Eine Utopie für die digi­ta­le Gesellschaft

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Von Dr. Regula Stämpfli - Die Zukunft ent­schei­det sich dar­an, wie über sie gere­det wird. Seit eini­gen Jahren über­tref­fen sich pro­mi­nen­te Männer dar­in, Angst- und Horrorszenarien an die Wand zu malen. Das Böse ver­kauft sich ein­deu­tig bes­ser als das Gute. Das Böse ver­steckt sich auch ger­ne im Guten, und so brau­chen wir nicht lan­ge, um bei Goethe zu lan­den, der Mephistopheles sagen lässt: «Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.»

Die digi­ta­le Zerstörung unter kapi­ta­li­sti­scher Hegemonie ist so eine Kraft. In den gegen­wär­ti­gen Revolutionen begin­nen sich Ideen her­aus­zu­kri­stal­li­sie­ren, die das Ende der Geschichte regel­recht pro­pa­gie­ren. Anthropozän nen­nen die Jungs die men­schen­ge­mach­te Ewigkeit und lie­gen dabei völ­lig dane­ben. Denn die Zukunft wird nicht menschen‑, son­dern maschi­nen­ge­macht sein, wes­halb sich mein Begriff des DATA-ZÄN (von 2007) viel eher auf­drän­gen wür­de. Denn die Ideen und Theorien, in Zahlen ver­packt, gestal­ten die rea­le Welt – nicht die Menschen.

Die Zukunft wird nicht nur dadurch gemacht oder ver­hin­dert, wie dar­über gere­det wird, son­dern wer dies tut. Als ich 2013 in einem TEDx-Talk von sexi­sti­schen Algorithmen rede­te, erklär­ten mich eini­ge für ziem­lich ver­rückt. Fünf Jahre spä­ter ver­geht kein Tag, an dem nicht über den «algo­rith­mic bias» – das rech­ne­ri­sche Vorurteil – geschrie­ben wird. Vor lau­ter Formeln wer­den aber dabei meist die dahin­ter­stecken­den Gesellschaftsapparaturen über­se­hen.

Eine Utopie für eine digi­ta­le Gesellschaft küm­mert sich näm­lich immer gleich­zei­tig um Codes, Coders und Finanzen. Eine Utopie beschäf­tigt sich nicht in erster Linie mit selbst­fah­ren­den Autos, son­dern damit, wie die Welt auto­frei gemacht wer­den kann. Eine Utopie für die digi­ta­le Gesellschaft küm­mert sich nicht in erster Linie um Effizienz, son­dern um die Bedingungen für Lebendigkeit. Zukunft gibt es nur bei Freiheit, Variation, Offenheit, Nicht-Determiniertheit.

Der Philosoph Richard David Precht küm­mert sich nun als einer der weni­gen Denker um Utopie statt nur Zukunftstechnik und tut dies unter dem marx­schen Titel: «Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digi­ta­le Gesellschaft». Den klu­gen Precht, der auch hoch­kom­ple­xe Zusammenhänge bril­lant erzählt und vor­trägt, inter­es­sie­ren hier Politik, Menschenbild und Technik als Kultur.

«Die bun­ten Gesellen, vom Sturmwind ver­weht, die Glückssucher mit Plastiktüten, Kopftüchern und Kunstlederjacken, die ihre üblen Erfahrungen und uner­füll­ten Träume mit­brin­gen, sind kei­ne Ursache von irgend­et­was, son­dern die Folge unse­res Wirtschaftens, sind Folge von unglei­chen Lebenschancen und Ressourcen. (…) Glauben sie (Trump‑, AfD- und SVP-Wählende, Anm. laStaempfli) wirk­lich, wir bekom­men eine Globalisierung de luxe? Nur die Sonnenseite und nicht die Schatten? Europa als digi­ta­les Schlaraffenland? Eine Kultur- und Denkmalschutzoase für über­al­ter­te, schön­heits­ope­rier­te User und Konsumenten? (…) Der Markt ebnet alles ein, Geld kennt kei­ne Vaterländer und kei­ne Muttersprache.» (S. 88–94)
Precht blüht in sei­nem neu­en Buch rich­tig­ge­hend poli­tisch auf. Nur punk­to Frauen bleibt er stumm oder strecken­wei­se sogar etwas bös­ar­tig. So meint er in der Einführung zur Utopie: «Die klu­gen Tiere lern­ten nicht, dass ihr Wert und der Sinn ihres Lebens nicht von ihrer Arbeit abhin­gen, obgleich sie dies den müs­sig­gän­ge­ri­schen Frauen der Begüterten schon lan­ge hät­ten abschau­en kön­nen.» Dass die Arbeit der fau­len Frauen rei­cher Typen meist dar­in besteht, Körper, Denken, Sprache, Kleidung, Kultur, den Gang, ja das eige­ne Sein aus­schliess­lich in den Dienst des Besitzers, sprich des rei­chen Typen zu stel­len und sehr anstren­gend ist, ver­kennt Precht. Aber dies sei ihm ein­mal ver­zie­hen, eben­so wie sein idio­ti­scher Satz, dass nichts so zur Emanzipation bei­geträ­gen habe wie die Waschmaschine. Dies ist schlicht blöd. Also abge­se­hen davon, dass er von Frauen, Emanzipation und weib­li­che Sichtbarkeit null Ahnung hat, bril­liert Precht dafür in sei­nem Entwurf zum bedin­gungs­los garan­tier­ten Grundeinkommen.

