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Gefangen in der Gegenwart: Joaquim Pinto / E Agora? Lembra-me

By Olivier Christe

Zusammen haben wir die Welt bereist, oder, die Welt hat uns vor­bei­ge­hen gese­hen“.

Dies ist einer der ersten Sätze von „E ago­ra? Lembra-me“. Wie fast alle Sätze, die im Film nicht dem Fernseher oder dem Radio ent­stam­men, wird er von Joaquim Pinto gespro­chen. „Zusammen“ meint im obi­gen Zitat mit Nuno, mit dem er seit vie­len Jahren ver­hei­ra­tet ist. Der 1957 in Portugal gebo­re­ne Joaquim ist sowohl Regisseur wie auch Protagonist des Filmes. Der Fokus auf sei­ne eige­ne Person hat einen Grund. Bei ihm wur­den 1997 HIV und Hepatitis C dia­gno­sti­ziert. Die Infektion ver­mu­tet er weit frü­her, denn in den USA war ab den 80er Jahren von einer Krankheit die Rede, die Homosexuelle umbringt. Auch er muss­te in die­sen Jahren von vie­len Freunden Abschied neh­men. In „E Agora? Lembra-me“, was über­setzt „Und nun? Erinnere mich“ heisst, zeigt er tage­buch­ähn­li­che Aufzeichnungen aus dem Jahr 2011, in dem er eine Behandlung mit neu­ar­ti­gen Medikamenten (Boceprevir, Interferon, Ribavirin) zur Bekämpfung von Hepatitis C erhält. Das Gift, das er in Form von Medikamenten in sei­nen Körper bringt, nimmt gros­sen Einfluss auf die­sen, wie auch auf sei­ne Psyche. Die gra­vie­rend­ste Nebenwirkung beschreibt er als eine Trägheit. Ein Verharren sei­nes Körpers, der nicht mehr auto­ma­tisch die Signale aus dem Kopf umsetzt. Der Körper hat sich vom Geist gelöst, und jedes Signal muss über den Willen kom­mu­ni­ziert wer­den. Symptomatisch sagt er „Ich muss wol­len um zu wol­len“. Die eigen­ar­tig­ste Form die­ser Trennung von Körper und Geist zeigt sich beim Atmen. Er schreibt dem Brustkorb, der sich wei­gert die regel­mäs­si­ge Auf-und-Ab-Bewegung durch­zu­füh­ren, schliess­lich gar einen eige­nen Willen zu.

Als Reaktion auf die immense Wirkung, die das Gift in sei­nem Körper aus­löst, wird der Film zu einem fata­li­sti­schen Klagelied. Konstante Metapher bleibt dabei die Natur. Das Feuer, dem man sich ent­ge­gen­stellt, das aber den­noch frü­her oder spä­ter über das Land zieht und die Ernte ver­nich­tet. Die Hunde, die immer wie­der erge­ben auf dem Rücken lie­gend zu sehen sind und ihre Unterwürfigkeit ganz offen zur Schau stel­len. Die Schnecke, die für die Überquerung von einem Grashalm eine gefühl­te Ewigkeit braucht, wel­che wir unge­kürzt mit­ver­fol­gen. Die Wespe, die auf dem Fenstersims im Sterben liegt und das mensch­li­che Augenpaar, das sie dabei ruhig und ohne Hilfeleistung beob­ach­tet. Keine Hilfe, weil Hilfe kei­nen Sinn macht, weil sie stirbt. Joaquims Fatalismus pran­gert vor allem die künst­li­che Lebenserhaltung unter gros­ser Opfergabe an. Jedes Wesen hat ein Ablaufdatum, wie auch die Menschheit ein Ablaufdatum hat, das er jetzt für gekom­men sieht. Doch Teil die­ses Fatalismus› ist auch die Akzeptanz des mensch­li­chen Jas zum Leben. Er stellt bei sich selbst die Ausweglosigkeit im Kampf gegen HIV und Hepatitis C fest und sieht sich gleich­zei­tig in einer neu­en Behandlung. Diese unter­schei­det sich von der alten nur dadurch, dass jedes Gift, das neu in sei­nen Körper gelangt, toxi­scher als sein Vorgänger ist. Der Mensch baut auf Hoffnung und die­se führt zum Äussersten. Zum letz­ten mög­li­chen Mittel.

