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EDITORIAL Nr. 106: Kritik sei erwünscht?

Von Lukas Vogelsang – «Kultur ist die Zähmung von Kunst» – mein­te Pius Knüsel in einem Interview mit der NZZ vom 5. September. Stimmt nur eini­ger­mas­sen: Kultur, Moral, gesell­schaft­li­che Regeln sind Nährboden für die Kunst, um genau aus die­sen Strukturen aus­zu­bre­chen oder jene zu hin­ter­fra­gen. Nach sei­nen Worten jagt die «Kultur» also der «Kunst» hin­ter­her – ver­sucht ein­zu­fan­gen, was aus ihrer Natur her­aus befreit sein will. Ich wür­de wahr­schein­lich eher sagen: «Die Kritik ist die Zähmung von Kunst!» Allerdings gilt das auch für alle ande­ren Bereiche: Zum Beispiel für Kultur. Jetzt hat der schlaue Satz von Pius Knüsel natür­lich eine Absicht, denn es ist wesent­lich, wenn der Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia so was sagt. Im Interview geht es denn auch um den Kampf der Kulturstiftung um zusätz­li­che Gelder und dar­um, dass man ohne die­se zusätz­li­chen Gelder neue Aufgaben «mini­ma­li­sie­ren» müs­se. Die Suggestion, dass eine gut finan­zier­te Pro Helvetia die Kunst zäh­men könn­te, klingt doch gut als Fundament für poli­ti­sche Debatten. Aber sie ist falsch.

Bernhard Pulver, Regierungsrat und Erziehungsdirektor des Kantons Bern, schrieb in einer Kolumne: «Bildung plus Kultur erge­ben nicht bloss eine Summe, son­dern ein Ganzes! Sie gehö­ren zusam­men. Sie bedin­gen und befruch­ten sich gegen­sei­tig.» – Schöne Wahlpropaganda, ohne Inhalt. Von wel­cher Kultur redet er denn? Das neu­ste Angebot der Erziehungsdirektion heisst «Bildung und Kultur». Darin geht es vor allem um Kreativitätsförderung von Jugendlichen, nach­dem man mit all den Reformen von Schule und Früherziehung die Wege krumm gelegt hat. Pulver meint denn auch im glei­chen Text: «Wie käme die Gesellschaft vor­an ohne kri­ti­sche Köpfe, die gelernt haben, Bestehendes zu hin­ter­fra­gen?»

Stopp! Genau das ist die gros­se Lüge in der Kulturwirtschaft. Da wol­len wir die Jugend dazu erzie­hen, kri­tisch zu sein – doch wer kri­tisch ist, wird mund­tot gemacht. Wie vie­le «kri­ti­sche Kritiker» ken­nen wir denn noch? Wer nicht im Kanon singt, wird aus­ge­schlos­sen. Erinnern wir uns an die Hirschhorn-Debatte, oder jüngst an die Ladenkette Jelmoli, wel­che die Inserateaufträge bei der Tamedia sistiert hat, nur weil ein Journalist sich kri­tisch über die TV-Serien-Schaufensterdekoration einer Jelmoli-Filiale in Zürich geäus­sert hat­te. Es geht um Geld, um «Systemerhaltung» – prä­zi­ser müss­te man «Machterhaltung» sagen. Das Geld regiert, und wer in der Kultur – oder eben in unse­rer Gesellschaft – über­le­ben will, muss sich «adäquat» ver­hal­ten. Nehmen wir das Beispiel ensuite: Der Disput mit der öffent­li­chen Hand besteht dar­in, dass ich das System kri­ti­sie­re. Ich wider­sprach im Jahr 2003 einem hohen Beamten – danach hat­ten wir um die öffent­li­chen Fördergelder zu kämp­fen. Mit mei­nem Artikel «Grundlegende Spielregeln müs­sen ein­ge­hal­ten wer­den» (Nr. 104 / August 2011) habe ich die­sen Kampf auf­ge­ge­ben – nicht aber die Kritik. Im Gegenteil: Dieser Artikel hat den Finanzinspektor der Stadt Bern, Beat Büschi, und auch die Aufsichtskommission des Berner Stadtrats offi­zi­ell und selbst­stän­dig Untersuchungen star­ten las­sen. Meine Kritik war und ist berech­tigt, es gibt Fragen, denen man sich jetzt stel­len muss. Doch genau das Gegenteil hat man all die Jahre ver­sucht.

Sicher klingt es gut, wenn Bernhard Pulver sich kri­ti­sche Stimmen wünscht. Aber er muss dann auch der Erste sein, wel­cher sich die­ser Kritik annimmt, die Veränderungen auf Grund sei­ner Position ver­an­lasst, und die neue Verantwortung über­nimmt. Stellt er sich zum Beispiel den sich neu­er­lich anbah­nen­den Jugendkrawallen? Und wenn ja, wie denn?

Und ich hof­fe sehr, dass Pius Knüsel die Jagd nach Kunst auf­gibt, damit die­se wie­der frei sein kann. Pro Helvetia in Ehren – aber, bit­te, ver­sucht nicht die Alleinherrschaft zu über­neh­men. Der Begriff Kultur beinhal­tet mehr als Kunst. Mit der pro hel­ve­ti­schen Kulturpflege soll­te das Zusammenleben in Gemeinschaften geför­dert wer­den kön­nen, aber nicht im Sinne einer eige­nen, mono­po­li­sti­schen Machtstruktur. Kultur kann nur sein, wenn die Menschen, wel­che zu die­ser Kultur gehö­ren, dar­in noch atmen kön­nen und frei sind.


Foto: zVg.

Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 106 Bern, Oktober 2011