Einsicht statt Licht

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Von Pedro Lenz – Schliessen Sie die Augen, jetzt, ein­fach so, wo immer Sie gera­de sind. Ja, schlies­sen Sie die Augen und falls Sie bloss ein klein wenig Vorstellungsvermögen haben, wird Sie das Gefühl befal­len, Sie befän­den sich auf einer Insel. Es ist Ihre per­sön­li­che Insel, eine Insel, deren Ränder durch Geräusche, Gerüche, Gedanken und eine Menge ande­rer Eindrücke defi­niert sind.

Vom 12. Februar bis zum 27. März 2010 brau­chen Sie die Augen nicht zu schlies-sen, um die­ses Inselgefühl zu erlan­gen. Dann lädt näm­lich das Restaurant Blinde Insel in der Grossen Halle der Berner Reitschule jeweils von Mittwoch bis Samstag zu einem kuli­na­risch kul­tu­rel­len Erlebnis ein. In völ­li­ger Dunkelheit ser­vie­ren blin­de und seh­be­hin­der­te Menschen ein schmack­haf­tes 3‑Gang-Menu, das immer von aus­ge­wähl­ten regio­na­len Profis mit fein­sten, eben­falls regio­na­len Produkten zube­rei­tet wird. Bereits zum sech­sten Mal wird die­ser Anlass gemein­sam vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband und von der Trägerschaft Grosse Halle orga­ni­siert.

Freilich spricht die­ses beson­de­re Wirtshaus nicht bloss die kuli­na­ri­schen Sinne der Gäste an. Auch die kul­tu­rel­len, öko­lo­gi­schen und poli­ti­schen Sinne sol­len ange­regt und ver­fei­nert wer­den. Im Zentrum des Projekts steht ein ganz beson­de­rer Sinn: der Sinn für den Klimawandel. Verschiedene bekann­te Autorinnen und Autoren haben exklu­siv für die Blinde Insel Texte zum Thema Klimawandel ver­fasst und auf Band auf­ge­nom­men. Den Anfang macht Franz Hohler mit sei­nem Stück «Von Kühen und Knechten». Ausserdem zu hören sind die wohl­be­kann­ten Stimmen von Grazia Pergoletti, Endo Anakonda, Ros-witha Dorst & Bernd Rumpf, Johanna Lier und mei­ner Wenigkeit. Jeden Abend wird einer der rund zehn­mi­nü­ti­gen Texte zum Menu ein­ge­spielt.

In den fol­gen­den Ausführungen will ich kurz über mei­ne Arbeit am Text zur dies­jäh­ri­gen Blinden Insel berich­ten. Für mich als Autor sind Textaufträge nor­ma­ler­wei­se der blan­ke Horror. Allein der Gedanke, mit dem, was ich schrei­be, frem­de Erwartungen erfül­len zu müs­sen, macht das Schreiben zur Folter. Die Themen, die mir zuge­tra­gen wer­den, sind in den sel­ten­sten Fällen deckungs­gleich mit den Themen, die mich in mei­ner täg­li­chen Arbeit beschäf­ti­gen. In die­sem kon­kre­ten Fall ver­hält es sich jedoch anders. Giorgio Andreoli, der für die Blinde Insel auf Textfang geht, konn­te mich durch sei­ne unauf­ge­reg­te Art pro­blem­los zum Mitmachen bewe­gen. «Schreib uns bit­te ein­fach einen Text zum Thema Klimawandel», sag­te mir Andreoli vor ein paar Wochen, als wir uns auf der Strasse begeg­ne­ten, fast bei­läu­fig. Und weil er die­se Bitte so nor­mal und so selbst­ver­ständ­lich vor­brach­te, habe ich mich hin­ge­setzt und ver­sucht, genau so nor­mal und selbst­ver­ständ­lich über die­sen Klimawandel zu schrei­ben. Und anders als sonst, wo ich erst stun­den- und wochen­lang grüb­le und mich ärge­re, bevor ich den ersten Satz zu Papier brin­ge, fing ich ein­fach an. Meine ersten Gedanken krei­sten um’s Klima und um’s Wetter und dar­über, wie wir über’s Wetter reden:

«Was wot­ter für morn?
Wär, wär wott öppis?
Eh, dä vom Wätter. Was wot­ter?
Was wei si? Was hei si gseit?
Morn schön, am Morge schön,
für morn wot­ter schön,
aber am Obe bewöukt,
und nächär schi­ins Räge,
wenns wür­klech wohr isch.
Mir gsehs de,
gseh de früeh gnue.
ob si rächt hei.
Es stimmt sowie­so fasch nie,
meisch­tens isches nid eso.
Aber es heis aui gseit.

Nach die­sem Anfang, ver­such­te ich mich an Diskussionen über das Wetter in frü­he­ren Zeiten zu erin­nern. Hier kam das Klima ins Spiel. Das Klima meint ja, nach Schuldefinition, die Gesamtheit aller an einem bestimm­ten Ort mög­li­chen Wetterzustände über eine län­ge­re Zeitdauer. So ver­such­te ich mir vor­zu­stel­len, wie mei­ne Grossmütter über das Wetter rede­ten:

Und Schnee hets aueb gha
und chaut isches aube gsi
und gluft­et hets aube
aber hütt,
hütt gits kener Wintere meh.

Hierauf begann ich zu recher­chie­ren. Ich erin­ner­te mich vage an eine Abstimmung vor vie­len Jahren, als wir hier im Unterland noch dar­über dis­ku­tier­ten, ob es gut sei, wenn ein­fach alle Bergkurorte mit Kanonen Schnee erzeu­gen kön­nen. Irgendwie glaub­te ich mich dar­an zu erin­nern, dass dies­be­züg­li­che Einschränkungen beschlos­sen wur­den. Dann frag­te ich mich, ob das alles noch eine Rolle spielt, nach Kopenhagen, ob das über­haupt noch jeman­den inter­es­siert, jetzt, da es hier wie­der Schnee gibt im Winter. Der Text begann zu stocken. Die Informationen, die Assoziationen, die Zusammenhänge, alles begann mich zu blen­den. Und in die­sem Geblendetsein fiel mir die Blinde Insel wie­der ein. Ich leg­te den Text bei­sei­te und beschloss, mich spä­ter wie­der dahin­ter­zu­ma­chen, zu rhyth­mi­sie­ren, wei­ter­zu­den­ken.
Spätestens Mitte Februar wird der Text auf­ge­nom­men sein. Die Leute wer­den ihn sich im Dunkeln anhö­ren. Vielleicht wer­den Sie, lie­be Leserinnen und Leser dort sit­zen, in der Blinden Insel, bei einem Glas Wein und einem fei­nen Abendessen. Im Hintergrund wird die Tornado-Maschine von Renato Grob und Lisette Wyss das Wetter machen. Ich wün­sche jetzt schon Appetit und Einsicht.


Besagte «Blinde Insel» fand 2010 in der gros­sen Halle der Reitschule statt. Das letz­te Mal ging der Event 2015 von stat­ten.

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2010

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