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Eine Konstruktion, so sta­bil und ele­gant wie ein Stahlträger

(Constantin Seibt – http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline)

Das Telefon klin­gel­te. Ich nahm ab.

«Wie konn­test du nur?», frag­te mei­ne Grossmutter.

«Was?», frag­te ich.

«Wie konn­test du das nur schrei­ben?», frag­te sie.

«Äh, wel­chen Artikel meinst du?»

«Den über unse­re Familie. Erstens stimmt höch­stens die Hälfte. Und zwei­tens unter die­sem schreck­li­chen Titel!»

Plötzlich wuss­te ich, was sie mein­te. Mein Familienartikel hat­te es bis nach Deutschland geschafft. Etwa zwei Jahre nach sei­nem Erscheinen. Irgendein böser Mensch hat­te ihn mei­ner Grossmutter gege­ben.

«Wie konn­test du nur die­sen Titel dar­über set­zen?», sag­te sie.

Ja, wie konn­te ich nur?

Das Problem der Übergänge

Ich weiss noch, wie glück­lich ich war, als ich auf die Idee dafür kam. Es war die per­fek­te Lösung für ein ver­track­tes tech­ni­sches Problem: das Problem der Übergänge in einem unstruk­tu­rier­ten Stoff.

Mein Auftrag war, eine Seite in der WOZ-Familienbeilage zu fül­len. Ich wuss­te sofort, was ich schrei­ben woll­te: die besten Familienanekdoten.

Ich hat­te sicher fast 100 davon im Ohr. Es war das Erbe einer lan­gen Kindheit, in der ich lan­ge zuhör­te: Meiner Mutter, mei­nen Grosseltern. Es waren fast alles Geschichten, die sich um Katastrophen dreh­ten: um Politik, Krieg und Flucht.

Und des­halb fiel das Schreiben auch leicht. Wegen ihrer Dramatik konn­te man die ein­zel­nen Anekdoten kaum ver­hau­en. Doch dann stiess ich auf ein ernst­haf­tes Problem: die Übergange dazwi­schen. Sie lie­fen etwa so:

«20 Jahre vor die­ser Geschichte, dies­mal in Österreich, hat­te eine ande­re Tante von mir ein ande­res Problem.»

Oder:

«Der Bruder der Tante aus der vor­he­ri­gen Geschichte war 15 Jahre spä­ter …»

Egal wie lang man dar­an feil­te, die Zwischenpassagen blie­ben umständ­lich. Sie mach­ten den Text tei­gig und ver­wir­rend. Ich ver­zwei­fel­te eine hal­be Nacht, bis ich auf die rich­ti­ge Konstruktion kam. Sie schien mir so kühn, so schlank wie die ersten Häuser aus Stahl und Glas.

Ich gab dem Text den Titel «Die sie­ben Todsünden», strich alle Übergänge kom­plett und ver­wen­de­te statt­des­sen die ein­zel­nen Sünden als Zwischentitel.

Der Text sah in der Struktur dann so aus (hier in der kür­ze­sten Zusammenfassung):

Die sie­ben Todsünden

Einiges über die Sünden mei­ner Grossonkel und Grosstanten – über Liebe, Verrat, Militär, Pornographie und den Umgang mit Hitler.

1. Neid

Mein Urgrossonkel Ferdinand ver­kauf­te 1918 für 1,5 Millionen Reichsmark sei­ne Luxusvilla in Hamburg. Ein Vermögen, dass ihm ein Bohemienleben auf immer garan­tier­te. Fünf Jahre spä­ter, auf dem Höhepunkt der Inflation 1923, konn­te er sich gera­de noch ein Brötchen dafür kau­fen. Er leb­te dann arm und ver­bit­tert in einer Mansarde, bis… Bis bis bei einem Flugzeugangriff 1944 die Villa samt der Familie des Käufers zer­bombt wur­de. Worauf Ferdinand, als viel­leicht ein­zi­ger unter den Millionen Toten damals, mit einem Lächeln auf dem Gesicht starb.

