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Drei Filmausblicke vom 28. Internationalen Filmfestival in Fribourg (FIFF) in ver­schie­de­ne Lebensalltage

Von Walter Rohrbach – Sollte man Freiburg mit­tels eines Filmgenres beschrei­ben, wäre es wahr­schein­lich der Ritterfilm. Im mit­tel­al­ter­li­chen Charme prä­sen­tiert sich die Altstadt, wel­che sich mit zahl­rei­chen goti­schen Gebäuden und Bürgerhäusern zur Saane (frz. Sarine) hin ein­fügt. Gassen aus Pflastersteinen kom­bi­niert mit alten Sandsteinmauern schmücken eini­ge Ecken der um 1157 von Herzog Berchtold IV. gegrün­de­ten Zähringerstadt. Eine geeig­ne­te Kulisse, um Sean Connery hoch zu Ross in der Rolle des König Arthur um sei­ne Ehre kämp­fen zu las­sen. Passend wäre auch ein fran­zö­si­scher Liebesfilm, bei­spiels­wei­se an der Rue des Epouses in einem der char­man­ten, etwas her­un­ter­ge­kom­me­ne Cafés. Hier könn­te man an die vom Regen und Wetter gezeich­ne­ten und an Charakter rei­chen Holzstühle die wun­der­schö­ne Marion Cotillard zur Liebes- oder Trennungsszene plat­zie­ren, mit dra­ma­ti­schem Höhepunkt am stei­len Abhang der Funiculairestation. Ebenso ein Film der Trennung, der Einigung und des Aufstiegs wäre für Freiburg geeig­net. Der Steilhang glie­dert den Ort (Wiederholung!) in die Ober- und Unterstadt, wel­che (in frü­he­ren Zeiten) die Ober- von der Unterschicht trenn­te. Hier kämpf­te sich ein Unterschichtsjunge namens Jo (Joseph) Siffert mit viel Charisma und eini­gem Motorenöl im Blut zuerst in die Oberschicht, spä­ter zu Ruhm im Motorrennsport. Ein Mythos mit Verfilmungspotential. Ebenso die Saane sym­bo­li­siert eine Trennung – in Deutsch- und Westschweiz, der sich ein­drück­li­che, ver­bin­den­de Brücken wider­set­zen, um der Stadt ein Gemisch aus Deutsch- und Westschweiz zu geben. So steht die Stadt im Üechtland selbst, exem­pla­risch für die Darstellung von ver­schie­de­nen Lebensalltagen und ‑per­spek­ti­ven, wel­che im FIFF prä­sen­tiert wer­den.

Beispielsweise der Film «Pelo Malo» aus Venezuela. Die erste Einstellung täuscht, denn was weiss beginnt wird eher grau enden. Weiss und gepflegt ist ein­zig das Treppenhaus des Luxusapartments, wel­ches Marta anfangs rei­nigt. Allerdings nicht für lan­ge. Bereits in der ersten Szene erfolgt die Kündigung mit anschlie­ßen­der Odyssee der Arbeitssuche der allein­er­zie­hen­den Mutter. Junior, ihr Sohn, hat ande­re Probleme: jene schwar­zen Locken, wel­che sein jun­ges Haupt schmücken. So wun­der­schön sie dem Betrachter erschei­nen mögen, ihm miss­fällt die dich­te, gelock­te Pracht, und Junior wünscht sich nichts sehn­li­cher als glat­te Haare. Jene Haarform sei­ner Mutter, und die Vermutung liegt nahe, dass er auf die­se Weise die Nähe zu ihr sucht. Denn Nähe bekommt er wenig. Seine Mutter fin­det kei­nen Zugang zu ihm und lehnt jede kör­per­li­che Nähe zu ihm ab. Dies ganz im Gegensatz zum klei­nen Bruder von Junior, wel­cher im nied­li­chen und zuwen­dungs­be­dürf­ti­gen Alter viel Aufmerksamkeit von sei­ner Mutter bekommt. Sehr zum Missfallen von Junior, wel­cher ihm gegen­über eine Ablehnung auf­baut. Allerdings nicht eine fron­ta­le, die­sen Fehler hat die Regisseurin Mariana Rondón nicht gemacht, son­dern eher eine leich­te, der Situation ange­pass­te und ver­ständ­li­che Ablehnung. Dies ist aber nicht Hauptstrang und Reibungsgrundlage des 93-minü­ti­gen Spielfilms. Ebenso Juniors Haarglättungsversuche wel­che wie­der­holt zu Konflikten füh­ren, schei­nen nur als Symbol für die Trennung zwi­schen Mutter und Sohn zu ste­hen. Es wären ande­re Inhalte denk­bar, um den Konflikt dar­zu­stel­len, der ent­steht, wenn kon­kre­te Vorstellungen der Mutter mit unter­schied­li­chen Neigungen und Realitäten des Sohnes auf­ein­an­der­pral­len. Handlungsort ist das vene­zo­la­ni­sche Grosstadtplattenbauviertel Caracas, wo abwechs­lungs­wei­se die Mutter und der Sohn auf ihren Streifzügen beglei­tet wer­den. Die erschwer­ten Bedingungen einer allein­er­zie­hen­den und stel­len­lo­sen Mutter tra­gen wei­ter zu der Ohnmacht der Mutter bei, wel­che sich oft bei Junior ent­lädt. Gelungen ist die Darstellung und die lang­sa­me Zuspitzung des Konfliktes der bei­den Protagonisten. Ebenso die Einstellungen der Plattenbauten, wel­che die phy­si­sche und struk­tu­rel­le Enge der Kleinfamilie unter­mau­ert, fügen sich stim­mig in die Handlung ein. Das posi­ti­ve Echo und die Hauptpreise von Filmfestival von Montreal bis Thessaloniki sind ver­dient für einen Film aus einem Land, aus dem sonst nur wenig Cineastisches zu sehen ist.

