Von Barbara Roelli - Ein älteres Ehepaar, vielleicht so Ende sechzig, sitzt an einem der kleinen Zweier-Tische. Die Frau hat einen Teller vor sich stehen, dessen Füllvermögen in anschaulicher Weise ausgereizt ist: Ein Brötchen bildet die Basis der gewagten Konstruktion, darüber wölbt sich ein Buttergipfel, der drei Scheiben Schnittkäse auf dem Buckel hat. Noch mehr in die Höhe zu bauen hat sich die Dame nicht gewagt. Aber der flache Teller mit seinem nur kurz am Schluss nach oben verlaufenden Rand bot der Frühstückenden genügend Platz, sich am Buffet ohne Bescheidenheit einzudecken. An die Backwaren gedrückt, zwängt sich ein Schälchen Konfitüre neben die Aufschnittscheiben, die wie aufeinander gelegte Teppiche wirken. Das Paar scheint wahrlich Appetit zu haben. Dennoch sitzt es andächtig vor den aufgetürmten Lebensmitteln – wie vor Opfergaben. Die Köpfe gesenkt, die Augenlider geschlossen und konzentriert in einen inneren Dialog vertieft. Obwohl jeder für sich, scheinen der Mann und die Frau gerade deshalb miteinander verbunden; in dieser persönlichen Handlung, der beide in diesem Moment nachgehen: Dem Beten.
Danken sie Gott für seine Grosszügigkeit? Dafür, dass sie gesund und wohlgenährt sind? Dass sie genügend zu essen haben? Denken sie an Menschen, die Hunger leiden müssen? Geht es bei ihrem Tischgebet überhaupt ums Essen? Oder danken sie Gott dafür, dass es ihnen in der Ehe eigentlich gut geht? Dass einer von ihnen gegen eine Krankheit angekämpft und sie besiegt hat? Vielleicht bedanken sie sich bei Gott für den gelungenen Anbau des Wintergartens an ihr Haus? Dafür, dass sie im Lotto gewonnen haben oder ihr Sohn endlich die Liebe seines Lebens gefunden hat? In welchem Gespräch mit Gott sie auch immer versunken sind, es scheint vom Umfeld unbeachtet. Die Tische um sie füllen sich langsam. Wohldosierte Jazzmusik lässt die Hotelgäste im Tag ankommen. Das Saxophon-Solo mischt sich unter das sanfte Klappern von Kaffeetassen, die auf Unterteller gestellt werden. Gesprochen wird diskret, die allgemeine Aufmerksamkeit gilt dem Frühstücksbuffet – dort herrscht reger Betrieb. Je nach Essgewohnheit wählt man: Brot und Brötchen von weiss bis dunkel und von Körnern durchsetzt, Vollkorn- oder Buttergipfel, Pain au chocolat, Müsli mit Hafer- und Dinkelflocken, Weizenkeimen, mit und ohne Rosinen, Crunchy Cornflakes und Rice Crispies. Dazu Jogurts in diversen Geschmacksrichtungen und in mundgerechte Stücke geschnittene Früchte. Wurst in allen Gattungen von Fleischkäse, Leberwurst bis Salami. Käse zum Streichen, Weichkäse mit charakteristischer Rinde und «anonymer» Schnittkäse. Und vom Huhn das hart gekochte Ei oder warm gehaltenes «scrambled egg». Die kontinentale Palette ist umgeben von moderner Architektur mit glattem Steinboden und Polstersesseln in lila und pink. Und mitten in dieser unpersönlichen Wohlfühloase sitzt nun dieses Paar, wie von einer unsichtbaren Glasglocke umschlossen – und betet.
Das irgendwie Widersprüchliche in dieser Szene hat es mir angetan: Im öffentlichen Raum zelebrieren diese Leute ein intimes Ritual und gewähren dabei Unbekannten, obwohl diese das Gebet nicht hören, einen Einblick in ihr spirituelles Leben. In ihrer Andacht strahlt das Paar Ruhe aus – die Zeit scheint still zu stehen für sie. Ich erinnere mich zurück an meine Kindergarten- und Schulzeit und an Tischsituationen zu Hause bei meiner streng katholisch erzogenen Freundin. Wurde gebetet, war es still. Ernsthaft gesenkte Blicke konzentrierten sich auf den Spruch des Redenden. Da kam ich mir am Tisch jeweils fremd vor.
Bei uns zu Hause sind wir zu dankbaren und genussfreudigen Essern erzogen worden. Gott für die Speisen zu danken war dabei nie Teil unseres familiären Tischrituals. Gleichwohl wussten wir zu schätzen, was uns unsere liebe Mutter für himmlische Speisen auf den Tisch zauberte. Und diese verteidigte ich, indem ich den Moralapostel mimte: Wenn meine beiden jüngeren Schwestern partout ihre Teller nicht ausessen wollten und ich von den armen Kindern in Afrika erzählte, die froh wären, und so weiter. Auf Besuch erfährt man andere Sitten und Bräuche. Und gerade beim Essen – einem zentralen Teil im Familienleben – vermengen sich Wertvorstellungen, Erziehungsmethoden und Esskultur zu einem Eintopf, durch den man sich definiert, das Gemeinschaftliche pflegt und sich gleichzeitig von anderen abgrenzt.
Zurück zu den Betenden. Ich weiss nicht, wie viel Zeit vergangen ist, nachdem das Paar die gefalteten Hände wieder öffnet. Wie aus dem Dornröschenschlaf erwacht, beginnen Frau und Mann zu essen, wie wenn nichts geschehen wäre. Langsam wird der Berg auf ihren Tellern kleiner. Nicht wie in der Bibel gebrochen, sondern mit dem Messer in zwei Teile gesägt, verzehrt der Mann das Brötchen. Und während sich die Frau mit rot lackierten Fingernägeln eine Scheibe Wurst in den Mund schiebt, glänzt die Golduhr, die ihr dickes Handgelenk wie eine Wurstschnur abbindet. Zwischen den Brot- und Käse-Happen, die in ihren Mündern verschwinden, schnappe ich einige holländisch klingende Sprachfetzen auf. Als die Beiden erneut zum Buffet schreiten, schwebt ein feiner, kaum wahrnehmbarer Schein über ihren Häuptern. Vielleicht baten sie Gott vorhin auch einfach darum, ihnen ihre leiblichen Sünden zu vergeben…
Bild: Barbara Roelli
Ensuite, Januar 2009