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Er hat sich immer stand­haft

Von Peter J. Betts – «Er hat sich immer stand­haft gewei­gert, einen der vie­len vom Personalamt orga­ni­sier­ten Kommunikations- oder Gesprächsführungskurse, offi­zi­ell eine Massnahme der ‹frei­wil­li­gen› Weiterbildung, zu besu­chen», sag­te ein mir bekann­ter ehe­ma­li­ger Chef – nen­nen wir ihn P – über sei­nen Stellvertreter – nen­nen wir ihn P1. Jugendstarrsinn? Schüchternheit? Faulheit? Misstrauen? P sel­ber besuch­te fleis­sig und frei­wil­lig die­se «frei­wil­li­gen» Weiterbildungsangebote. Er hät­te, sag­te er, immer gros­se Mühe gehabt, kon­struk­tiv zusam­men­zu­ar­bei­ten mit den Kolleginnen und Kollegen aus ande­ren Verwaltungseinheiten, die sich unter­ein­an­der mühe­los, quer über alle Fachgebiete hin­weg zu ver­ste­hen, abzu­spre­chen oder zu ver­stän­di­gen schie­nen – in einer durch­aus ver­traut klin­gen­den Sprache, die aber für ihn wäh­rend der paar Jahrzehnte sei­ner Tätigkeit in der Verwaltung, ein Minenfeld ihm völ­lig frem­der Codes dar­stell­te und unver­ständ­lich blieb. Zwei grund­sätz­lich ver­schie­de­ne Kulturen. Auf Parallelebenen, die – theo­re­tisch – ein­an­der nie schnei­den kön­nen soll­ten. P, also von aus­sen in den Verwaltungsapparat gekom­men, erleb­te sich bis zum Schluss als Aussenseiter. Wie kann man als Aussenseiter in einer anschei­nend (schein­bar?) homo­ge­nen Gruppe, deren Ziele unver­rück­bar klar fest­ge­legt schie­nen, eine Botschaft ein­brin­gen, und wäre sie, wenig­stens für die mei­sten, noch so wich­tig, wären die durch sie erschliess­ba­ren Möglichkeiten noch so nötig? P hat­te sich immer vor­ge­stellt, die ver­schie­de­nen Verwaltungseinheiten sei­en Teil einer grös­se­ren Gemeinschaft und in deren Auftrag tätig. So hat­te er auch sich selbst begrif­fen. Er hat­te aber nicht begrif­fen, dass die ein­zel­nen Fachgebiete völ­lig auto­nom und aus­schliess­lich die Interessen des Fachgebietes, genau­er: sei­ner Vertreterinnen und Vertreter, ver­folg­ten, und zwar als Fundamente ihres per­sön­li­chen Prestiges und Gewichtes im Machtkampf gegen die ande­ren. Die Codes: als Basis der Verständigung zwi­schen den ein­zel­nen Kampfgruppen, damit letzt­lich – die Interessen der grös­se­ren Gemeinschaft hin oder her – jede krieg­füh­ren­de Partei sich ihre Scheibe an Bedeutsamkeit abschnei­den konn­te und nie­mand unter den Kombattanten zu Schaden kam, blie­ben ihm unver­ständ­lich, weil er von ande­ren Voraussetzungen aus­ge­gan­gen war. Der Hauptcode lau­te­te: «Wir spre­chen von der Gemeinschaft und mei­nen uns.» Niemand rühr­te an die­sem Code, und die Gemeinschaft hat­te davon kei­ne Ahnung, nicht zuletzt, weil sie dar­an glaub­te, die Fachstellen han­del­ten tat­säch­lich in ihrem Interesse und Auftrag. P war und blieb naiv. Gesprächs- und Kommunikationskurse wür­den sei­ne Defizite kom­pen­sie­ren, dach­te er. P glaub­te an den Lernstoff der Weiterbildungskurse, und wenn das Gelernte wie­der am Minenfeld schei­ter­te, dach­te P, der näch­ste Kurs wer­de ihn wei­ter in Richtung gegen­sei­ti­ger Verständigung füh­ren. «Damals», so P, «hat­te sich das Personalamt sozi­al gesinnt gege­ben.» Eigentlich die gan­ze Verwaltung. Alle waren zum Beispiel dazu auf­ge­for­dert, auch Behinderte in ihre Arbeitseinheiten zu inte-grie­ren. Es blieb in den mei­sten Fällen bei der Idee: das Arbeitspensum muss­te bewäl­tigt wer­den, und Behinderte benö­ti­gen in der Regel mehr Zeit; man hät­te also mehr Personal ein­stel­len müs­sen, was nicht dem jewei­lig tole­rier­ten Prestige-Stellenwert einer bestimm­ten Abteilung ent­spro­chen hat­te und des­halb nicht ermög­licht wur­de, sonst wäre ja das labi­le Gleichgewicht inner­halb der gesam­ten Verwaltung ins Wanken gera­ten; aus­ser­dem hät­ten die den ein­zel­nen Abteilungen fest zuge­wie­se­nen Räumlichkeiten per­so­nel­len Zuwachs nicht erlaubt. Eine schö­ne und rich­ti­ge