Auch der Einstieg des Dokumentarfilmes «Un été avec Anton» führt in die Irre. Anton tanzt. Mit gros­ser Leichtigkeit bewe­gen sich sei­ne Arme rhyth­misch zur elek­tro­ni­schen Musik. Im Hintergrund eine Tapete, deren Farbstärke und Muster an längst ver­gan­ge­ne Zeiten erin­nern. Doch geschil­dert wird die Gegenwart. Eine, wel­che nicht in unse­re west­li­che, moder­ne Schablone passt. Handlungsort ist ein Provinznest irgend­wo im Süden von Moskau. Wir blicken ins Innere eines Landes, wel­ches uns seit der Krimkrise noch etwas frem­der gewor­den ist. Man beschäf­tigt sich plötz­lich mit der rus­si­schen Perspektive, um die Handlungen Putins zu erklä­ren. Ansonsten sind Russland als Land und sei­ne Bevölkerung ziem­lich unin­ter­es­sant und uner­wähnt in unse­ren Breitengraden. Der Film, von Jasna Krajinovic bie­tet einen inter­es­san­ten und erschrecken­den Einblick, indem sie den anfangs noch tan­zen­den 12-jäh­ri­gen Anton einen Sommer lang beglei­tet. Anton wohnt bei sei­ner Grossmutter (Babouschka), einem alten, fal­ti­gen Mütterchen, wel­ches aber eine gute und inni­ge Beziehung zu ihm zu haben scheint. Antons Eltern sind Alkoholiker, und sei­ne Mutter kommt ihn nur ab und zu besu­chen. Schon bald aber sieht man Anton beim Packen einer gros­sen Tasche und bei der Verabschiedung von Babouschka, wel­che in müt­ter­li­cher Weise, in ihren wie üblich far­ben­fro­hen Kleidern, deren Muster eher an Tapeten oder Vorhänge erin­nern, zum Abschied weint und winkt. Die Sommerferien sind ange­bro­chen, und Anton macht sich auf in ein Militärsommercamp. Was folgt, sind ein­präg­sa­me Bilder, die an ver­gan­ge­ne Zeiten erin­nern. Kahlgeschorene Burschengesichter in Kleidung mit grün-brau­nem Tarnmuster wer­den zur mili­tä­ri­schen Disziplin erzo­gen. Die Tage sind struk­tu­riert durch Märsche, Kampf- und Gefechtsübungen. Erschreckend sind die pro­pa­gan­di­sti­schen Unterrichtsstunden, in wel­chen der Lagerkommandant die Welt in Gut und Böse ein­teilt: Derzeit schei­nen das die ter­ro­ri­sti­schen Muslime zu sein, wel­che Russland zer­stö­ren wol­len. Besorgniserregend ist bei der Betrachtung sol­cher Szenen die Statistik: Ungefähr 60% der Jungen in Russland besu­chen Militärcamps die­ser Art, wel­che sie auf das har­te Leben vor­be­rei­ten sol­len. So argu­men­tiert auch Anton selbst: Er sieht sich als Junge, der es schwer gehabt hat und durch Drill und dis­zi­pli­nier­tes Training ein star­ker Soldat wer­den will, der Russland beschüt­zen soll. Jasna Krajinovic unter­lässt es, ihre Aufnahmen zu kom­men­tie­ren. Einerseits ver­stärkt sie damit deren Effekt, damit man sich bes­ser auf die Ereignisse kon­zen­trie­ren kann.

