- ensuite | kulturagenda | enBlog - https://ensuite.we-are.gmbh -

Ficken, das

Von Frank E.P. Dievernich – Lexikon der erklä­rungs­be­dürf­ti­gen Alltagsphänomene (XX)*: Ooops, was ein Wort! Und gleich zu Beginn eines neu­en Jahres, wel­ches doch noch so ganz jung­fräu­lich ist. Und über­haupt: in einer Kolumne über Alltagsphänomene in betrieb­li­chen, orga­ni­sa­tio­na­len Kontexten. Ist da nicht etwas ver­rückt? Wie pein­lich ist das denn? Und wenn es schon um Sexualität gehen soll, war­um dann nicht einen vor­neh­me­ren, seriö­se­ren und ange­pass­te­ren Begriff wäh­len. Warum nicht: Geschlechtsverkehr, (der)? – Nein, es geht genau dar­um. Um das Derbe in Organisationen. Um das Abgedeckte, aber doch stets Präsente, um das Brutale. Um das, was in der Alltagssprache als «gefickt wer­den» benannt wird. Organisationen sind wah­re Fickmaschinen – jen­seits jeder Sexualität, und eben jen­seits des Geschlechtsverkehrs, den vie­le nur dank der Organisation, in der sie behei­ma­tet sind, voll­zie­hen dür­fen. Wie schnell wird aus dem Kollegen der Partner und, um ein Klischee zu bedie­nen, aus der Sekretärin die Geliebte. Das sind aber nur die Kollateralschäden, die das täg­li­che Ficken, respek­ti­ve gefickt wer­den durch die Organisation aus­löst. Es ist die pure Langeweile, die uns als Menschen inner­halb der Organisationen näher bringt – eben weil Organisationen viel zu lang­wei­lig für das sind, was wir von ihnen eigent­lich erträu­men und erhof­fen. Also nut­zen wir die Gelegenheit und suchen das Menschliche, qua­si um das Ganze aus­zu­hal­ten. Es ist ja nicht lustig, stän­dig gefickt zu wer­den (also, gemeint im oben dar­ge­stell­ten Umgangsjargon). Organisationen kön­nen gar nicht anders als einen ficken, da sie anders funk­tio­nie­ren als Menschen. Sie repro­du­zie­ren sich über die Individuen hin­weg. Diese sind es näm­lich, die sich plötz­lich an orga­ni­sa­tio­na­le Routinen hal­ten und dabei an Fahrt gewin­nen, so dass man mei­nen kann, sie stel­len sogar die bes­se­ren Organisationen dar. Oder haben Sie jemals eine Organisation gese­hen, die sich wirk­lich nach den Menschen rich­tet? Letztendlich stel­len, wie das der Soziologe Dirk Baecker vor Jahren for­mu­liert hat, Menschen nichts ande­res dar, als einen Nachschub, damit Organisationen bestehen kön­nen: Krankenhäuser brau­chen kran­ke Menschen, Hochschulen brau­chen bil­dungs­il­lu­so­re Menschen, Armeen brau­chen poten­ti­ell tot­ge­weih­te Menschen. Sie brau­chen vor allem eines nicht: Menschen ohne ein Attribut. Das Krankenhaus inter­es­siert der Gesunde nicht, der Hochschule ist die Bildung egal, und das Militär liebt Konflikte, in denen es sich posi­tio­nie­ren kann. Voilà. Was dabei ver­lo­ren geht ist die Liebe, also der Zustand der mensch­li­chen Illusion, dass es um mehr geht. Hat man die­sen Mechanismus ver­stan­den, oder zumin­dest, hat man geahnt, dass es in Organisationen dar­um nicht geht und sie sich dage­gen per­ma­nent ver­schlies­sen, dann ahnt man, wie frisch gefickt man täg­lich ist. Die wirk­li­che Götterdämmerung ent­steht aber erst an die­ser Stelle; wenn man bemerkt, dass man selbst eine Fickmaschine der Organisation gewor­den ist, also, wenn man weiss, dass man für die Organisation nichts bedeu­tet, sei­ne Seele und Sinnzuschreibung die­ser aber gewid­met hat, und fröh­lich erzählt, dass das, was die Organisation will, wirk­lich auch das ist, was man selbst will. An genau die­ser Stelle, wenn man also merkt, dass man zu sich selbst nicht mehr zurück kann, dass die Organisation von einem Besitz genom­men hat, ohne dass man das eigent­lich will, ist man der/die Gefickte. Dort, wo der Weg nun ver­stellt ist, beginnt man selbst die ande­ren zu ficken, also Organisationsverstärker zu sein und eine Koalition mit der Organisation ein­zu­ge­hen, weil man nichts ande­res mehr hat. Das färbt dann auch auf die Sprache ab, wenn z.B. Vertriebsleute (oder Aufsichtsratsmitglieder, oder Kaderleute, etc.) davon zu faseln begin­nen, dass «der Konkurrent mal wie­der rich­tig gefickt gehört». Wenn dann die­se Aggression beginnt, sich auf Menschen und KollegInnen («die Maier gehört mal wie­der rich­tig gefickt») zu über­tra­gen, dann ist nicht mehr gut Kirschen essen.