«Die Welt der Erwerbsarbeit ist schon lan­ge nicht mehr das, für das Gegner des Grundeinkommens sie hal­ten. Und zwi­schen Lohnarbeit und Anerkennung liegt in der deut­schen Realität des Jahres 2018 ein gros­ses UND. (…) Unterspült durch pre­kä­re Beschäftigungsverhältnisse – Minijobs, Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit, unbe­zahl­te Praktik usw. sind tat­säch­lich weder Lohnarbeit, Sozialstaat noch Anerkennung gewähr­lei­stet.» (S. 141)

Precht demon­tiert alle, die Leistung prah­len, in Wahrheit vor allem Bullshit-Jobs ein­rich­ten. Precht zeigt auch, wie die Alten den Jungen damit jede Perspektive und Zukunft ver­bau­en. Aus mei­ner Sicht hängt dies mit der Omnipräsenz eini­ger Alt-68er zusam­men, die als gewan­del­te «lin­ken Rechte» oder «rechts­grus­li­ge Linke», Kultur, Politik und Wirtschaft immer wie­der ver­gif­ten. Die Typen kom­men immer­hin ab und an dank #MeToo dran, doch tum­meln sie sich immer noch in den mei­sten Entscheidungspositionen. Gestützt wer­den sie näm­lich oft durch ihre Ehefrauen und Mittäterinnen – sie­he Literaturnobelpreis-Komitee. Doch die­ser pole­mi­sche Einwurf mei­ner­seits nur so neben­bei.

Precht wider­legt in sei­nem Buch alle Argumente gegen das bedin­gungs­lo­se Grundeinkommen. Er tut dies sehr ein­drucks­voll gut. Ob die alten Bösen ihm aber des­we­gen bes­ser zuhö­ren? Wohl kaum. Denn Richard David Precht erfreut zwar sei­ne Leserinnen und sei­ne Zuhörer, doch poli­tisch sind sei­ne Vorschläge noch nie rea­li­siert wor­den. Sie haben nicht ein­mal einen Agenda-Setting-Effekt. Obwohl sei­ne Vorschläge durch­aus prak­ti­ka­bel, ver­ständ­lich und für die Demokratie echt gut wären. Weshalb dem wohl so ist? Dies könn­te dar­an lie­gen, dass Precht viel Kluges schreibt, dies aber nicht so meint. So dür­fen sich alle dabei wohl füh­len. Richard David Precht bedient mit sei­nen kla­ren Analysen und poli­ti­schen Vorschlägen das schlech­te Gewissen der Mächtigen, sie erfreu­en sich an sei­ner Kritik und benut­zen ihn gleich­zei­tig als Aushängeschild dafür, nichts zu tun. Denn wer Precht zur Jahresversammlung ein­lädt, kann ja kein Böser, kein wirk­li­cher Abzockerkapitalist sein. Deshalb tin­gelt Precht über­all: bei Big Business, Versicherungen, Banken, Industrien, Fernsehen, Philosophie-Kongressen etc. Er ist ja auch wun­der­bar klug. Dass er dabei als Feigenblatt für das Nicht-Handeln dient, wird ihm sel­ber wohl am wenig­sten klar sein. Dafür ist er viel zu ange­passt.

Dies min­dert aber sein neu­es Buch kei­nes­wegs. Denn zwi­schen all den cle­ve­ren Sätzen leuch­tet mir auch punk­to Islamismus to go (mein Begriff für den Medien-McDjihad) ein Argument beson­ders ein: «Und wenn unser Christentum die Freiheit inzwi­schen gou­tiert, dann nur, weil die Philosophen der Aufklärung es bei Androhung sei­ner völ­li­gen Auflösung dazu gezwun­gen haben.» (S. 93)

Yep. Bang. Super. Nur so wird auch der Islam Freiheit und Frauenrechte gou­tie­ren kön­nen. Es braucht eine Androhung der Auflösung und nicht ein Assimilieren des Schreckens. Vielleicht soll­te man dies mal den Marketing-Hashtag-Fetischistinnen, die sich «Feministinnen» nen­nen, deutsch und deut­lich sagen. Obwohl … sie wür­den die Analogie nicht ver­ste­hen, dafür reicht ihr rosa Gender-Geist wohl kaum. «Der Islam kennt den Angriff des glo­bal-libe­ra­len Kapitalismus auf sei­ne kul­tu­rel­le Identität schon seit vie­len Jahrzehnten. Ausser Tyrannen, Trittbrettfahrern, Trotz und Terror ist ihm dazu bis­lang wenig ein­ge­fal­len.» (S.94) Dem ist wenig mehr bei­zu­fü­gen.

«Jäger, Hirten, Kritiker» ist sehr unter­hal­tend, span­nend und Ansporn für ein gutes Leben.

Richard David Precht, Jäger, Hirten Kritiker. Eine Utopie für die digi­ta­le Gesellschaft. Goldmann 2018, 284 Seiten.

 

 

Dr. phil./Dipl. Coach Regula Stämpfli ist Politologin und Bestseller-Autorin («Die Vermessung der Frau»).

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