Interessant wäre es aber auch gewe­sen, die Perspektiven von Anton auf­zu­zei­gen, und sei­ne Lebensbedingungen in der rus­si­schen Gesellschaft ein­zu­ord­nen. Aus die­sem Grund sind wei­te­re Filme über den Lebensalltag der Russinnen und Russen wün­schens­wert.

Die erste Szene des indi­schen Filmes «Siddharth» spielt am Bahnhof von Delhi, wo Mahendra sei­nen 12-jäh­ri­gen Jungen Siddharth in den Norden des Landes zur Arbeit in die Fabrik schickt. In Indien ist die Kinderarbeit zwar ver­bo­ten, trotz­dem hat Mahendra sich ent­schlos­sen, den Jungen für vier Wochen zur Aufbesserung des Familienbudgets in eine ande­re Stadt zu sen­den. Ein fol­gen­schwe­rer Entscheid, wie sich bald erwei­sen wird, denn Siddharth trifft nicht wie ver­ein­bart zum Festival der Lichter (Diwali) zu Hause ein. Zuerst noch sorg­los an eine Verspätung glau­bend, kann Mahendra mit eini­gen Schwierigkeiten den Arbeitgeber von Siddharth aus­fin­dig machen und tele­fo­nisch errei­chen. Dieser erzählt, dass Siddharth bereits vor zwei Wochen weg­ge­lau­fen sei. Diese Version kann Mahendra nicht glau­ben, eben­so­we­nig die Polizei, an wel­che sich der zuneh­mend ver­zwei­fel­te Vater nach eini­ger Überwindung wen­det. Diese geht eher von einer Kindesentführung aus. Für die Suche bit­tet die Polizei den Vater um ein Bild und die Angabe des Alters des ver­schol­le­nen Jungen. Ein Bild aller­dings exi­stiert nicht. Ebenso das exak­te Alter kann Mahendra nicht auf Anhieb ange­ben. Dies lässt tief in die indi­sche Gesellschaft blicken. In einen Lebensalltag bestimmt von Armut, Hunger und dem täg­li­chen Kampf, irgend­wie mit der Familie über die Runden zu kom­men. Gelebt, geges­sen und geschla­fen wird in einem Raum mit Betonboden, der auf­grund sei­ner Kargheit und der feh­len­den Möbel am besten mit einer Garage zu beschrei­ben ist. Mahendra ver­dient das Geld für die vier­köp­fi­ge Familie als Reißverschlussreparateur (chain-wal­lah) und durch­streift täg­lich die Metropole von Delhi, wo er mit sei­nem Megaphon sei­ne Dienste anpreist. Reich wird man damit nicht. Aus die­sem Grund fehlt ihm auch das Geld für die Zugfahrt, um nach dem ver­schol­len Sohn zu suchen. So ver­streicht wert­vol­le Zeit, bis der mitt­ler­wei­le sehr ver­zwei­fel­te Vater das Geld für die Zugfahrt auf­brin­gen kann. Damit aber nicht genug: die Odyssee von Mahendra ist damit nicht abge­schlos­sen, und das Drama nimmt sei­nen Lauf. Es ist eine exo­ti­sche Welt, mit wel­cher der Zuschauer kon­fron­tiert wird. Der Film von Richie Metha ist Gesellschaftskritik und ‑ana­ly­se zugleich, die mit­tels der tra­gi­schen Handlung zum Ausdruck gebracht wird. Intelligent erzählt er die Geschichte der Machtlosigkeit, der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins auf­grund beschränk­ter Ressourcen. Ein Film, der berührt und betrof­fen macht und auf­zeigt, wie die Handlungsmöglichkeiten mit der Armut und der Stellung in der Gesellschaft ver­knüpft sind. Eine cinea­sti­sche Tragödie weit ab der bekann­ten Bollywood-Klischefilme, der ein­taucht in exi­stie­ren­de Realitäten. Von der Machart her erin­nert er stark an den eben­falls aus Indien stam­men­den Film «The Lunchbox». Allerdings kann «Siddharth» sicher nicht als Liebesfilm bezeich­net wer­den.

 


Filme:

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2014