2. Zorn

Die Geschichte mei­nes Grossonkels Kurt, der im ersten Weltkrieg ein Flieger-As gewe­sen war. Und als Offizier spä­ter noch im Freikorps aktiv war. Der Profi-Soldat hei­ra­te eine Bankdirektorstochter. Und wur­de von der neu­en Familie gezwun­gen, in der Bank ganz unten am Schalter anzu­fan­gen. Seine Kollegen hass­ten ihn, weil er der Schwiegersohn des Chefs war und als Offizier pri­vat nicht mit ihnen sprach. Schliesslich klag­ten sie ihn der Unterschlagung von 10 Pfennig an. Kurt ging nach Hause und erschoss sich. Das war 1932. Ein Jahr spä­ter hät­te man einen Mann wie ihn wie­der gebraucht.

3. Wollust

1948, an der Zonengrenze, ret­te­te Pornographie mei­ner Grossmutter das Leben. Sie hat­te ihren Hausrat aus Jena her­aus­be­kom­men und sass in einem offe­nen Eisenbahnwagon. Die Russen durch­such­ten die Kisten. In der drit­ten fan­den sie die Aktzeichnungen mei­nes Opas aus der Kunstakademie. Sie zeig­ten sie sich auf­ge­regt (mein Grossvater war ein sehr prä­zi­ser Zeichner) und mei­ne Grossmutter sag­te: «Nehmt!» Darauf schlu­gen sich die Russen damit in die Büsche. Was mei­ne Grossmutter nicht wuss­te: In der Kiste, die die Russen als näch­stes durch­sucht hät­ten, war noch das alte Seitengewehr mei­nes Grossvaters ver­packt. Damals stand auf Waffenschmuggel Todesstrafe.

4. Geiz

Der Bauernhof mei­ner Vorfahren stand genau auf der Zonengrenze. Deshalb leb­te dort ein DDR-Grenzer. Er wur­de mit den besten Fleischstücken gefüt­tert, er war der erste dicke Mann, den mei­ne Mutter nach dem Krieg sah. Die Bäurin, Nellie, die Schwester mei­nes Grossvaters. Als die­ser sie nachts – heim­lich aus dem Westsektor kom­mend – besuch­te, ver­such­te sie, ihn dem Grenzer aus­zu­lie­fern, um noch bes­se­re Karten bei den Behörden zu bekom­men. Sie öff­ne­te “ver­se­hent­lich” die Kammer zu dem Grenzer. Doch der schlief. Und der Hof wur­de kurz dar­auf geräumt, um dort Stacheldraht und Minenfelder für die deutsch-deut­sche Grenze anzu­bau­en.

5. Völlerei

Mein Grossonkel Karl, der ver­rückt wur­de. Angeblich wegen eines Tritts von einem Pferd der K.u.K.-Kavallerie. Und der in sein Zimmer hin­ein wucher­te wie eine rie­si­ge Frucht. So dass man nach sei­nem Tod kaum wuss­te, wie man ihn durch die Tür bekom­men soll­te.

6. Hochmut

Meine Grosstante Liesl galt als das schön­ste Mädchen von Linz. Und wech­sel­te die Verehrer wie über Irland das Wetter wech­selt. Als aner­kannt Schönste der Stadt über­reich­te sie Hitler nach dem Anschluss Österreichs einen Blumenstrauss und wei­ger­te sich dar­auf­hin, die Hand zu waschen. Nach dem Krieg ver­lieb­te sie sich in einen US-Sergeant namens Rick, Nick oder Mick. Es war eine obses­si­ve Liebe. Als ihr Mann nach vier Jahren Kriegsgefangenschaft zurück­kam, begrüss­te sie ihn am Gartentor mit dem Satz: «Ach, du bist wie­der da.» Und ging zu dem Sergeanten. Als die­ser sie ver­liess, wur­de sie ver­rückt. Sie trug rie­si­ge Hüte, zitier­te sei­ten­wei­se Shakespeare und sang auf dem Balkon für das Volk. Als sie starb, stan­den Dutzende ergrau­te Männer an ihrem Grab, für die sie die Liebe des Lebens gewe­sen war.