Idee im Grundsatz, auf dem Papier und in der öffent­li­chen Diskussion durch­aus real. Imagefördernd. Und in den kom­men­den bes­se­ren Zeiten auch in Wirklichkeit rea­li­sier­bar. Vorläufig galt aber das Motto: «Den guten Gründen müs­sen bes­se­re wei­chen.» Auch das: Teil des Codes. Und heu­te: Gewinnmaximierung das ein­zi­ge akzep­tier­ba­re Ziel. Selbst Spitäler ver­ste­hen sich aus­schliess­lich als «Profit Units». Lücken aus frü­he­ren Zeiten zu schlies­sen, loh­ne sich nicht und stün­de im Widerspruch zu den neue­sten – Erkenntnissen. Die Kolleginnen und Kollegen aus den ande­ren Verwaltungseinheiten waren nett zu P, lach­ten ihn nicht aus, waren sogar müt­ter­lich oder väter­lich zu ihm: P stell­te für sie kei­ne Bedrohung dar. Kein Michael Kohlhaas. Übrigens, glau­be ich, hat George Orwell in «Animal Farm» P por­trä­tiert, und zwar in der Figur des Pferdes «Boxer». Man lese die erschüt­tern­de Szene nach, in der Boxer meint, im Transportfahrzeug des Pferdeschlächters auf die Weide mit saf­ti­gem Gras für alt­ge­dien­te Tiere geführt zu wer­den. P1, sag­te P, sei enorm ein­fühl­sam, bele­sen, das Gelesene ver­ste­hend. Jedes Buch habe ihm Welten erschlos­sen. Noch heu­te schrei­be er ein­drück­li­che Besprechungen über anschei­nend wenig zugäng­li­che Werke. In der heu­ti­gen Zeitungslandschaft fin­de er aber immer weni­ger Möglichkeiten, die Texte unter­zu­brin­gen. Aber die­se Form der Auseinandersetzung mit Literatur ermög­li­che P1, nach wie vor – unan­ge­foch­ten sei­ne Funktion in der Abteilung zu erfül­len. «Er hat sich immer stand­haft gewei­gert, einen der vie­len vom Personalamt orga­ni­sier­ten Kommunikations- oder Gesprächsführungskurse zu besu­chen. Er hat das Wort ‹frei­wil­lig› ernst genom­men. Im Gegensatz zu allen übri­gen, die in stil­ler Übereinkunft das Wort so ver­ste­hen, wie es gemäss Code gemeint ist.» Jugendstarrsinn? Schüchternheit? Faulheit? Misstrauen? Stoisch ertra­ge er auch heu­te noch sein Image als ver­schlos­se­ner, wenig kom­mu­ni­ka­ti­ver Funktionär. Vor ein paar Tagen sass ich auf der klei­nen Schanze, nicht in Strassburg, son­dern beim Denkmal für Oskar Bider. Die Bronzefigur hat Grünspan ange­setzt, die Schrift auf dem Sockel ist kaum mehr ent­zif­fer­bar. Sie erin­nern sich: Tuchhändlersohn, der hät­te Landwirt wer­den wol­len; vom Absturz des 23-jäh­ri­gen Chavez über Domodossola nach der Alpenüberquerung zur Fliegerei hin­ge­zo­gen; Schweizerisches Pilotenbrevet Nr. 32; Flugpionier mit eini­gen Erstflügen und Rekorden; Alpenüberquerung Bern – Domodossola – Mailand; erster Alpen-Flug mit Passagier (Warum lässt Kuoni nach dem phan­ta­sti­schen Geschäftsjahresabschluss 2008 nicht hier wenig­stens die Denkmalinschrift restau­rie­ren?); töd­li­cher Unfall in Dübendorf, was einen natio­na­len Trauertag aus­löst; usw. Ich sit­ze also lesend vor dem Bider-Denkmal, freie Sicht auf die Alpen, und schlag­ar­tig wird mir vor Augen geführt, war­um P1 kei­ne Kommunikations- und Gesprächskurse besucht hat: Ein leger und zugleich adrett geklei­de­ter jün­ge­rer Mann, gesti­ku­lie­rend und redend, flie­gen­den Schrittes in Begleitung einer jün­ge­ren Frau, ver­deckt mir die Aussicht auf die Alpen. Archaisches Rollenspiel, aktua­li­siert? Was er aus­ge­rech­net unmit­tel­bar vor mir zur fas­zi­niert lau­schen­den Dame sagt: «Ich habe in der Gruppe wert­schät­zen­den Austausch instal­liert.» Ein for­scher Kommunikationsberater: Offensichtlich bar jeg­li­cher Selbstzweifel, frag­los dem Fortschritt ver­pflich­tet – ohne Rücksicht auf Verluste. Der wird kaum je abstür­zen, weder über Domodossola noch über Dübendorf. «Wertschätzender Austausch», hat er gesagt. Und den hat er «instal­liert». Nein, P1 hat sich nicht aus Jugendstarrsinn, Schüchternheit, Faulheit, Misstrauen stand­haft gewei­gert, je einen Gesprächsführungs- oder Kommunikationskurs zu besu­chen. Aus Weisheit hat er es getan!

ensuite, Mai 2009