Eine Tournee leben – Teil 2

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Von Albert le Vice

PARIS

Ein Gastspiel will geplant sein – eigent­lich muss es vor­ge­fühlt sein. Man muss bei­spiels­wei­se im Voraus bestim­men, wie lan­ge es dau­ern soll; man muss wis­sen, wo das Theater auf­ge­baut wer­den kann, man muss spü­ren, wo die Leute ger­ne sind, und man muss auch im Voraus abschät­zen kön­nen, wie gross der Zuspruch des Publikums etwa sein könn­te. Und das zwingt einen, genau hin­zu­schau­en, auf­merk­sam hin­zu­hö­ren:

Auf das Verhalten der Menschen in der Fussgängerzone, auf den Ton der Verkäuferinnen in den Läden, auf die Art, wie die «Höckler» in der Beiz mit­ein­an­der spie­len und reden, auf die Bereitschaft, den Plakatverträger wohl­wol­lend anzu­se­hen, oder ihn schroff abzu­put­zen. Es gibt tau­send

AVIGNON

Unscheinbarkeiten, die Auskunft über das Befinden einer Stadt geben. Auf sie zu ach­ten haben wir täg­lich und aus nahe­lie­gen­dem Interesse gelernt. Daraus haben wir unser Feeling ent­wickelt.

Die Stadt ist fas­zi­nie­rend. Für ein schie­fes Theater macht es einen gros­sen Unterschied, ob es in Berlin (mit Mauer) spielt, oder in Frankfurt. Die Gelöstheit der Studenten in Aachen unter­schei­det sich von der Leere in Hamburgs Innenstadt am Abend.

Die fei­ne Freundlichkeit Nürnbergs ist was ganz ande­res als die grob­schläch­ti­ge Münchens. Die Basler fin­den das Leben «fein», wie sie sagen, und

MÜNCHEN

die Zürcher mei­nen, selbst Witze kau­fen zu kön­nen. Daneben Paris, das Weltstadt-Dorf mit den tau­send­fäl­ti­gen, nicht sel­ten luschen Beziehungen, und das neben Locarno, das sei­nen Polizeichef gleich sel­ber den Ast absä­gen lässt, der irgend­wem im Wege ist.

Das ist Stadt. Und mit die­ser Realität hat sich ein schie­fes Theater auf Tournee real aus­ein­an­der zu set­zen. Denn die­se Realität und der Umgang mit ihr bestim­men zu einem guten Teil den Erfolg eines klei­nen Theaters, das sich dem Leben einer frem­den Stadt aus­setzt.

STUTTGART

Die Realität «Theater-Truppe» Als Theater sie­ben Jahre lang auf Tournee zu sein, heisst, gemein­sam mit zwei, manch­mal drei Menschen eine Art von Leben zu tei­len, die gewag­ter, unsi­che­rer, unvor­her­seh­ba­rer, kurz aben­teu­er­li­cher nicht sein kann.

«Leben tei­len» sage ich bewusst, denn es geht hier nicht bloss um das pro­fes­sio­nel­le Bewältigen eines abwechs­lungs­rei­chen Projekts, son­dern um das gemein­sa­me Leben eines Werks durch vier Personen. (Übrigens, wenn ich von drei oder vier Personen spre­che, so hat das damit zu tun, dass unse­re Truppe manch­mal drei Mitglieder umfasst, manch­mal vier. Während den

NÜERNBERG

ersten drei Tournee-Jahren sind wir zu dritt, nach­her zu viert – zwei Männer, zwei Frauen, die mit der Zeit zu Paaren und irgend­wann zu Ehepaaren wer­den.) Eine Theater-Truppe wie das schie­fe Theater ist viel­leicht am ehe­sten mit einem Streichquartett zu ver­glei­chen, in dem ja die ein­zel­nen Mitglieder äus­serst sen­si­bel auf­ein­an­der ach­ten müs­sen, was sie natür­lich auch für Alltagsprobleme emp­find­lich macht. Das kann dann auch schwie­rig sein.