7. Trägheit

Selbst für eine Zusammenfassung ist das ange­neh­me Leben mei­nes Grossonkel Louis zu aus­führ­lich, das er im Militär, im Antiquitätenhandel, als Dirigent der Wiener Philharmoniker und vor allem als Snob ver­brach­te. Hier nur die Geschichte des zwei­ten sei­ner drei Flugzeugabstürze: Als mei­ne Urgrossmutter Geburtstag hat­te, änder­te Louis die Route sei­nes Dienstflugs und krei­ste im Doppeldecker über der Familienvilla. Meine Urgrossmutter ging auf den Balkon und wink­te, Louis lies das Steuer los, wink­te zurück, und das Geburtstagsgeschenk war ein bren­nen­des Flugzeugwrack im Garten.

Setzkästen für Sammelsurien

Pardon, ich habe mich hin­reis­sen las­sen. Worum es ging: Im Halbfeuilleton stösst man immer wie­der auf das­sel­be Problem: unstruk­tu­rier­ter Stoff. Das kann eine Sammlung von Anekdoten, Skizzen oder Reflexionen sein. Oder eine impres­sio­ni­sti­sche Reportage wie etwa eine Nacht quer durch die Bars der Stadt, in der Notfallaufnahme oder mit dem Securitaswächter. Jedenfalls ein Stoff mit vie­len Einzelteilen, ohne kla­ren Höhepunkt und ohne kla­re Hierarchie.

Immer stellt sich dann das Problem der Übergänge – und die besten Übergänge sind kei­ne. Sondern har­te Schnitte. Deshalb lohnt es sich, in sol­chen Fällen län­ger über ein Konzept von Zwischentiteln zu brü­ten.

Dieses Korsett soll­te im Idealfall dem Leser schon bekannt sein. Dadurch schafft es einen kla­ren Rahmen für die Bausteine in ihrem Setzkasten. Oder genau­er: Es schafft den Setzkasten selbst.  Dabei tut es nichts zur Sache, wenn es leicht absurd ist.

Denkbar wäre etwa (für die Nacht in der Bar oder Reflexionen zum Lesen oder die Notfallaufnahme etc.):

Der Passionsweg: Hosianna – Judaskuss – Kreuzigung – Auferstehung

Das Fussballspiel: Ermahnung des Trainers – Ankick – Tor – Pausentee – Gegentor – Verlängerung

Der Weg der Liebe: Der Blick – Der Flirt – Die Nacht – Die Hochzeit – Das Schweigen

Das Reaktionsmuster auf Schocks: Leugnen – Wut – Verhandeln – Resignation – Akzeptanz

Ein Abzählreim, etwa: Ene, mene Tintenfass – Geh in die Schul’ und ler­ne was – Wenn du was gelernt hast – Komm nach Haus’ und sage was – Eins, zwei, drei – Und du bist frei!

Ein Countdown: 10 – 9 – 8 – 7 – 6 – 5 – 4 – 3 – 2 – 1 – Zündung

Oder natür­lich auch Songtitel als Zwischentitel. Oder Zitate (mög­lichst syste­ma­tisch: Also Zitate des­sel­ben Autors oder alle von Zuckerpäckchen). Oder Buchtitel etc.

Gerechtfertigt wer­den muss die Konstruktion fast gar nicht. Im Grund genügt ein Satz im Lead des Texts. Etwa: «Eine Nacht in den Zürcher Bars ist wie der Leidensweg Jesu» oder: «Der Weg durch die Frankfurter Buchmesse fühlt sich an wie das Reaktionsmuster auf ein schreck­li­ches Unglück», oder, falls man Songtitelgenommen hät­te: «Eine Familie ist wie eine Jukebox» etc.

Das klappt. Denn selt­sa­mer­wei­se wird eine strik­te Ordnung fast immer akzep­tiert, so ver­rückt sie auch ist.

Eine Tugend, aber auch die ach­te Todsünde: Ordnung

Damals, als ich auf die Idee mit den sie­ben Todsünden kam, war ich glück­lich. Keinen Moment lang dach­te ich dar­über nach, dass ich mei­ne gelieb­te Grossmutter ver­let­zen könn­te. Denn natür­lich gab der Titel und die Struktur dem Text nicht nur Orientierung, son­dern auch einen kla­ren Dreh.

Heute, Jahre nach ihrem Tod, fra­ge ich mich manch­mal, wie ich ent­schie­den hät­te, wenn ich län­ger über die Folgen nach­ge­dacht hät­te. Für die per­fek­te Konstruktion eines Zeitungstextes? Oder für den Respekt für mei­ne Grossmutter?

Fragt mich nicht.

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