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Fremde Kulturen: St. Petersburg – weis­se Nächte in der raben­schwar­zen Stadt

Von Lukas Vogelsang - Zugegeben, bei grau­em Regenwetter soll­te man nicht mit dem Flugzeug in Russland lan­den. Als ob man das wün­schen könn­te. Das Bild, wel­ches sich nach der Landung offen­bart, könn­te dadurch etwas leicht­füs­si­ger wer­den. Der über­gros­se Hut des Offiziers am Flughafen, die rosti­gen Flugzeugtreppen und die rat­tern­den Kleinbusse wir­ken beim Einzug in St. Petersburg, in die­se Achtmillionen-Stadt, bedrückend schwer.

Mein erstes Mal in Russland. Meine erste Berührung mit einer soge­nann­ten Grossweltmacht – weiss der Himmel, was hier genau die «Macht» sein soll. Ich habe mich nicht vor­be­rei­tet auf die­se drei Wochen und will ver­su­chen, Russland, oder zumin­dest die­se Stadt, zu fin­den. Die Möglichkeit, in einer Kommunalwohnung wirk­lich mit­ten im Zentrum von St. Petersburg an per­fek­ter Lage zu woh­nen, klang ver­lockend. Jetzt aber bin ich als erstes etwas ernüch­tert: Alle Bekannten haben so geschwärmt von die­ser Stadt und ich sehe momen­tan nichts Gemütliches, geschwei­ge denn Schönes hier. Es ist dreckig, grau, die Menschen schei­nen unbe­tei­ligt und es stinkt unsäg­lich nach Abgasen, Undefinierbarem und Dill.

Einen Tag spä­ter kommt dann doch die Sonne und ich ver­ste­he zumin­dest, was mit den «weis­sen Nächten» gemeint ist: Es ist 23.30 Uhr und wir spa­zie­ren mit Sonnenbrillen und 100’000 ande­ren NachtspaziergängerInnen durch die Hauptstrasse, den Nevsky Prospekt. Mit der Sonne kommt auch Schönheit – ich habe das sel­ten so deut­lich zu spü­ren bekom­men. Neben uns wett­ei­fern ein paar Jungs mit schnel­len und lau­ten Motorrädern und lie­fern sich Rennen, mit­ten in der Stadt. Es wirkt sur­re­al. Die Zeit habe ich ver­lo­ren, die Dimensionen ver­lau­fen sich und das Tempo die­ser Stadt wird immer schnel­ler. Alles dreht. Meine Wertvorstellungen kön­nen mir hier­her nicht fol­gen, mei­ne Fixierungspunkte mei­ner Weltanschauung gera­ten durch­ein­an­der – ich muss los­las­sen, sonst bekom­me ich Angst oder Durchfall.

St. Petersburg ist eine wan­deln­de Stadt. So schnell wie die Wolken über unse­re Köpfe ein­her­zie­hen, so rasch ver­än­dert sich die Rea-lität unten auf dem Boden. Es ist, als wür­de hier kein Stein auf dem ande­ren blei­ben und die Mauern sich stän­dig neu for­men. Meine Wahrnehmung und Sinnesorgane lau­fen auf Hochtouren, mei­stens aber nur, um in einer Sackgasse zu lan­den. Nichts scheint hier festen Boden zu haben und doch gibt es eine nüch­ter­ne Struktur. Mit jedem Schritt ent­decke ich mei­ne eige­nen klei­nen Illusionen und muss die­se gehen las­sen.

Wenn es in St. Petersburg reg­net, so wäscht es nicht wie bei uns den Dreck weg, son­dern bringt die­sen aus der Luft zu Boden. Das Atmen fällt einem dann schwer und der Dreck klebt an den Schuhen, den Autos und ein­fach über­all. Umweltschutz gibt es nicht hier. Vielleicht ist das ein Grund, war­um die Frauen so auf­fal­lend hohe Absätze tra­gen…

Was ein­mal auf­ge­baut wur­de, wird hier nicht gepflegt. Meine rus­si­sche Begleitung nennt es «Kultur des Zerfalls». Scherzhaft redu­zie­ren wir in der Folge das Wesen des Charakters der Russen auf eine Frage: «Wozu?»

Aber das kul­tu­rel­le Angebot: Mein Unterkiefer bleibt hän­gen. In den drei Wochen habe ich mehr Kultur erlebt und gese­hen als in den letz­ten vier Jahren. Und dies trotz mei­nes Berufs. Ich stand in Prunkgebäuden mit die­sen fas­zi­nie­ren­den Decken und Böden, sah mecha­ni­sche Springbrunnen, Kolosse von Monumenten und neben­säch­li­chen Golddekorationen. Ich war im berühm­ten Mariinsky-Theater und sah end­lich mal ein klas­si­sches, aber des­we­gen auch fass­ba­res und wohl­tu­en­des Ballett, und ging an einen Festivalabend der klas­si­schen Musik mit dem St. Petersburger Symphonieorchester. Von den Museen, allen vor­an dem Hermitage-Museum (der Exklusivführung für uns), und den Kirchen mal ganz zu schwei­gen. Dazu roch ich Dill und noch­mals Dill, die Ladas und Land Rovers und liess mich von rus­si­schen Kamikaze-Mücken ste­chen. Vergeblich such­ten wir aber ein anstän­di­ges rus­si­sches Restaurant.