FRANKFURT

Bei einem schie­fen Theater auf sei­nen lan­gen Reisen kom­men, situa­ti­ons­be­dingt, noch eini­ge wesent­li­che Aspekte erschwe­rend hin­zu. Auf sie möch­te ich jetzt, wo es um die Realität einer sol­chen Truppe geht, etwas näher ein­ge­hen:

Grundsätzlich ist für das Gedeihen einer guten Truppe Voraussetzung, dass sich die ein­zel­nen Mitglieder gegen­sei­tig nicht bloss mögen, respek­tie­ren und ach­ten, sie müs­sen dar­über hin­aus mensch­lich har­mo­nie­ren wie ein Streichquartett, dann aber mit unend­lich vie­len zusätz­li­chen Hindernissen fer­tig wer­den, die im Musikbetrieb durch ande­re Institutionen arbeits­tei­lig über­nom­men wer­den, und erst noch abge­si­chert sind mit Geld im Hintergrund.

DÜSSELDORF

Genau hier liegt der gros­se Unterschied zu einem schie­fen Theater. Dieses ist Künstler-Ensemble, Agentur, Handwerkercrew, Werbebüro, Buchhalterei, Risikomanagerin, Lebens- und Schicksalsgemeinschaft in einem. Eines hängt da vom andern ab, jeder ein­zel­ne Bereich, jede ein­zel­ne Person kann das Ganze gefähr­den – oder erfolg­reich wer­den las­sen.

Von sei­ner Struktur und sei­ner Komplexität her ist die­ses Theater als öffent­li­che Institution poten­ti­ell fort­wäh­rend bedroht – nicht zuletzt auch durch die bana­le Tatsache, dass kei­nes sei­ner Mitglieder ein­fach so ersetzt wer­den kann.

BERLIN

Doch, was heisst dies alles für das eigent­li­che Leben in einem sol­chen Theater? Es heisst wohl in erster Linie (und das klingt banal), dass das Zusammengehen in jedem ein­zel­nen Fall extrem seri­ös und ver­ant­wor­tungs­voll bedacht sein will – und zwar von jedem der spä­te­ren Truppenmitglieder. Denn, wohl­ver­stan­den, hier spie­len Gesetzmässigkeiten eine Rolle, die wir eigent­lich vom Verliebtsein her ken­nen.

Allerdings, Kopflosigkeit liegt in unse­rem Fall nicht drin.

Dabei ist ja die Schwierigkeit beim Entscheiden die, dass erst im all­täg­li­chen

HANNOVER

Umgang mit­ein­an­der und den anfal­len­den Problemen ersicht­lich wird, ob das gefor­der­te Zusammenspiel auch tat­säch­lich klappt. Die Truppe hat sich etwa Folgendes zu fra­gen: Kann Liselotte ver­han­deln? Kann es Monica? Können Dominique und ich, bei­de kei­ne Handwerker, ein zwölf Tonnen schwe­res Gefährt bau­en? Wie reagiert wer, wenn in Paris eine Pleite droht? Was geschieht, wenn plötz­lich jemand krank wird? Wer lie­fert die trag­fä­hi­gen Ideen? Wer ent­schei­det, was gut ist; wer, was pro­du­ziert wer­den kann? Wie gehen wir damit um, dass wir unse­re Freunde daheim in der Schweiz las­sen müs­sen? Und wie sieht das mit dem impro­vi­sier­ten Wohnen auf die Dauer aus? Fragen, Fragen, Fragen.

HAMBURG

Im Grunde sind eigent­lich nicht die im Voraus gege­be­nen Antworten auf die­se Fragen ent­schei­dend, son­dern eine gewis­se inne­re Bereitschaft, eine Offenheit und Zuversicht, sich immer wie­der sol­che Fragen zu stel­len und auf gute Weise damit umzu­ge­hen. Auf gute Weise? Wahrscheinlich heisst das «wohl­wol­lend». Wohl wol­lend dem Gegenüber, Wohl wol­lend dem Ganzen. Destruktives, Rächendes, Wehtuendes hat in den Auseinandersetzungen (die sich zwangs­läu­fig ein­stel­len wer­den) im Leben einer sol­chen Truppe mit Sicherheit nichts zu suchen.

