so gespro­chen, fiel der König tot hin, und auch der Kopf des Arztes blieb leb­los.»

Sollte Ihnen die Geschichte irgend­wie bekannt vor­kom­men, suchen Sie nicht zu weit! Sie fin­det sich in leicht abge­wan­del­ter Form in Umberto Ecos Weltbestsellerroman «Der Name der Rose» aus dem Jahre 1980. Die Auflösung aller Rätsel, die die­ser Roman bereit­hält und denen der Franziskanermönch William von Baskerville, in der «dra­ma­tis per­so­nae» als «Zeichendeuter und Spurensucher» benannt, lei­den­schaft­lich auf der Spur ist, erfolgt am «Siebenten Tag», im Kapitel «Nacht». Jorge von Burgos, «blin­der Seher», hat ein Leben lang gegen das Lachen gekämpft und alles dar­an­ge­setzt, Fröhlichkeit von den Mauern der Cluniazenserabtei Fossanova fern­zu­hal­ten. Zu die­sem Zweck ver­wahrt er die ein­zi­ge Abschrift der «Zweiten Poetik» von Aristoteles sicher vor jeg­li­chem Zugriff in der Bibliothek. Sie han­delt von der Komödie: «Als Gott lach­te, ent­stan­den sie­ben Götter, wel­che fort­an die Welt regier­ten, als er in Gelächter aus­brach, erschien das Licht, beim zwei­ten Gelächter erschien das Wasser, und als er lach­te den sie­ben­ten Tag, erschien die Seele …» Und dann: «Jedes Wort des PHILOSOPHEN, auf den mitt­ler­wei­le schon die Heiligen und die Päpste schwö­ren, hat das Bild der Welt etwas mehr ent­stellt. Das Bild Gottes indes­sen hat er noch nicht zu ent­stel­len ver­mocht. Wäre jedoch … wäre jedoch die­ses Buch zum Gegenstand offe­ner Ausdeutung und Debatte gewor­den, so hät­ten wir auch die­se letz­te Grenze noch über­schrit­ten.» Als die Gefahr droht, dass der Foliant in unbe­fug­te Hände gera­ten könn­te, lässt Jorge von Burgos die Seiten mit Gift durch­trän­ken. Es wird ein Buch mit der «Kraft von tau­send Skorpionen» und for­dert ein neu­gie­ri­ges Opfer. William löst zwar den kom­ple­xen Kriminalfall, aber die Bibliothek und die Abtei wer­den ein Raub der Flammen. In der «Nachschrift zum Namen der Rose» (S. 27, München 1984) schreibt Umberto Eco, ihm sei durch­aus bewusst gewe­sen, sich in unge­zähl­ten Büchern umge­se­hen zu haben: «Alle Bücher spre­chen immer von ande­ren Büchern, und jede Geschichte erzählt eine längst schon erzähl­te Geschichte.»

Textpassagen aus:
«Tausend und eine Nacht. Arabische Erzählungen. Zum ersten Male aus dem Urtext voll­stän­dig und treu über­setzt von Gustav Weil», 4 Bände, Berlin 1914

Zwei Illustrationen von Fernand Schulz-Wettel: «Schehrezâd erzählt» und «Geschichte des grie­chi­schen Königs und des Arztes Duban», aus der erwähn­ten Ausgabe von «Tausendundeine Nacht»