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Ein Stadtbild, aber

Von Peter J. Betts – Ein Stadtbild, aber zuneh­mend auch das Aussehen (und die Lebensweise in) der Landschaft sind Spuren der Kultur, oft Demonstration kul­tu­rel­ler Entwicklung, Spuren von Kämpfen zwi­schen Natur und Kultur, ver­gleich­bar viel­leicht mit Eiskernbohrungen, die Lesekundigen Botschaften unter ande­rem über Klimawandel mit ent­spre­chen­den Vegetationsspuren wäh­rend Hunderten oder Tausenden von Jahren ver­mit­teln kön­nen. Folgenreiches Spiel zwi­schen Natur und Kultur? Pseudoharmonische Einheit von grund­sätz­lich Unverträglichem? Altvater Goethe hat sich in sei­ner Dichtung inten­siv mit Natur und Kultur aus­ein­an­der­ge­setzt. In sei­nen Naturbetrachtungen offen­bart sich Natur pan­the­istisch als das Abbild gött­li­chen Wirkens: er beschreibt sie als hei­lig öffent­li­ches Geheimnis. Im Gedicht «Epirrhema» (das Dazugesprochene) fin­den sich die unver­gess­li­chen Verse zum Thema Sein und Schein: «Nichts ist drin­nen, nichts ist draus­sen; / Denn was innen, das ist aus­sen.» Bauwerke, die Teil der Natur wer­den, weil wir sel­ber Teil der Natur sind? Wer etwa, von weit­her ange­reist, das Berner Münster als ein­drück­li­ches Kunstwerk bewun­dert, sieht sich kon­fron­tiert mit einer Legierung von Natur und Kultur, mag sich bei­spiels­wei­se dar­über Gedanken machen, was in den Menschen vor­ge­gan­gen sein könn­te, wäh­rend sie – aus Begeisterung oder unter Zwang – zu Ehren einer alles über­ra­gen­den Gottheit über Jahrhunderte hin­weg ein Gebäude als Kunstwerk und zum Nutzen durch eine abstrak­te Grösse nach dem Motto «alle für einen!» erbau­ten, wäh­rend sie selbst unter pri­mi­tiv­sten Bedingungen leb­ten oder vege­tier­ten; wel­che Kräfte in jenem Zeitraum am Werk waren; was die jeweils Machthabenden mit dem über Jahrhunderte erwach­sen­den Prachtbau für sich her­aus­ho­len konn­ten; wie heu­te die geschick­te­sten Werbefachleute dar­aus für den Tourismus und das Stadtprestige Wertschöpfungs-Marathonläufe absol­vie­ren. Auch die beschei­de­nen Einfamilienhaussiedlungen – einst viel­leicht für Eisenbahner geschaf­fen –, die Villen am rech­ten Aareufer dem Münster gegen­über, die Bauten an der Militärstrasse und so wei­ter erzäh­len inter­es­san­te Geschichten. Und die neue­ren Siedlungsstrategien ent­lang der Autobahnen mögen zu den­ken geben. Sein und Schein: bei allen kul­tu­rel­len Äusserungen ent­schei­dend, sei­tens der Produzierenden und sei­tens der Rezipierenden; auch im Zeitenlauf. Innen und aus­sen als untrenn­ba­re Einheit? Beachtlich eben­falls an den Hängen im Berner Oberland die schö­nen Chalets und der Sachverhalt, dass sich erstaun­lich vie­le davon bei nähe­rem Betrachten als freund­lich getarn­te Bunker aus den Zeiten des Zweiten Weltkrieges (bleibt bezüg­lich der glück­li­cher­wei­se aus­ge­blie­be­nen Probe aufs Exempel den­noch zu hof­fen, dass die dama­li­gen Bauunternehmer, nicht wie die Kollegenschaft beim Bau der Maginot-Linie, bei Zement und Armierung zugun­sten ihrer sicher ange­leg­ten Bankkonten spar­ten) oder aus den Zeiten des Kalten Krieges ent­pup­pen. Während man kopf­schüt­telnd davor steht, hört man statt des Summens der zuneh­mend rare­ren Bienen das Dröhnen der offen­bar ver­al­te­ten Kampfjets (Gripen ist ja hier noch nicht ganz Realität), die frisch und mun­ter ihre Schiessrituale über der Axalp zele­brie­ren. Was innen ist, ist aus­sen? Idylle des Kranzes von Voralpen und Alpen ent­lang des Aaretals, der unter­schied­li­chen Wasserfärbung zwi­schen Brienzer- und Thunersee, der bei genaue­rem Hinsehen und unter Zuhilfenahme des Gedächtnisses fast intak­ten ort­ge­rech­ten Flora, der noch immer ziem­lich beacht­li­chen Vielfalt von Schmetterlingssorten, der schmucken Chalets und Chalet-Siedlungen? Sein? Schein? Das schö­ne Dorf Gunten am rech­ten Thunerseeufer zum Beispiel war bis vor etwas über hun­dert Jahren nur per Schiff oder zu Fuss über den Jakobsweg erreich­bar. Heute führt eine beson­ders an Wochenenden und zu Ferienzeiten viel­be­fah­re­ne Strasse nach Interlaken und wei­ter: Taucher, von weit her