LUENEBURG

Und die­ses Bewusstsein muss wohl jedes Mitglied als eine Art von Charaktereigenschaft mit­brin­gen. Eine sol­che Truppe setzt ein Verhalten vor­aus, eine Grundeinstellung, die das gute Gelingen will, eine Einstellung, die sich bei­na­he kind­lich am Gelingen einer Geschichte freut. Damit Sie sich jetzt, lie­be Leserin, lie­ber Leser, ein kon­kre­tes Bild über einen Tourneetag des schie­fen Theaters machen kön­nen, hier die Beschreibung eines sol­chen in Nürnberg im Frühjahr 1972.

Das schie­fe Theater befin­det sich auf­ge­baut auf dem Hauptmarkt, in unmit­tel­ba­rer Nähe des «schö­nen Brunnens».

BREMEN

Wir woh­nen ganz in der Nähe im Heilig Geist-Spital, das zu jener Zeit ein Studentenwohnheim ist. Monica ist bereits am frü­hen Morgen nach Frankfurt gefah­ren. Sie hat einen Termin beim Kulturdezernenten (dem Kulturminister der Stadt), will ihm unser Theater vor­stel­len, über eine gute Platzierung des Theaters in der Innenstadt ver­han­deln und her­aus­fin­den, wel­che Möglichkeiten das Kulturdezernat sieht, uns in Kulturkreisen bekannt zu machen. Er könn­te ein guter Türöffner sein, Monica hat bereits eine gute Ahnung von den Platzverhältnissen in Frankfurts Innenstadt und sie weiss natür­lich, wel­che Plätze sieh für ein Gastspiel eig­nen und wel­che nicht. Sie kann also mit­re­den.

MÜNSTER

Und wie es bei sol­chen ersten Kontakten mit den Behörden so ist, weiss sie, dass der Kulturdezernent geeig­ne­te Plätze wahr­schein­lich nicht sel­ber bewil­li­gen, aber der zustän­di­gen Behörde eine Bewilligung emp­feh­len kann. Solches ist sehr wich­tig.

Wir in Nürnberg, also Liselotte, Dominique und ich tref­fen uns zum Mittagessen in einem Balkan-Restaurant am Hauptmarkt (die Balkanküche zie­hen wir der deut­schen vor). Was wir am Vormittag zu erle­di­gen gehabt haben, haben wir «daheim», also in unse­rer Studentenbude erle­digt: Druckvorlagen fürs Frankfurter Plakat vor­be­rei­ten, Texte für die Presse

DORTMUND

schrei­ben, die Buchhaltung nach­füh­ren, das eine oder ande­re in der Stadt ein­kau­fen gehen. Nach dem Mittagessen sind Dominique und ich bereits im Theater, hei­zen als erstes ein (es ist Anfang März). Liselotte küm­mert sich um die Verbreitung unse­rer Handzettel. Sie sucht öffent­li­che Institutionen auf, füllt dort lee­re Stapel nach, sucht nach neu­en, geeig­ne­ten Auslageplätzen und hängt da und dort Plakate auf, wo es noch kei­ne hat. Gegen Abend kehrt sie zu uns zum Abendessen im Theater zurück. In der Zwischenzeit arbei­ten Dominique und ich an unse­rer näch­sten Nummer, das heisst, wir tüf­teln an einem wich­ti­gen Requisit für

BONN

die Waschmaschinengeschichte. Und weil Requisiten im schie­fen Theater nie bloss Staffage son­dern wich­ti­ge Handlungsträger sind ist bereits das Handwerkliche Teil der spä­te­ren Geschichte auf der Bühne. Requisiten sind folg­lich oft kom­pli­zier­te Dinger, deren Herstellung meist Jahre bean­sprucht. (Übrigens: die Waschmaschinengeschichte müs­sen wir, bei­na­he büh­nen­reif, am Ende der Tournee unge­spielt liqui­die­ren!)

Am Abend (mitt­ler­wei­le ist es etwa 18 Uhr gewor­den, Monica ist zurück aus Frankfurt, im Theater ist das wich­tig­ste für die Vorstellung bereit) essen wir gemein­sam etwas Leichtes. (Mit vol­lem Magen zu spie­len ist sehr hin­der­lich.) Während des Essens, die Abendkasse ist bereits geöff­net,

KÖLN

erzählt uns Monica von ihrem Tag in Frankfurt, das eine oder ande­re wird spon­tan dis­ku­tiert. Jetzt ist das schie­fe Theater erst­mals kom­plett heu­te.

