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Etwa eine Million

Von Peter J. Betts – Etwa seit einer Million Jahren gibt es die Gattung Mensch. Eine Million schafft es heu­te kaum mehr bis in die Tagesnachrichten, wo ech­te Werte in Geld gemes­sen wer­den. Wenn ein Veltliner Bauarbeiter, der im grenz­na­hen Graubünden drei­tau­send Franken im Monat ver­dient, behaup­tet, das sei ein guter Lohn, weil er zu Hause für die glei­che Arbeit nur etwa einen Drittel erhiel­te, wür­de heu­te ein Grossteil von uns – ich spre­che nicht über die statt­li­che Anzahl von Milliardären – für die­sen «guten» Monatslohn höch­stens ein müdes Lächeln übrig haben. Übrigens: der Arbeitstag des erwähn­ten Bauarbeiters, Arbeitsweg ein­ge­schlos­sen, dau­ert fünf­zehn Stunden – ein Nichts, gemes­sen an einer Million von Jahren der Menschheitsgeschichte. Als der Mensch begann, die­sen Planeten zu bevöl­kern, war der Dinosaurier schon seit fünf­und­sech­zig Millionen Jahren aus­ge­stor­ben, nach­dem er wäh­rend rund hun­dert­fünf­und­sech­zig Millionen Jahren die Erde bevöl­kert hat­te. Eine Million gemes­sen an hun­dert­fünf­und­sech­zig Millionen? Mehr als nichts? Spürbar? Der Mensch: wohl von Anfang an ein Auslaufmodell mit Kurzzeitaufenthaltsbewilligung, nicht zuletzt, weil er die glei­che Intelligenz, die ihm ermög­licht, in für ihn eigent­lich unbe­wohn­ba­ren Gebieten zu gedei­hen, eif­rig dazu nutzt, sich sei­ner Lebensgrundlagen irrever­si­bel zu berau­ben. Eine Evolutionspanne? Das Wollhaarmammut, ein Jagdtier zur Zeit der Höhlenbewohner, wie es ihre Höhlenzeichnungen ver­mu­ten las­sen, starb gegen Ende der letz­ten Eiszeit aus; das erste aus­ge­stor­be­ne Tier, des­sen Erbgut man zu einem beacht­li­chen Teil kennt. Starben zu vie­le als Opfer der Jagd? Folge einer zu raschen Klimaveränderung? Nahm die Geburtenrate zu sehr ab? Eine Evolutionspanne? Auf sei­ner Reise um die Welt (Januar 1832 – Oktober 1836) schloss der jun­ge Charles Darwin aus sei­nen Beobachtungen und Untersuchungen, dass nicht Futtermangel oder karg wer­den­de Weidegründe zum Aussterben einer Gattung füh­ren, so wenig wie Überfluss an köst­li­cher Nahrung zu deren Überleben bei­tra­ge. (Unter dem Titel «Voyage of the Beagle» gab «Pengiun Classics» 1989 den etwas gekürz­ten Text des 1839 erschie­nen Forschungsberichtes des Naturforschers her­aus.) Das Auswerten der unwahr­schein­lich gros­sen Zahl von Beobachtungen, Funden, Präparaten, skiz­zier­ten Schlussfolgerungen, Vergleichen mit Ergebnissen ande­rer Forscher soll­te Darwin bis zu sei­nem Lebensende (1882) beschäf­ti­gen, und dien­te selbst­ver­ständ­lich auch als Grundlagen für sein Werk «On the ori­gin of spe­ci­es by means of natu­ral sel­ec­tion». Von Genomen, vom Begriff Erbgut wuss­te Darwin nichts. Mittlerweile haben die Wissenschaftler fast drei Viertel des Erbgutes des Wollhaarmammuts ent­deckt, so viel, dass es schon in greif­ba­re Nähe zu rücken scheint, das Wollhaarmammut zu klo­nen, denn «es hät­te in Russland für vie­le Mammuts Platz» … Das Rad der Geschichte lässt sich zurück­dre­hen? Von Gentechnologie wuss­te Darwin nichts. Was hät­te er davon gehal­ten, dass man eine aus­ge­stor­be­ne Spezies wie­der­be­le­ben will? Zum hun­dert­sten Jahrestag von Amundsens Erreichen des Südpols beschreibt Hanna Wick in der NZZ vom 14. Dezember, was sich heu­te wis­sen­schaft­lich am Südpol tue. Amundsen wuss­te nicht, dass Tausende Meter unter sei­nen Füssen Flüsse und Seen leb­ten; genau so wenig wie Darwin eine Ahnung von der Bedeutung von DNA hat­te. Es waren mehr als sech­zig Jahre nach Amundsens Erreichen des Pols Radaraufnahmen aus der Luft, deren Interpretation auf die­se Flüsse und Seen schlies­sen liess. Bisher konn­ten die Gewässer nur indi­rekt unter­sucht wer­den, und man weiss wenig Genaues über deren Chemie und Biologie. Drei Forscherteams aus Russland, Grossbritannien und den USA suchen nach Klärung. Übrigens: die Expedition der «Beagle» (Spürhund) war nicht auf rei­nen wis­sen­schaft­li­chen Hunger zurück­zu­füh­ren, son­dern war im Interesse der Königlichen Admiralität: genaue kar­to­gra­phi­sche Abklärungen gal­ten als sehr wich­tig ange­sichts der