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Finis Terrae – Auf Weltreise am Filmfestival in Locarno

By Andy Eglin

Was unter­schei­det Ferien von einer Weltreise? – Urlauber besu­chen meist einen Fluchtort, in des­sen Umkreis sie Land und Leute erkun­den. Oder der Zauber des Altbekannten hält an, man erwar­tet ein­mal mehr Sommerfrische und Erholung.

Weltreisende öff­nen sich dage­gen zeit­lich und weit­lich ungleich mehr, sie las­sen sich auf Risiken und Nebenwirkungen ein, für die kein Apotheker Rat weiss. Eine Weltreise ver­langt nach Entscheidung. Man bekennt sich zum Unbekannten. Das Ende ist nicht abzu­se­hen. Vielleicht kommt alles ganz anders, als man nicht mehr denkt. Weltreisende haben eine abso­lut­e­re Lebenshaltung: Man wagt sich hin­ein und hin­aus. Man lernt Lieben und Fürchten.

So ähn­lich ver­hält es sich jeden August wie­der am Filmfestival in Locarno. Es gibt die Urlauber als Zaungäste, gebän­digt durch Schleusen der Organisatoren, die sich den Abendfilm vor­neh­men als kuli­na­ri­sches Häppchen. Nicht im Grotto, son­dern auf der Piazza. – Und es gibt Süchtige des Kinos, die wir uns frei­wil­lig trotz Sonnenschein (dies­mal Regenwetter) in dunk­le Säle hin­ein­set­zen, um uns zu berau­schen und zu ver­lie­ben. Oder zu bestür­zen. An der magi­schen Vielfalt. Am Unendlichen. Wir blei­ben vor Ort und rei­sen doch um die gan­ze Welt. Keiner ist nach­her der­sel­be wie zuvor. Warum die­ses Erschauern, war­um die­se Sucht? – Was macht den Film nicht nur zur sieb­ten, son­dern zur Kunst aller Künste, wor­in auch alle ande­ren Platz haben? – Es sind jeden­falls nicht die Events, die mit dem Erfolg von Locarno jedes Jahr noch zuneh­men, von mehr­heit­lich Mitläufern mit Filmkultur ver­wech­selt.

Lucy (Luc Besson, Frankreich 2014)

Es ist auch kei­ne euro­päi­sche «Kiste» von Hollywoods Gnaden wie Luc Bessons Lucy, der dies­jäh­ri­ge Eröffnungsfilm unter dem Mond und Campanile. Es sind nicht Industrieproduktionen aus einer Albtraumfabrik mit gro­tes­kem Aufwand für Autojagden und Mordorgien, wor­über man als Heldin noch das lieb­rei­zen­de Gesicht der Kindfrau Scarlett Johansson stülpt und futu­ri­sti­sches Horrorgenre designt. Wonach der Mensch nur 20% sei­ner Hirnmasse akti­viert: Was wäre, wenn er 100% nutz­te? – Eine Pseudofrage zu einem Pseudothema als pseu­do-phi­lo­so­phi­sche Legitimation für teu­ren visu­el­len Aktionismus, der auf erfolg­rei­che Vorläufer schielt wie Kill Bill (2003) von Quentin Tarantino mit Uma Thurman. Nein, von die­sem Erschauern nur am Nervenkitzel schrei­be ich hier nicht. Solche Sucht gehört in die Game Industry, bit­te weni­ger auf die Leinwand.

Viel Konstruiertes, wenig Verdichtetes

Was ich hier zu beschrei­ben ver­su­che ist das mög­li­che Unmögliche: Dass ein Film als Kunstprodukt den­noch den Schauer der Wirklichkeit trifft, an wirk­lich gros­se Gefühle anzapft. Dass beweg­te Bilder bewe­gen, nicht nur über­flu­ten, als ver­dich­te­te Geschichten, Metaphern einer exi­sten­zi­el­len, uni­ver­sel­len Wahrheit. Verdichtung hat sehr viel zu tun mit Sinnlichkeit: Kunst als Anregung der Sinne. Erst erwach­te Sinne erge­ben einen Sinn und Zusammenhang, der nicht nur ein kon­stru­ier­ter ist, eine Kopfgeburt von Schreibtischtätern auch der Filmbranche. Nehmen wir als oft gezeig­tes Beispiel das Meer. Es steht fürs Unendliche, für das nie­mals zu klä­ren­de Geheimnis des Lebens, das uns eben­so anzieht wie äng­stigt. Die nicht zu fas­sen­de, stets beweg­te Körperlichkeit ent­rücken­der Wellen wird von Filmemachern gern benutzt als ‚Gratiskulisse›, dem aber nur die wenig­sten Geschichten gerecht wer­den.