kom­mend, par­kie­ren beim «Ameisieggeli» bei Ralligen, um den berühm­ten «Cañon» zu erfor­schen; Motorradkolonnen auf ihren Pässefahrten leben sich aus; Freizeit- und Ferienverkehr; Bus, Lastwagen und so wei­ter lie­fern einen Dauergeräuschteppich. Die Strasse ist eng genug, so dass die mei­sten genü­gend vor­sich­tig fah­ren und nur ver­hält­nis­mäs­sig weni­ge Stätten am Strassenrand mit wel­ken­den Blumen an Motorradfahrer erin­nern, die ihr Beschleunigungsvermögen unter- und den zur Verfügung ste­hen­den Platz über­schätzt hat­ten. Ziemlich hoch über dem Seeufer in Gunten fällt eine Gruppe neue­rer Chalets mit einem rie­si­gen Parkplatz davor auf. Die Gebäude ste­hen ein­zeln, mit har­mo­ni­schen Lücken dazwi­schen, ein Bild, das mitt­ler­wei­le als orts­ty­pisch gilt. Betritt man eines der Gebäude, merkt man aber, dass das Chalet Camouflage ist. Nein, nein, kein Bunker (trotz viel hof­fent­lich soli­dem Beton, ohne dass die Bauunternehmer es zugun­sten ihres Gewinns an hin­rei­chen­der Armierung haben feh­len las­sen), son­dern mitt­ler­wei­le eine Rehabilitationsklinik; innen ist aber auch hier kei­nes­wegs aus­sen. Goethe irrt sich in Epirrhema wohl nicht: bei ihm han­delt es sich ja um Naturverständnis, in Gunten um eine Spielart von – Kultur. Sein und Schein ist hier aber durch­aus ein Thema geblie­ben. 1988 hat­te man geplant, eine Erholungszentrum für gestress­te Manager ein­zu­rich­ten, dann geriet die Baugesellschaft ein Jahr spä­ter sel­ber in Stress: der bekann­te Besitzer meh­re­rer «Badehotels» in der Gegend, Walter Hauenstein, trat als Retter auf und plan­te eine Alterssiedlung, die sich in ein Rehabilitationszentrum ver­wan­del­te; schon bald wur­de er Alleinaktionär. Es gibt eine Leistungsvereinbarung mit der kan­to­na­len Gesundheitsdirektion, und nicht nur ein pro­mi­nen­ter Nationalrat aus der Gegend, stram­mer Parteisoldat und Bauunternehmer, ortet hier eine der weni­gen Spitzen sol­cher Kliniken in der Schweiz. Im Anschluss an eine schwe­re Krankheit über­wies mich das Spital hier­hin zur Nachbehandlung. Die Fragen zu Sein und Schein und zur Ungleichheit von innen und aus­sen wur­den für mich zen­tral. Das gesam­te Personal lächelt immer kom­mu­ni­ka­ti­ons­kurs­kon­form in jeder Situation: sicht­ba­re Liebenswürdigkeit stei­gert offen­bar Heilungs- und Gewinnpotential – ein­träg­li­che Dauerpose. Anderseits: mit vie­len Pflegenden, PhysiotherapeutInnen erge­ben sich ech­te und glaub­wür­di­ge Beziehungen, und sogar gesell­schafts- und insti­tu­ti­ons­kri­ti­sche Ansichten kön­nen aus­ge­tauscht wer­den. Auf jeder fach­li­chen Ebene sind die pro­fes­sio­nel­len Leistungen her­vor­ra­gend, auch die Bedienung im Restaurant. Anderseits: Herr Hauenstein glaub­te an die hei­len­de Kraft von Kunst im/am Bau: Die drei oder vier «Chalets» sind durch einen unter­ir­di­schen Betongang ver­bun­den; ein Maler-Gipser-Tapezierer aus Steffisburg hat die­sen Gang einer­seits mit einer sym­bol­trie­fen­den «natu­ra­li­sti­schen» Malerei (u.a. ver­steckt und ent­hüllt sich ein mensch­li­ches Gesicht in einem Baum…) und auch drei­di­men­sio­nal, mit grau­en­haft kit­schi­gen Pseudozitaten zu Maurits Cornelis Escher unter Einschluss dümm­li­cher Verbalkommentare ver­un­ziert… Wer täg­lich meh­re­re Male durch die­sen Gang gehen muss – dies bleibt nie­man­dem erspart – ver­grös­sert sein Gesundungspotential m. E. kei­nes­wegs. Der Aufenthalt in der «Reha» wird zum emo­tio­na­len Wechselbad. Ich mei­ner­seits habe die Aufenthaltszeit so stark wie nur mög­lich gekürzt. Auch das wirkt sich wohl auf die Gesundheitskosten im Lande posi­tiv aus. Die Ungleichheit von Innen und Aussen, der unent­wirr­ba­re Klüngel von Sein und Schein ste­hen in der Reha-Gunten wohl pars pro toto für den gröss­ten Teil unse­res kul­tu­rel­len Tuns. Der weit her­ge­rei­ste Bewunderer des Berner Münsters wird sich des­sen so bewusst wer­den, wie die wache Aufenthalterin in der «Reha», die kopf­schüt­teln­de Betrachterin des Chalet-Bunkers oder der Mensch im Bett, der dem Strassenlärm lauscht und den Schlaf ver­ge­bens her­bei­wünscht.

Foto: zVg.
ensuite, September 2013