Ein Cantautore «ori­en­tiert» sich

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Von Luca D’Alessandro und Luca Scigliano – Der kala­bri­sche Cantautore Sergio Cammariere woll­te schon immer sei­ne musi­ka­li­schen Traditionen mit Klangnuancen aus dem Orient ver­bin­den. Mit dem kürz­lich erschie­ne­nen Album «Carovane», zu Deutsch Karawanen, hat er sich die­sen Traum kurz vor sei­nem fünf­zig­sten Geburtstag erfüllt. Gemeinsam mit sei­nem Ensemble, ange­führt von sei­nem lang­jäh­ri­gen Weggefährten Roberto Kunstler, macht sich Sergio Cammariere auf in den Orient, auf eine Entdeckungsreise in die Oasen der besinn­lich-war­men Klänge, in die Heimatländer der Sitar, Tampura und Tabla.

Das Ergebnis: Ein Album bestückt mit drei­zehn reich­hal­ti­gen Liedern, wovon zwei – ana­log zu Cammarieres Vorgängeralben – Instrumentalversionen sind. «Vielleicht wer­de ich in näch­ster Zukunft ein rein instru­men­ta­les Album machen», ver­rät Cammariere dem ensuite-kul­tur­ma­ga­zin. «Doch vor­her gehe ich auf Tournee. Im Februar geht es los.»

Und wann besuchst du uns mit dei­ner Karawane in der Schweiz?

Ich hof­fe bald. Neulich habe ich in Norditalien ein Konzert gege­ben. Zahlreiche Musikinteressierte sind extra aus Zürich ange­reist. Ich habe eine gute Beziehung zum Schweizer Publikum. 2002 hat­te ich sogar einen Live-Einsatz am Tessiner Fernsehen.

Fünf Alben sind seit­her aus dei­ner Feder geflos­sen. Sprechen wir von dei­nem kürz­lich erschie­ne­nen Werk «Carovane».

Es ist ein far­ben­präch­ti­ges Mosaik, klang­reich und «wort­ver­spielt». Jedes ein­zel­ne Lied ent­spricht einem Steinchen, zusam­men ergibt sich ein har­mo­ni­sches Bild.

Das Bild einer Karawane…

Ja, ich stel­le mir Karawanen als Symbol der Zivilisation vor. Sie spie­geln die Suche nach der Essenz des Lebens wie­der.

Das Instrumentarium passt zum Konzept: Du ver­wen­dest diver­se exo­ti­sche Instrumente und Stile.

Den Sound habe ich an Orten gesucht, die – wie soll ich sagen – eine mystisch-spi­ri­tu­el­le Stimmung auf mich aus­strahl­ten. Meine Musik ist durch­setzt von «World-beein­fluss­ten» Klängen. In die­sen ver­birgt sich eine kos­misch-uni­ver­sel­le Botschaft, die sich auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf das Leben bezieht.

Was ver­stehst du unter «World Music»? Immerhin ist der Begriff sehr breit.

Meine Heimat Italien ist von einem Meer umge­ben, das Dichter und Schriftsteller über die Jahrhunderte hin­weg inspi­riert hat. Ich sehe mich als Teil der Magna Graecia. Mit die­sem Begriff wur­den im ach­ten Jahrhundert vor Christi Geburt die Regionen im anti­ken Süditalien und Sizilien bezeich­net. Von der Magna Graecia aus zie­he ich den Faden zu den indisch-ori­en­ta­li­schen Klängen. In Carovane set­ze ich Instrumente wie Sitar, Moxeño, Vina, Tampura oder Tabla ein.

Das ist neu bei dir. In dei­nen frü­he­ren Alben kom­men die­se Instrumente kaum vor.

Seit jeher war es mein Traum, die Brücke zu den ori­en­ta­li­schen Kulturen zu schla­gen. Mir gefal­len eth­ni­sche Klänge, wie sie auch Peter Gabriel in sei­nen Werken ein­setzt. Inspirieren liess ich mich aus­ser­dem von weni­ger bekann­ten Künstlern aus dem Nahen Osten und Pakistan. Ich woll­te mei­nen Horizont erwei­tern und gleich­zei­tig ein eige­nes, moder­nes Soundgemisch schaf­fen.

Bei genau­em Hinsehen las­sen sich Parallelen zwi­schen der Klassik- und Jazzszene in Italien und dei­ner Musik zie­hen. Pianisten wie Cesare Picco, Ludovico Einaudi oder Giovanni Allevi ver­kör­pern etwas Spirituelles – ähn­lich wie du es tust.

Das stimmt. Wenn ich an ein Klavier den­ke, kom­men wir Ludwig Van Beethoven, Frédéric Chopin, Maurice Ravel und Claude Debussy in den Sinn. Sie alle haben Spiritualität gelebt. Ich den­ke, dass in jeder Person, die sich mit Ins-tru­men­ten aus­zu­drücken weiss, etwas Übersinnliches steckt.