Seine These belegt er mit einer histo­ri­schen Untersuchung von Epidemien. Jede Krankheit, so Joaquim, hat eine Zeit und eine Geschichte. Syphilis, die Kolumbus vom neu­en Kontinent mit­brach­te, die Spanische Grippe 1920, der sei­ne Grosseltern erla­gen, die asia­ti­sche Grippe 1957, die Nunos Eltern auf dem Gewissen hat. Hepatitis C und HIV, die Krankheiten unse­rer Zeit. Denn jede Zeit, und dabei zwingt er uns den Satz umzu­keh­ren und ver­dammt die Welt zum Leiden, hat ihre Krankheit.

Während zu Beginn des Films der Eindruck auf­kommt, Joaquim sei auf­grund sei­ner Krankheit zu einem Leben in der Gegenwart ver­dammt, wei­tet er das Argument all­mäh­lich auf die gesam­te Menschheit aus. Wenn man Joaquims Gedanke kon­se­quent wei­ter­ver­folgt, braucht es für eine Zukunft wie für eine Vergangenheit ein Verständnis der Gegenwart. Dies aber ist dem Menschen nicht gege­ben. Joaquim selbst sieht sich gezwun­gen, von sei­nem Glauben an die Wissenschaft abzu­kom­men. Seine Krankheit, auf die er all­mäh­lich redu­ziert ist, zwingt ihn dazu. Während er im Film bewusst den eige­nen Glauben an die Wissenschaft unter­wan­dert, bie­tet ihm Nunos Glaube im bibli­schen Sinn eine wir­kungs­mäch­ti­ge Alternative. Und so gleicht Nuno plötz­lich – auch optisch – auf­fal­lend Jesus und wird selbst zum Erlöser, indem er Joaquim mit jeweils einem ein­zi­gen Wort von sei­nem wis­sen­schaft­li­chen Hoffnungsglauben an den Ausgangspunkt zurück­zu­schmet­tern ver­mag. Jeder Kampf ist unnö­tig. Dies zeigt ein­drück­lich der wis­sen­schaft­li­che Exkurs in Mikroskopbildern. Das HI-Virus nistet sich in den Zellen ein. Um das Virus zu ver­nich­ten muss auch die Zelle ver­nich­tet wer­den. Der Kampf gegen das Virus endet in der völ­li­gen Zerstörung sei­nes Wirtes. Der Mensch will Gott spie­len und opfert sich und ande­re dabei selbst. Die Opfergabe aber ändert nichts am Ausgang.

Der Film zeich­net ein düste­res Bild unse­rer Welt. Er stat­tet die Realität mit einem uner­schöpf­li­chen Waffenarsenal aus, das ein­zig dazu dient dem Leben auf Erden Leid zuzu­fü­gen. Gleichzeitig bie­tet er dage­gen ein wirk­sa­mes Mittel an: der Verzicht auf sämt­li­che Vorstellungen von Leben in Vergangenheit und Zukunft und dage­gen ein radi­ka­ler Fokus auf die Gegenwart.

Wie das Jahr 2011, indem sich Joaquim der neu­en Behandlung unter­zieht, lang­at­mig und vol­ler Durststrecken ist, so ist auch der Film eine gros­se Herausforderung. Aufgrund der Länge von 164 Minuten an den Körper, vor allem aber an den Geist. Es ist eine Willensleistung den Film zu Ende zu schau­en. Einerseits auf­grund der Länge und Hoffnungslosigkeit, ande­rer­seits auf­grund der Schwere, die auf gewis­sen Bildern lastet. Allen vor­an die Präparate von Körpern, die der Syphilis erle­gen sind. Die Willensleistung wird aber schliess­lich vor allem für die Zusammenführung der ein­zel­nen Fragmente nötig. Der Film ist eine Komposition aus Einzelfragmenten, die in einer poe­ti­schen Sprache und ohne expli­zi­te Aussagen erzählt und müh­sam zusam­men­ge­führt wer­den müs­sen. Die Mühe, die viel Zeit in Anspruch nimmt, führt aber, egal ob man Joaquim in sei­ner Radikalität zustimmt oder nicht, schliess­lich zu dem, was man Katharsis nennt. Aus einem Prozess, der sowohl Körper und Geist bis zum Äussersten for­dert, tritt man mit einem Mehrwert hin­aus. Das Potenzial dazu ist in die­sem Fall gewal­tig. Es ist der Stoff, der Menschen macht.

: http://www.kulturkritik.ch/2013/joaquim-pinto-e-agora-lentra-me/