Spannend war die Arbeit mit der loka­len Kulturagenda – wie ich es in jeder Stadt zu pfle­gen hege. Wir hat­ten meh­re­re Exemplare zur Auswahl, aber die­se waren nicht sehr ergie­big. Entweder waren sie unvoll­stän­dig oder unüber­sicht­lich oder dann ver­fehl­ten sie die Funktion als Wegweiser und trie­ben uns mehr­heit­lich zum näch­sten DVD-Verkaufsstand, wo wir uns älte­re rus­si­sche Filmperlen zum Spottpreis kauf­ten. Nicht das nichts läuft in die­ser Stadt – aber Übersichtlichkeit ist so ein Thema. Noch hängt die Jugend haupt­säch­lich in der Gotik-Szene oder in düste­ren Elektrokellern – doch eine eige­ne Pop-Kultur, wie wir sie ken­nen, ist der­zeit weni­ger spür­bar. Wille wäre da, aber kein Geld. Dafür habe ich noch nie so ame­ri­ka­ni­sier­te Radiostationen gehört wie in St. Petersburg. Da wur­de bereits um neun Uhr mor­gens das neu­ste Album von «Alice in Chains» als neu­ster Hype vor­ge­stellt – eine ame­ri­ka­ni­sche Band, die bei uns am Rande erwähnt wird.

Sowieso ist der Hype um den Hype all­ge­gen­wär­tig. Vor erst 18 Jahren zer­brach der 70-jäh­ri­ge eiser­ne Vorhang. Seither ist der täg­li­che Kampf, eine eige­ne Identität auf­zu­bau­en oder zu erhal­ten, das Tagesgeschäft. Gelten ist wich­tig, Prestige ist Gesetz – wer nicht mit­macht, hat nichts zu sagen und ist nichts wert. Aber anders als in ande­ren Ländern emp­fand ich die Russen nicht als arro­gant – ein­fach igno­rant –; ein klei­ner aber wich­ti­ger Unterschied. Wer aller­dings die Geschichte betrach­tet, ver­steht die­se Folge nur zu gut: Der Sozialismus hat kei­ne sozia­len Menschen her­vor­ge­bracht, son­dern den Appetit nach Individualismus uner­träg­lich aus­hun­gern las­sen. Und das wird jetzt nach­ge­holt. Die weni­gen, die zum rich­ti­gen Zeitpunkt zuge­schla­gen haben, pro­fi­tie­ren und mel­ken die Kuh, bis sie ver­trock­net am Boden liegt. Wozu sich sozi­al anstel­len?

Was viel­leicht nega­tiv klin­gen mag, mei­ne Reise war eine der ein­drück­lich­sten ihrer Art. Auch wenn vie­les schwie­rig zu ver­ste­hen ist, so fühl­te ich im direk­ten Vergleich, zurück in der Schweiz, was die Faszination Russland aus­macht: die Intensität. Als ich um 23.30 Uhr in Bern aus dem Bahnhof kam, sah ich für gan­ze fünf Minuten kei­nen Menschen und kein fah­ren­des Auto vor­bei­zie­hen. Es war still und es roch nach nichts. Mir kam es vor, als wäre Bern eva­ku­iert wor­den und nie­mand hät­te was gesagt. So unwahr­schein­lich es klingt: Ich ver­mis­se den fürch­ter­li­chen Dill-Geruch und den Dreck. Ich habe mich leben­dig gefühlt in St. Petersburg und will sicher wie­der zurück.


Musikalische Trouvaillen Nach lan­ger Suche (Russen hören kei­ne rus­si­sche Musik, wie uns ein CD-Verkäufer erklär­te) fand ich ein paar aktu­el­le Highlight-Bands. Alina Orlova zum Beispiel wird in Kürze wohl auf inter­na­tio­na­lem Parkett ste­hen. Sie ist zwar ursprüng­lich aus Vilnius in Litauen, doch wur­de ihr Erstling in St. Petersburg auf­ge­nom­men und in England abge­mischt. Sie spiel­te die Vorgruppe am Nik-Cave-Konzert in Piter (Abkürzung von St. Petersburg) und hat von der Phrasierung der Stimme eine Ähnlichkeit mit unse­rer Sophie Hunger. Unbedingt anhö­ren (www.myspace.com/alinaorlova). Eher von der lusti­gen Seite kom­men Markschneider Kunst mit «Café Babalu» daher, eine Party-Band mit den übli­chen Polkas; und ich müss­te mich schwer täu­schen, aber für mich klang das eher nach per­fek­ten Latin-Rhythmen (www.mkunst.ru, unter «Media» gibt’s ein paar schö­ne Videos…). «Dolphin» ist der Hype in Piter für die Elektroszene (offi­zi­el­le Seite http://dolphinmusic.ru). Und etwas Schickimicki: Dsh-Dsh! (Disch-Disch gespro­chen) ist eine Gruppe aus Moskau, die vor allem in der Lounge-Szene bekannt ist. Soll zum guten Ton gehö­ren – ich fand, dass der eine oder ande­re Ton noch etwas geübt wer­den müss­te. Aber – wer etwas davon ver­steht – die Texte sind ganz lustig… (www.myspace.com/dishdishband)

Bild: Blick von der Kolonnade der Isaakievskij-Kathedrale / Foto: Lukas Vogelsang
ensuite, August 2009