Ab 19 Uhr zie­hen sich Dominique und ich auf die Bühne zurück, berei­ten noch eini­ge Kleinigkeiten vor, über­prü­fen, ob auch das Hinterletzte tat­säch­lich funk­tio­niert und sich am rich­ti­gen Ort befin­det (wäh­rend der Vorstellung muss sol­ches blind greif­bar sein, nicht zuletzt drum, weil Kostüm- und Requisitenwechsel meist im abso­lu­ten Dunkel zu gesche­hen haben), schmin­ken uns, zie­hen die Bühnenkleider an. Die letz­te hal­be Stunde

AACHEN

kon­zen­trie­ren wir uns auf die Vorstellung. Zur glei­chen Zeit bedient Liselotte die Kasse und Monica besorgt den Einlass des Publikums, ver­kauft Programmhefte.

Sind die letz­ten Zuschauerinnen im Theater, schliesst Liselotte ihre Kasse und steigt zu uns hin­auf, hin­ter die Bühne. Heute assi­stiert sie (es könn­te auch Monica sein). Sie ist also für alles zustän­dig, was hin­ter und neben der Bühne eine Rolle spielt. Mit andern Worten, sie ist die drit­te Spielerin des schie­fen Theaters – unsicht­bar zwar, aber unver­zicht­bar. Derweil sitzt Monica im Zuschauerraum, bereit, immer dann aktiv zu wer­den, wenn im Publikum Unerwartetes geschieht.

MAINZ

So unge­fähr um 22 Uhr ist die Vorstellung zu Ende. Dominique und ich, völ­lig ver­schwitzt am Bühnenrand sit­zend, «neu­tra­li­sie­ren» uns.

Möglicherweise war­ten noch ein paar Leute unten im Saal, um mit uns zu plau­dern. Monica und Liselotte rech­nen die Vorstellung ab, und nach und nach begin­nen wir, die Akteure, uns um das Requisiten- und Kleiderchaos auf der Seitenbühne zu küm­mern und berei­ten bereits wie­der die Vorstellung des kom­men­den Tages vor. So kann tags­über pas­sie­ren was will, die Vorstellung ist spiel­be­reit.

DARMSTADT

Nach etwa einer Stunde ver­las­sen auch wir das Theater, gehen gemein­sam noch etwas essen. Gegen ein Uhr sind wir wie­der «daheim» im Heilig Geist-Spital.

Die Realität «Theater» Von Realitäten rund um die lang­jäh­ri­ge Tournee des schie­fen Theaters rede ich. Bis jetzt habe ich mich eher mit den Äusserlichkeiten befasst; vom Eigentlichen, dem Spiel auf der Bühne, den Ideen, der Wirkung unse­rer Geschichten auf das Publikum, sei­nen Reaktionsweisen habe ich bis­her eher

MANNHEIM

geschwie­gen – nicht ohne Grund. Das Erlebnis des Theaterspiels ist für den Akteur selbst eben schlicht nicht repro­du­zier­bar.

Abgesehen davon, dass der Spieler auf der Bühne der­art auf den Augenblick kon­zen­triert ist, dass er sich mit dem Beschreiben des Vorstellungserlebnisses schlicht nicht befas­sen kann. Zwar neh­me ich als Spieler fast alles wahr, was gera­de läuft rund­um (sei es auf der Bühne, neben­an auf der Seitenbühne, im Zuschauerraum, oder gar draus­sen, rund ums Theater), doch dies dann auch beschrei­bend fest­hal­ten zu kön­nen über­steigt mei­ne per­sön­li­chen Fähigkeiten.

LUDWIGSHAFEN

Ich kann höch­stens von der Situation des Spielens vor Publikum erzäh­len, und vom Prozess des Geschichten-Erfindens. Davon soll jetzt, als qua­si letz­te Realität in unse­rem Zusammenhang, die Rede sein:

Theater spie­len. Basis jedes Theaterspiels ist die­se Situation: Irgendwo in einem Raum sitzt ein Publikum und erwar­tet, dass in einem andern Raum, der Bühne, etwas Besonderes pas­siert, und dass es die­ses Besondere jetzt mit­er­le­ben kann.