stra­te­gi­schen, d.h. wirt­schaft­li­chen Bedeutung des Raumes zwi­schen England, Afrika, Südamerika, Hawaii, Neukaledonien, Australien, Neuseeland, Seychellen, Kapstadt, London; schein­bar wert­freie geo­lo­gi­sche und bio­lo­gi­sche Erkenntnisse erwie­sen sich erst spä­ter als äus­serst lukra­tiv, die Expedition der «Beagle» hat­te sich öko­no­misch mehr als nur gelohnt. Vor etwa vier­zehn Millionen Jahren schloss sich das Eis über dem Wostoksee nahe des Südpols. Er ist der gröss­te der bekann­ten sub­gla­zia­len Seen in der Antarktis. Fast vier­tau­send Meter ist das rus­si­sche Team durch die Eisdecke gedrun­gen; bis zur Wasseroberfläche feh­len noch dreis­sig Meter, die mit gröss­ter Vorsicht und raf­fi­nier­ten Methoden bewäl­tigt wer­den sol­len, damit das Gewässer nicht von aus­sen kon­ta­mi­niert wer­de. Was die Forscher beson­ders anzieht ist auch die Überlegung, dass die Seen schon seit Millionen von Jahren von der Aussenwelt abge­schnit­ten sind, dass sich also noch völ­lig unbe­kann­te Spuren von Leben, etwa Pollen und Bakterien, aus dem Schmelzwasser in den See hin­ein geschwemmt, mög­li­cher­wei­se fin­den las­sen, dass die Evolution dort völ­lig ande­re Wege genom­men haben könn­te. Der uns recht ver­trau­te Gang der Entwicklung, der auch zu uns als Gattung führ­te, hät­te auch anders aus­fal­len kön­nen. Oder mit Brecht: «Es geht auch anders, aber so geht es auch.» Seit mehr als zehn Jahren suchen und fin­den die Antarktis-teams bereits in den Eisbohrkernen Spuren von Leben und höchst auf­schluss­rei­che Informationen über die diver­sen Klimaveränderungen, ein Rückblick von über vier­hun­dert­tau­send Jahren. Darwin stan­den weder Radiokarbon-Datierung, noch die ver­schie­de­nen Methoden der Isotopenuntersuchung, noch Radar, Echolot und so wei­ter zur Verfügung. Natürlich hat­te auch er ver­schie­de­ne Instrumente: Mikroskop, Lupen, Fernrohr, Spaten, Fässer mit kon­ser­vie­ren­den Lösungen, Sezierwerkzeug und so wei­ter. Seine wohl taug­lich­sten Instrumente waren aber sei­ne Neugier, sein Interesse, sein Kombinationsvermögen, sei­ne Ausdauer, sein Verstand. In unglaub­lich kur­zer Zeit und mit nicht weni­ger unglaub­li­chem Gespür fand er Skelette aus­ge­stor­be­ner Tiere oder Teile davon; ver­moch­te in einer Gegend, in der kei­ne Pferde gewe­sen sein konn­ten uralte Skelette von Pferdevorfahren zu fin­den, schloss dar­aus auf frü­he­re Landbrücken zwi­schen Kontinenten; fand bei gros­sen Vierbeinern her­aus, wovon sie sich ernährt haben moch­ten, wie kärg­li­ches Gestrüpp ihrem Gedeihen nicht nach­träg­lich gewe­sen war. Er war auch ein her­vor­ra­gen­der Verhaltensforscher, beob­ach­te­te – zwölf Seemeilen vom Ufer ent­fernt – wie sich klei­ne Spinnen in der Luft aufs Schiff zu beweg­ten, als könn­ten sie – wie übers Wasser – auch in der Luft «gehen», durch unheim­lich rasche Beinbewegungen und mit Hilfe aus­ge­stos­se­ner Spinnfäden, die­se als Segel ver­wen­dend, um die lei­se­sten Luftströmungen zu nut­zen; er inter­pre­tier­te auch, wie sie sich auf festem Boden ver­hiel­ten. Er ent­setz­te sich über Sklavenhaltung und Genozid an Indianern, hielt aber die Zivilisation eng­lisch-phil­an­thro­pi­scher Prägung für die ide­al­ste Form mensch­li­chen Zusammenlebens. Seine Kultur: er beob­ach­te­te und begann dabei zu ver­ste­hen. Wie dies wohl auch das rus­si­sche Team in der Antarktis wird tun kön­nen. Der Blick zurück, um das Jetzt zu ver­ste­hen? Heute nimmt der Druck auf die Wissenschaft zu, sofort ver­wend­ba­re Entdeckungen, Sofortlösungen für gesell­schaft­lich anste­hen­de Probleme auf dem Servierbrett zu lie­fern. Wirtschaft und Medien drän­gen. Geld lockt. Der Blick in die Zukunft mit stän­dig kom­ple­xe­ren tech­no­kra­ti­schen Instrumentarien scheint vor­dring­lich. Ein erfolg­rei­cher Verdrängungsmechanismus, um sich nicht dem Hier und Jetzt stel­len zu müs­sen? Ein gehetz­ter Wandel in der Wahrnehmungskultur? Vielleicht nicht ganz unge­fähr­lich. Darwin ging es um das Verstehen. Wir pfle­gen mehr­heit­lich ein ande­res Kulturverständnis: wir beob­ach­ten oder den­ken, um zu pro­fi­tie­ren.

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2012