Durch den Gesang wird ver­mut­lich die­se Transzendenz zusätz­lich ver­stärkt. In dei­nen Alben hast du über­wie­gend gesun­ge­ne Lieder.

Ja, nur ver­ein­zelt habe ich Instrumentalversionen ein­ge­streut. Ich könn­te mir aber vor­stel­len, in näch­ster Zeit ein rein instru­men­ta­les Album zu pro­du­zie­ren. Ein sol­ches wür­de mir näm­lich die Möglichkeit bie­ten, eins zu wer­den mit dem Instrument, das mein Seelenleben ver­bild­licht.

In Italien scheint die­ser Wunsch gemein­hin unter Musikern sehr aus­ge­prägt zu sein. Im Moment gibt es vie­le Instrumentalisten.

Wir ver­fü­gen über gross­ar­ti­ge Musiker. Ich den­ke da an den Mailänder Pianisten und Dirigenten Maurizio Pollini, oder an den Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli, der mit sei­nen Interpretationen von Debussy die Musikszene in den Fünfzigern bewegt hat. Wahrlich, die­se Leute ver­ste­hen ihr Handwerk. Sie inter­pre­tie­ren Werke, die unser musi­ka­li­sches Verständnis über­tref­fen.

Und die­se Interpretationen gesche­hen meist am Klavier.

Das Klavier ist ein voll­kom­me­nes Instrument. Mit ihm lässt sich ein gan­zes Orchester abbil­den. Seine Harmonien gehen über alle Sphären hin­weg. Wenn ich spie­le, spü­re ich den Geist von Pythagoras von Samos, den Geist der Magna Graecia.

Es scheint, als ob mit dir etwas Göttliches am Werk sei.

Ja. Auch bei Richard Wagner war etwas Göttliches im Spiel. Ein Komponist fun­giert als Medium.

Wie kommst du zu die­sem Schluss?

Ich selbst befin­de mich stän­dig auf einer spi­ri­tu­el­len Suche. Ich arbei­te an mei­ner Einstellung und suche nach Antworten.

Wo und wie tust du das?

Fast aus­schliess­lich beim Spielen. Wer beschei­den spielt, begibt sich auf eine Ebene, auf der die Essenz der Musik und die Wahrheit ver­bor­gen lie­gen. Während des Klavierspiels ver­spü­re ich das Bedürfnis, mich zu kon­ver­tie­ren.

Zu wem?

Zu mei­nem Herrn, dem Allmächtigen. Meine Vergangenheit ist von kirch­li­chen Riten geprägt, von der Eucharistiefeier und dem Chorgesang in der Kirche. Als Junge fühl­te ich mich in sol­chen Momenten Gott sehr nahe. Er war all­ge­gen­wär­tig. Die Musik aus Orgel und Chorgesang bil­de­te das pas­sen­de Collant.

Kommen wir zurück zu den Karawanen, wel­che – gemäss dei­ner Aussage von vor­hin – «die Essenz des Lebens dar­stel­len.» Wer defi­niert die ech­te Essenz aller Dinge?

Um die­se Frage zu beant­wor­ten, bezie­he ich mich auf einen Ansatz von Rudolf Steiner, dem wich­tig­sten Anthroposophen über­haupt: Im Buch «Das Wesen des Musikalischen und das Tonerlebnis im Menschen» zählt er Argumente auf, die die Reinheit der Musik aus­ma­chen. Eine Reinheit, die in jedem Menschen steckt und nur im Zustand des Schlafs fühl­bar ist; sozu­sa­gen in der Phase zwi­schen Tiefschlaf und Erwachen. Aus die­sem Zustand kommt die Musik, das Instrument dient nur als Verstärker … Aber ich will nicht wei­ter aus­füh­ren. Das Konzept ist viel­schich­tig und wür­de den Rahmen des Gesprächs spren­gen.

Gibt es jeman­den, dem du das neue Album wid­mest?

Nicht spe­zi­ell. Gemeinsam mit Roberto Kunstler suche ich stets nach dem Sinn der Dinge. Dieser Prozess schlägt sich auch auf die Musik nie­der. Bei der Konzeption von Carovane fühl­ten wir in uns das Bedürfnis, nebst der Liebe Themen wie Umwelt und Natur, Harmonie und Ethik anzu­spre­chen. Indes sahen wir die CD auch als Botschafterin unse­res spi­ri­tu­el­len Konzeptes.

Gibt es etwas, das du bis heu­te noch nicht gemacht hast, du aber unbe­dingt nach­ho­len möch­test?

Ich habe viel erlebt: Konzerte mit Sinfonieorchestern, Auftritte in ganz Europa, sowohl im Fernsehen als auch auf Grossbühnen. Ich kann dies­be­züg­lich nicht kla­gen. Na ja, Träume haben wir alle: Gerne hät­te ich ein­mal etwas gemacht, das nichts mit Musik zu tun hat. Zum Beispiel für einen Dokumentarfilm Regie zu füh­ren. Aber für sol­che Freizeitbeschäftigungen fehlt mir lei­der die Zeit.

