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EDITORIAL Nr. 109: luck­less – suc­cessful­ly

Von Lukas Vogelsang – Wir pfle­gen an Neujahr zurück­zu­schau­en auf das ver­gan­ge­ne Jahr und ver­su­chen, auf obsku­re Arten in die Zukunft zu blicken. Nur weni­ge schaf­fen es dabei, die Verbindung der Kausalitäten von Vergangenem in die Zukunft zu ver­fol­gen und die ent­spre­chen­den Rückschlüsse zu zie­hen. Dabei wäre dies wesent­lich ein­fa­cher als die Interpretation von Kaffeesatz und Tarot-Karten. Und wenn wir etwas ehr­li­cher wären mit uns sel­ber, wür­den wir vie­le Dinge über die Zukunft sehr wohl wis­sen. Nur: Wollen wir das wirk­lich? Das Mutmassen lässt uns oft in der erträg­li­che­ren Illusion, und vor allem gau­kelt es uns mehr Freiheiten vor.

So glau­ben wir lie­ber dar­an, dass die Menschheit doch noch zur Vernunft kom­men wird, als dass wir akzep­tie­ren, dass Autofahrer heu­te beim Fussgängerstreifen Gas geben – statt zu brem­sen. Bei Gefahren scheint sich der Mensch heu­te gegen­tei­lig zum Verstand ver­hal­ten zu müs­sen, viel­leicht um das «Ich» beson­ders impo­sant von den ande­ren abhe­ben zu kön­nen. Bei Regen ohne Licht mit 180 km/h über die Autobahn bret­tern, demon­stra­tiv Wasser aus atom­ver­seuch­ten Gebieten trin­ken, oder, schon fast banal, bei dro­hen­dem Regierungsumsturz die Opposition ein­fach nie­der­bal­lern. Als hät­ten die Philosophen die­ser Welt nie exi­stiert – dem guten Beispiel vor­an Immanuel Kant mit dem «kate­go­ri­schen Imperativ»: «Handle so, daß die Maxime dei­nes Willens jeder­zeit zugleich als Prinzip einer all­ge­mei­nen Gesetzgebung gel­ten kön­ne.» Dabei gehe ich natür­lich davon aus, dass wir gene­rell auf Fussgängerstreifen nicht über­fah­ren wer­den wol­len.

Davon schei­nen wir weit weg zu sein, und die neu­en Gesetze, die uns als ein­zi­ge Massnahmen der gesell­schaft­li­chen Massregelung in den Sinn kom­men, grei­fen nicht. Ich befürch­te gar, das Gegenteil ist der Fall: Der Mensch fühlt sich der­mas­sen iso­liert, dass ein neu­es Lebenskonzept die alten Entwürfe abge­löst hat: «Und jetzt bin ich dran.» Unter die­ser Voraussetzung wird unse­re gemein­sa­me Zukunft ziem­lich kom­pli­ziert.

Früher benö­tig­ten wir reli­giö­se Rituale und Bräuche, um die Gemeinschaften gei­stig eini­ger­mas­sen wach zu hal­ten. Besser war das natür­lich nicht – aber es gab eine Struktur und kla­re Machtverhältnisse. Die Kirchen haben schon lan­ge die­se gesell­schaft­li­che Funktion abge­ge­ben. Das Spektakel der Sünde hat die Logik und deren Sinn ver­lo­ren – Sünden? Welche Sünden? Unsere gesell­schaft­li­chen Vorbilder und Leithammel sind präch­tig fehl­bar, und die Herde läuft hin­ten nach. Wer den ver­meint­li­chen Erfolg nicht schafft, ist ver­ges­sen, nicht rele­vant und ein «Loser». Aus der Sicht der SVP zum Beispiel sind dies alle jene, die sich für sozi­al Schwächere ein­set­zen. Ich fin­de das fas­zi­nie­rend. Im Gegenteil: Heute wird Ausbeutung und Veruntreuung als Erfolgsmodel zele­briert und wer sich dem nicht beugt, wird aus­ge­schlos­sen oder fällt durch die Maschen des gesell­schafts­fä­hi­gen Siebs. «Eintritt ins Paradies», dies bis­lang als höch­ste Errungenschaft und Ziel eines Menschenlebens, haben wir im Gebärsaal auf ein Schild geschrie­ben (zumin­dest glau­ben wir das). «Nach uns kommt nichts mehr – also nimm was du kannst, jetzt.»