Der Anspruch an Dichte und Wirklichkeit, ob eine Filmgeschichte glaub­wür­dig wird, meint nicht nur die Materie. Auch Visionen, Hirngespinste, das Innenleben der Figuren einer Geschichte haben teil an deren Verdichtung, ob dem Zuschauer ein Film unter die Haut geht. Fiktion und Dokumentarisches flies­sen inein­an­der. Dieses Jahr ver­such­ten sich in Locarno drei Filme am Kosmos und Topos ‚Meer›:

Cure – The Life of Another (Andrea Štaka, Kroation / Schweiz 2014)

Heilung als eine ande­re spielt 1993 kurz nach dem Ende des Balkankriegs. Die Hügel über dem präch­ti­gen Dubrovnik, obwohl Weltkulturerbe, im Krieg beschos­sen, sind noch ver­mint. Ein gefähr­li­cher Spielplatz für die 14-jäh­ri­ge Linda und ihre neue Freundin Eta, für ihre erwa­chen­de Sexualität. Linda ist aus der Schweiz über­sie­delt zu ihrem Vater, einem kroa­ti­schen Arzt. Bei einem Spaziergang der bei­den Mädchen, die sich gegen­sei­tig eben­so anzie­hen wie sie riva­li­sie­ren, gera­ten sie über den Klippen in Streit. Linda stösst im Affekt Eta in die Tiefe, wobei die­se zer­schmet­tert. Hier ver­lässt der Plot jede Bodenhaftung, auch jeden sinn­li­chen Bezug zum Meer. Der Film trieft nur noch von Schwermut und über­la­de­ner Symbolik. Indem sich Linda bei den vom Krieg all­zu sicht­lich gezeich­ne­ten Angehörigen der Verunglückten selbst als Eta aus­gibt. Die Last ihrer Schuld in ein­ge­bil­de­ten Vexierbildern, ver­ket­tet mit dem nahen Trauma des Kriegs, ist kaum aus­zu­hal­ten, so wenig kann man sie glau­ben. Das Problem sind nicht die Visionen als etwas wir­re Introspektion in eine eben­so gepei­nig­te wie ego­zen­tri­sche Mädchenseele, son­dern das Versagen der Regie im Moment nach dem ‚Todessturz›. Denn auch ‚fil­mech­te› Verzweiflung geht ganz nahe ran: Man kann den Tod eines eben noch Lebenden zuerst nicht glau­ben, muss ihn sel­ber phy­sisch nach­voll­zie­hen durch die Berührung der Leiche, ver­sucht noch wach­zu­rüt­teln, da jemand bereits ewig schläft. Das pas­siert nicht. Wir erfah­ren wenig über den wei­te­ren Verbleib der toten Freundin, von kei­ner poli­zei­li­chen Untersuchung. Wir sehen nur immer ein schö­nes Mädchen (Sylvie Marinkovič) und die blaue Adria als Todesstätte – so unwirk­lich wie geschön­te Postkarten.

Yalom’s Cure – Eine Anleitung zum Glücklichsein (Sabine Gisiger, CH 2014)