Hat ein Musiker heut­zu­ta­ge über­haupt noch Zeit für Experimente?

Die Inhalte in Fernsehsendungen haben in den letz­ten zwan­zig Jahren an Qualität ver­lo­ren. Wir erle­ben eine kul­tu­rel­le Verarmung. In unse­rem Zeitalter der «Reality Shows» wer­den komi­sche Mythen geschaf­fen, die nur für kur­ze Zeit leben, bevor sie von der Bildfläche ver­schwin­den. Früher war die Musik bestän­di­ger. Das Vinyl als Tonträger ver­moch­te dem Hörer nebst der aku­sti­schen Komponente auch einen visu­el­len Eindruck mit­tels Coverbild oder die Beschreibungen auf der Rückseite ver­mit­teln. Heute ist die Musik «flüs­si­ger» gewor­den. Sie fliesst über­all durch, man kann sie aus­tau­schen, umspei­chern, als MP3 trans­fe­rie­ren. Der gan­ze Musikapparat hat sich ver­än­dert mit Ausnahme der Konzerte. An die­sen kann ich eine Beziehung zu mei­nem Publikum auf­bau­en.

Wo ist es ein­fa­cher, eine Beziehung auf­zu­bau­en: in Italien oder in ande­ren Ländern Europas?

In Europa gibt es ein höhe­res Kulturverständnis als in Italien. Das muss ich lei­der so sagen. Ein Beispiel: Letzten März wur­de ich ans «The Hague Jazz Festival» nach Den Haag ein­ge­la­den. Die Organisation war erst­klas­sig. Neunzig Künstler aus aller Welt tra­ten rund um die Uhr auf sie­ben­und­zwan­zig Bühnen auf. Mit einem ein­zi­gen Ticket konn­te ein Besucher alle Konzerte sehen, von Blues über Pop bis hin zu Jazz und Brazil – es gab schlicht­weg alles. Ich hat­te die Ehre, Ivan Lins, Hank Jones und Joe Lovano zu tref­fen. Einzigartig! Von einem sol­chen Event kön­nen wir in Italien nur träu­men.

Auch was Klassik angeht, sind die Europäer inter­es­sier­ter. Es gibt mehr Konservatorien und Konzerthäuser. In Italien kämp­fen wir gegen das man­geln­de Musikverständnis der Leute. An den Schulen wird Musik kaum gelehrt, und das fin­de ich skan­da­lös. Musik ist wie Nahrung für die Seele des Menschen. Es wäre schön, wenn ein Kind eine Fuge von Bach von einer Sonate von Beethoven unter­schei­den könn­te.

Wer könn­te die­sen Zustand in Italien ändern?

Ich habe bereits mit der ita­lie­ni­schen Bildungsministerin Mariastella Gelmini Kontakt auf­ge­nom­men. Wir wer­den uns in näch­ster Zeit tref­fen, und ich hof­fe doch, dass sie mir Gehör schen­ken wird. Unter sol­chen Umständen erstaunt es nicht, dass es in Italien nur um die zwan­zig Jazzmusiker gibt, die auf einem Spitzenniveau spie­len und in der gan­zen Welt bekannt sind.

Diese zwan­zig aller­dings haben es in sich.

Ja, weil die­se Musik einen uni­ver­sa­len Charakter hat, sie wird in der gan­zen Welt ger­ne gehört. All die­se Reality Shows, die ich vor­hin erwähnt habe, sind sur­re­al, sie kre­ieren lokal-gepräg­te Mythen, die zum Verschwinden ver­dammt sind. In ihnen steckt kei­ne Realität, kei­ne Leidenschaft. Es sind gepush­te Sternchen, die kein Gefühl für Reinheit haben. Und hier sind wir bereits wie­der beim Thema, das wir vor­hin bespro­chen haben: die Essenz in der Musik.

Zusammengefasst: Die ech­ten Musiker schaf­fen den Sprung nach aus­sen und blei­ben bestehen. Die Sternchen, die so genann­ten Superstars, gehö­ren zu den Eintagsfliegen.

Genau so ist es. Wir ten­die­ren dazu, zu ver­ges­sen, wer in der Vergangenheit Grosses gelei­stet hat. In der ita­lie­ni­schen Musik hat­ten wir hoch­ka­rä­ti­ge Exponenten wie Fabrizio De André, Luigi Tenco und Sergio De Enrico. Sie sind gestor­ben, aber wir soll­ten sie nie ver­ges­sen. Sie haben ein kul­tu­rel­les Erbe hin­ter­las­sen, das uns alle über­le­ben wird.

Info: www.sergiocammariere.com

Sergio Cammariere – Diskografie
2017: «Piano»
2016: «IO»
2014: «Mano nella mano»
2012: Sergio Cammariere»
2009: «Carovane»
2008: «Cantautore Piccolino»
2006: «Il pane, il vino e la visio­ne»
2004: «Sul sen­tie­ro»
2002: «Dalla pace del mare lon­ta­no»
1993: «I ricor­di e le per­so­ne»

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2010

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