Da Kennzahlen ein belieb­tes Steuerungsinstrument von Organisationen sind, soll­te an die­ser Stelle eine neue Kennzahl ein­ge­rich­tet wer­den, qua­si als Frühwarnsystem: der soge­nann­te Fick-Parameter. Dieser setzt sich wie folgt zusam­men: Im ersten Stadium fin­det eine Zuwendung auf mensch­li­cher Ebene statt, da die Organisation nur lan­ge­weilt, nicht mehr her­aus­for­dernd ist; eine resi­gna­ti­ve Unzufriedenheit macht sich breit, man sucht den Ausweg in mensch­li­cher Wärme. Dauernd von der Organisation gefickt zu wer­den ist nicht lustig, man hält es aber durch amou­rö­se Zustände aus. Das ist Stufe Gelb. Im zwei­ten Stadium soll­te dar­auf geach­tet wer­den, wie oft das Wort «ficken» in Organisationen auf­taucht (natür­lich gel­ten auch Formulierungen wie z.B. «der oder die müss­te mal so rich­tig hart ran­ge­nom­men wer­den»). Steigt die Nennung auf ein min­de­stens täg­li­ches Mass, so dürf­te Stufe Orange erreicht sein. Steigt zudem die Häufigkeit von tat­säch­li­chen sexu­el­len Verhältnissen in der Organisation, die vor­nehm­lich aus purem Sex bestehen, und das par­al­lel zur zuvor genann­ten ver­ba­len Ausdrucksform, so dürf­te dies als Kompensationsform des täg­lich aggres­si­ve­ren orga­ni­sa­tio­na­len Gefickt-wer­dens hin­deu­ten. Es han­delt sich hier um die Fortsetzung mit kör­per­li­chen Mitteln. Stufe Rot ist hier mitt­ler­wei­le erreicht. Bevor das Ganze aber ex- oder implo­diert (das ist immer von der jewei­li­gen Perspektive abhän­gig) soll­ten vor allem Führungskräfte, die mei­nen, sie sei­en noch für Organisationen ver­ant­wort­lich, dafür sor­gen, ein Gegenmittel anzu­wen­den. Die gan­ze Fickerei muss doch mal ein Ende haben. Das aber geht wohl nicht, ohne zu ficken. Doch nun mal anders her­um. Ficken wir doch mal unse­re Organisationen. Das geht! Probieren Sie als Gegengift doch mal Liebe und Sinn aus. Damit kön­nen Organisationen nun wirk­lich nicht umge­hen. Wenn wir Menschen also nun unse­re Organisationen mit viel Liebe und mit der Sinnfrage quä­len, stö­ren wir ihren rei­nen Vollzugsprozess, wir berei­ten Ihnen einen Koitus Interruptus aller ersten Güteklasse. Wir zwin­gen sie, lang­sa­mer zu wer­den, wir zwin­gen sie, sich damit aus­ein­an­der­zu­set­zen was wir wol­len, wir zwin­gen sie zu ver­ste­hen, dass sie genu­in immer noch die Produkte unse­rer selbst sind, denen wir zu viel Autonomie zuge­stan­den haben. Organisationen sol­len sich ruhig repro­du­zie­ren, sie sol­len aber nicht auf Teufel komm raus alle ficken. Mehr Liebe als Sex im rei­nen Vollzugsmodus wür­de uns allen gut tun, dann wür­de auch das rei­ne Ficken zur Abwechslung wie­der mehr Spass machen. Probieren Sie es aus!

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2013