HEIDELBERG

Diese Grundsituation ist durch eine gros­se Spannung gekenn­zeich­net, und mit ihr spie­le ich als Schauspieler. Was ich spie­le und womit, ist mir über­las­sen. Das ist mei­ne Freiheit – eine unend­lich gros­se Freiheit. Im Grunde genom­men tref­fen im Theater zwei Realitäten auf­ein­an­der: Die Realität der Spannung im Publikum und die Realität des Spiels auf der Bühne. Diese bei­den Realitäten sind durch einen Vorhang von­ein­an­der getrennt. Wenn er sich öff­net, tref­fen sie auf­ein­an­der und durch­drin­gen sich gegen­sei­tig.
Dieser Vorgang hat einen enor­men Reiz.

STUTTGART

Wenn nun Dominique und ich die Vorstellung begin­nen, wis­sen wir natür­lich, was jetzt zu gesche­hen hat. Wir haben ja geprobt. Allerdings, jetzt auf der Bühne und mit Leuten im Saal, reicht es natür­lich nicht, das Eingeübte ein­fach her­un­ter­zu­spie­len, son­dern wir müs­sen unser Spiel jener Spannung im Zuschauerraum aus­set­zen und mit unse­rer eige­nen, inne­ren kon­fron­tie­ren. Was heisst das? Etwa Folgendes: Der Vorhang öff­net sich, die Scheinwerfer sind auf die Bühne gerich­tet, wir tre­ten auf, und die Zuschauerin erwar­tet etwas – irgend­et­was. Und jetzt ist es an uns, die­se Erwartung auf irgend­ei­ne Weise zu erfül­len. Wo und wie dies zu gesche­hen hat ist offen; aber es dau­ert den gan­zen

ZÜRICH

Abend lang. Und einen gan­zen Abend lang spie­len wir Katz und Maus mit­ein­an­der, das Publikum im Saal, wir auf der Bühne.

Das geht etwa so: Wir len­ken zum Beispiel sei­nen Blick auf einen bestimm­ten Punkt auf der Bühne, das Publikum nimmt die­sen Punkt sofort wahr, beob­ach­tet ihn inten­siv, denn es erwar­tet ja, dass hier etwas gesche­hen wird. Dieser Erwartung kön­nen wir nun ent­spre­chen oder auch nicht. Wir kön­nen ohne wei­te­res noch einen zwei­ten Punkt in den Fokus der Publikumserwartung rücken und in dem Moment, wo es die Auflösung die­ses zwei­ten Rätsels erwar­tet, ganz uner­war­tet das erste lösen.

BADEN

Mit andern Worten: Die Welt, die wir auf der Bühne ent­ste­hen las­sen kön­nen wir belie­big ver­än­dern, und das Publikum ist fort­wäh­rend damit beschäf­tigt, die so ent­stan­de­nen Welten zu ent­schlüs­seln. Das ist ein extrem lust­be­ton­ter Vorgang – eben etwas Lustiges, egal, ob man dabei lacht oder nicht.

Es pral­len hier also zwei Welten auf­ein­an­der, die rea­le des real im Zuschauerraum sit­zen­den Publikums und die fan­ta­sier­te auf der Bühne.

Das real dasit­zen­de Publikum ver­sucht also die fan­ta­sier­te Realität auf der Bühne zu erfas­sen, und wir ver­su­chen auf der andern Seite, ihm unse­re fan­ta­sier­te Realität immer dann zu ent­zie­hen, wenn es sie gera­de knapp erfasst hat.

CHUR

Das also ist unser Spiel – das Theater-Spiel. Und es wird jeden Tag wie­der neu gespielt – vor immer ande­ren Leuten, die natür­lich immer anders reagie­ren. Eine fas­zi­nie­ren­de Angelegenheit – ein wun­der­ba­res Spiel!