Auch im Porträtfilm über den 80-jäh­ri­gen ame­ri­ka­ni­schen Psychiater und Bestsellerautor Irvin D. Yalom spielt das Meer eine Hauptrolle bei der Visualisierung von Seelenzuständen. Der Erfinder einer ‚exi­sten­zi­el­len Psychotherapie› spa­ziert nicht nur ger­ne ent­lang der licht­glit­zernd mäch­ti­gen Brandung. Er taucht auch in sie ein, schnor­chelt durch die Korallenriffe bei Hawaii. Die phy­si­sche Verbindung zum exi­sten­zi­ell­sten Element der Elemente, zum Urweiblichen und Unbewussten wäre somit da, wür­de die­se Unmittelbarkeit nicht wie­der neu­tra­li­siert durch zuviel an Distanz, die auch eine der Elite ist. Der von Stanford eme­ri­tier­te Professor sagt zwar eini­ge wun­der­ba­re Sachen, sieht sich als Reiseleiter sei­ner Patienten. Mit einem schrieb er gar gemein­sam ein ‚Logbuch› ihrer Therapie, das zu einem Standardwerk der wis­sen­schaft­li­chen Literatur gewor­den ist: Everyday Gets a Little Closer (1974). Er rech­net sich auch sel­ber zum all­ge­mei­nen Leiden: «Wir sind alle Patienten» und bedau­ert, dass das Instrument der Psychoanalyse jede Verliebtheit zer­stö­ren muss, wäh­rend ‚Liebe›, auch die sei­ne, nur über­lebt als bewuss­te Entscheidung zwei­er durch ‚das Meer des Ungewissen› stets getrennt blei­ben­der Kontinente. Trotz Buchtiteln wie Momma and the Meaning of Life (1999) und Staring at the Sun: Overcoming the Terror of Death (2008) hält er das Konzept der Distanz gegen jede Verschmelzung auf­recht. Als hät­te sich die von ihm geför­der­te Gruppentherapie nicht um kör­per­ori­en­tier­te Therapien zur Integration und Befriedung des Leidens am Tod erwei­tert. Auch der Film fragt nicht nach, son­dern hul­digt dem Schopenhauer zitie­ren­den ‚Philopsychologen›.

So wir­ken die schön­sten Bilder vom Meer den Gedanken auf­ge­setzt. Die Gischt springt nicht über. Der gepfleg­te Film bleibt trotz einer Intro von über­ir­di­scher Schönheit als Versprechen – der Hafeneinfahrt von New York mit Ellis Island,
wo die Eltern von Irvin D. Yalom aus Polen ein­wan­der­ten, aka­de­misch ste­ril.

Fidelio – l’Odyssée d’Alice (Lucie Borleteau, Frankreich 2014)

Auf der Suche nach einem alle fil­mi­schen Sinne erre­gen­den Werk, geprüft an der Darstellung des Meeres und Letztendlichen, wer­de ich auch die­ses Jahr fün­dig. Schon 2013 war in Locarno der Dokumentarfilm Leviathan (Lucien Castaing-Taylor/Véréna Paravel, USA 2012) zu sehen über einen Kutter der US-Fischereiindustrie vor der Küste Mains. Ein Auftragsfilm des «Sensory Ethnography Lab» der Universität Harvard. Die audio­aku­sti­sche Sensation im rau­en Wellenschlag auf hoher See aus dem Bauch eines stamp­fen­den «Wals» ver­flach­te aller­dings in ihrer gespen­sti­schen Wiederholung. Die New York Times schrieb dazu: «Conveys the bru­tal toll that the enter­pri­se takes on the workers and on the oce­an, and it could even be read as an envi­ron­men­tal para­ble in which the sea threa­tens to exact its reven­ge on huma­ni­ty.» – Was dem Ungeheuer Leviathan auf See im bra­chia­len Lärm des Maschinenraums noch fehl­te, erwei­ter­te die jun­ge Regisseurin Lucie Borleteau mit der Figur der attrak­ti­ven Bordingenieurin Alice (Ariane Labed) auf dem Tanker Fidelio um den Spannungsbogen eines rea­li­sti­schen Spielfilms zu einer auch licht­vol­len Endzeiterfahrung der Ozeane. Wobei sie die bis­her von Männern besetz­te ero­ti­sche Freiheit der Matrosen auch einer Frau zuge­steht. Bemerkenswert ist dabei weni­ger die­se Handlung vom Dilemma des Menschen zwi­schen Lust und Liebe, als die gelun­ge­ne kino­sinn­li­che Verdichtung von Zeit und Raum. Mehr geht nicht auf dem Weltmeer in Locarno.

: http://www.kulturkritik.ch/2014/finis-terrae-auf-weltreise-am-filmfestival-in-locarno/