Deswegen: Jetzt wären Kulturkonzepte gefragt. Wenn wir uns schon kei­nen Religionen mehr anschlies­sen kön­nen, so wäre Arbeit an den Werten einer Gesellschaft durch Kulturpflege ange­sagt. Doch gera­de hier hat die Politik in den letz­ten 20 Jahren tief geschla­fen. Davor gab es gute Ansätze – die­se wur­den aber nicht ver­stan­den und, auch in kul­tu­rel­len Kreisen, viel zu wenig dis­ku­tiert. Eine klei­ne Minderheit denkt noch dar­an, doch stirbt die lang­sam aus oder aber ergibt sich in Hoffnungslosigkeit. In der Hauptstadt Bern gibt es kein Leitbild, Konzept oder Grundlage für kul­tu­rel­le Fragen mehr. Die Stadtpolitiker befan­den es nicht für nötig, min­de­stens alle vier Jahre eine Standortbestimmung wahr­zu­neh­men, oder doch zumin­dest ein­mal dar­über nach­den­ken zu müs­sen. In Zürich wie­der­um exi­stiert ein regel­rech­tes Handbuch über Kultur – doch wird die­ses fast kom­men­tar­los im Gemeinderat durch­ge­wun­ken – kei­ne Ahnung, ob das immense Werk, aus­ser vom Korrektorat, jemals von jeman­dem durch­ge­le­sen wur­de. Das erklärt auch, war­um die Selbstwahrnehmung von Zürich bezüg­lich dem Kulturellen mass­los dane­ben liegt. Nur geleb­te Kultur ist Kultur. Der Rest nennt sich «Kulturwirtschaft» und dar­in gel­ten die glei­chen abar­ti­gen Gesetze wie in jedem Wirtschaftsbereich. Und mit die­ser Wirtschaftlichkeit wird es sehr bald vor­über sein, wenn wir nicht umge­hend im Internet die Gratis-Literatur‑, ‑Musik‑, ‑Kino-/Film-Streamseiten in den Griff krie­gen. «Alles gra­tis» ist der Tod von jeg­li­cher Finanzierung, Wertschätzung, und jeg­li­chem künst­le­ri­schen Inhalt. Vor allem aber wird damit Kultur zur ein­fa­chen Unterhaltung für gelang­weil­te Menschen, die sich nur berie­seln las­sen wol­len. Und wohl­ver­stan­den: Nicht das Geld bestimmt die Kultur, aber deren Überlebensfähigkeit in einer kapi­ta­li­stisch und ego­zen­trisch fokus­sier­ten Welt. Deswegen argu­men­tie­ren PolitikerInnen in Kulturfragen ger­ne mit Begriffen wie: «Stärkung vom Wirtschaftsstandort», «Erhalt von Arbeitsplätzen» und «Förderung des Tourismus».

So. Und jetzt? Wie also sieht unse­re Zukunft aus? Male ich ein zu düste­res Bild? Schaffen wir es oder hof­fen wir nur, dass sich Menschen ver­än­dern kön­nen? Und was wol­len wir eigent­lich errei­chen – und was davon im Jahr 2012?

ensuite – kul­tur­ma­ga­zin, von der öffent­li­chen Kulturförderung als «nicht kul­tur­ver­mit­telnd» aus­ge­schlos­sen, wird Sie – mit Ihrer Unterstützung – auch durch die­ses Jahr beglei­ten, und hof­fent­lich mora­lisch wie­der auf­bau­en …


Foto: zVg.

Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 109 Bern, Januar 2012