Geschichten fin­den – Geschichten erfin­den Eben habe ich ver­sucht zu beschrei­ben, was eigent­lich geschieht zwi­schen uns, den Spielern auf der Bühne, und dem Publikum im Saal wenn wir spie­len. Jetzt ver­su­che ich zu beschrei­ben, wie unse­re Geschichten ent­ste­hen.

ST.GALLEN

Gemeinhin, nimmt man ja an, habe ein Künstler ein­fach mal eine Idee, ganz zufäl­lig, die schrei­be er dann auf, set­ze sie für die Bühne um und spie­le sie anschlies­send. Der eigent­li­che Vorgang ist kom­pli­zier­ter, und er hat sehr viel zu tun mit dem eben beschrie­be­nen des Spielens vor und mit Publikum. Die Ausgangslage ist grund­sätz­lich immer die­sel­be: Ich set­ze mich (in mei­ner Fantasie) vor das Publikum, schaue es an (das ist sehr wich­tig) und war­te. Und jetzt? Genau das den­ke ich, und genau das denkt das Publikum in die­ser Situation auch. Ich war­te.

WINTERTHUR

Und zwar war­te ich, bis mich die Lust über­kommt, mit die­sen Leuten vor mir etwas anzu­stel­len – so ähn­lich wie ein klei­ner Bub, der einen Streich aus­heckt. Was das zu sein hat ist in die­sem Moment grund­sätz­lich gleich­gül­tig, aber es muss mich nach etwas ganz Bestimmtem gelü­sten – nicht nach irgend­was, nach etwas Bestimmtem. Dabei kommt es auf die­ses Gelüsten an. Fällt mir etwas ein, das mich eigent­lich nicht anschaut, das mich also kalt lässt, dann eig­net es sich nicht für eine Geschichte.

Dann begin­ne ich mein inner­li­ches Spiel mit den Leuten vor mir von vom. Und ich spie­le es immer wie­der, bis mich die unbe­schreib­li­che Lust befällt, aus genau die­ser Idee eine Geschichte zu machen. Das kann dau­ern, Stunden manch­mal, sogar Tage oder Wochen.

SCHAFFHAUSEN

Doch wie kommt es nun zu die­ser Lust? Ich weiss es nicht – es kommt dazu, oder es kommt nicht dazu. Der Einfall gefällt mir ein­fach. Natürlich prü­fe ich sei­ne Qualitäten: Ich spie­le in Gedanken mit ihm her­um, völ­lig ziel­los – und wenn ich dabei spü­re, dass sich dar­aus was machen lässt, sich dar­in rei­che, viel­fäl­ti­ge Spielmöglichkeiten ver­ber­gen, so brin­ge ich ihn in mei­ner Fantasie vor mein vor mir sit­zen­des Publikum. Ich über­ra­sche es mal mit die­sem Detail oder jenem, und dabei mer­ke ich auf ganz natür­li­che Weise, wie viel Verführerisches, Närrisches, Doppelsinniges, Nachdenkliches in ihm steckt, und wenn sich mir dabei eine neue, viel­leicht völ­lig unver­trau­te Welt auf­tut,

BERN

so bin ich «gelie­fert». Dann bin ich die­ser spon­ta­nen Idee aus­ge­lie­fert. Jetzt bin ich wie der Gefangene mei­ner Idee und ich will sie spie­lend ergrün­den. Das fan­ta­sier­te Spiel mit dem fan­ta­sier­ten Publikum wird plötz­lich zu einem ech­ten Spiel, das wirk­lich gespielt sein will.

Das ist der schön­ste Augenblick die­ser neu­en Geschichte – und dann beginnt die Arbeit.

Diese Arbeit ori­en­tiert sich so nah wie immer nur mög­lich am ursprüng­lich fan­ta­sier­ten Spiel, möch­te die­se Qualität in voll­kom­me­ner Weise errei­chen und wird dies nie voll­stän­dig schaf­fen.

FREIBURG I. BR.

Das ist das leicht Traurige an jedem rea­li­sier­ten Werk: es ist das Eingeständnis, dass die Geschichte eigent­lich noch weit schö­ner, lusti­ger, ergrei­fen­der, über­ra­schen­der sein könn­te. Zwischen Fantasie und Wirklichkeit gibt es einen Unterschied: Diesen.

BASEL

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2012

 

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