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«Disko ist Egostreicheleinheit hoch sie­ben»

Von Hannes Liechti – In der Serie «Musik für» wer­den jeweils eine oder meh­re­re Persönlichkeiten aus dem Berner Kulturleben mit einer aus­ge­wähl­ten Playlist kon­fron­tiert. Diesen Monat trifft es den tür­ki­schen Immigranten Müslüm und sei­nen Macher Semih Yavsaner.

«Die Schweiz darf sich über ihr erstes Immigranten-Pop-Album freu­en», twit­ter­te Kutti MC unlängst in die Welt hin­aus. Und tat­säch­lich ist es Ende Monat soweit: Müslüm ver­öf­fent­licht ein­ein­halb Jahre nach «Erich, war­um bisch du nid ehr­lich?» sein Debut-Album. Im Gespräch über eine Playlist zum Thema «Liebe» ver­ra­ten Müslüm und sein Macher Semih Yavsaner, wie das neue Album klin­gen wird. Dabei ist die Rollenverteilung zwi­schen den bei­den nicht immer klar.

Elvis Presley
«Love Me Tender»
ab der Single «Love Me Tender» (RCA, 1956)

Müslüm: Elvis Presley – hat der eine Migrationshintergrund?

Nicht dass ich wüss­te. Er war Soldat und «Love Me Tender» damals ein bekann­tes Soldatenlied. (Recherchen haben erge­ben, dass Elvis tat­säch­lich hin und wie­der mit einem Roma-Migrationshintergrund in Verbindung gebracht wird, d. Red.)

Semih: Ich glau­be, die­ser Song sagt Müslüm nicht viel. Er wür­de ihn wahr­schein­lich sei­ner Freundin Roswitha nicht vor­spie­len, obwohl die Aussage an sich passt. Musikalisch könn­te das Lied sei­nen see­li­schen Zustand aber kaum in Frequenzen wie­der­ge­ben.

Müslüm: Ich bevor­zu­ge ana­to­li­sche Paarungsfrequenzen für mei­ne Paarungsverhalten.

Im Erich Hess-Song pro­pa­gierst Du das Motto: «Ich habe eine Traum, dass wir alle zusam­men füd­le­blutt auf eine Huufe lige und mit­ein­an­der Liebe mache» – Hast Du die­sen Traum auf Deinem Debutalbum «Süpervitamin» immer noch?

Müslüm: Natürlich! Die Liebe ligt auf mei­ne Zunge. Ihre Name ist Süpervitamin. Eine Medizin, die die kran­ke Menschen gesund macht, wie eine Placebo. Süpervitamin soll alle zusam­men müsi­ka­lisch in Stimmung brin­gen, und das Bevölkerungswachstum für die näch­ste 30 Jahre in die Schweiz garan­tie­ren.

Celine Dion
«My Heart Will Go On»
ab dem Album «Let’s Talk About Love» (Epic, 1997)

Müslüm: Wenn ich mit Roswitha auf einem Schiff auf dem Brienzersee wäre und die­ses Lied wür­de gespielt, das Schiff wür­de von sel­ber unter­ge­hen, weil die Musik so schlecht ist.

Titanic läuft jetzt in 3D in den Kinos. Gehst Du manch­mal auch ins Kino?

Müslüm: Ich ste­he mehr auf Serien. In den 80er-Jahren habe ich mir Nightrider ange­schaut. Ein gros­ses Vorbild für mich, wir haben auch viel gemein­sam: Brusthaar, schnel­le Autos, Alkohol. Aber eigent­lich gehe ich nicht ins Kino. Ich blei­be zu Hause und mache Party mit Roswitha.

Semih, hat Müslüm über­haupt einen Sinn für Romantik?

Semih: Ich glau­be, Müslüm ist vor allem von der Melancholik der tür­ki­schen Musik ange­tan. Er ist innigst und zutiefst emo­tio­nal mit Roswitha ver­bun­den. Wenn es auf dem Balkon genug Platz hat und die Satellitenschüssel gera­de nicht im Weg steht, dann könn­te ich mir schon vor­stel­len, dass er sie zu einem roman­ti­schen Abendessen auf sei­nem zwei Quadratmeter gros­sen Minibalkon aus­führt.

Seit Neustem hast Du eine Sendung auf DRS1, letz­tes Jahr hast Du Stadttouren gemacht, beim Bund Essay-Wettbewerb warst Du Moderator – hast Du über­haupt noch Zeit für die Liebe?

Müslüm: Eigentlich habe ich gar nicht so viel gemacht. Ich habe nur Liebe gemacht!

Semih: Es war mir wich­tig, nach dem gros­sen Rummel um den Erich Hess-Song nicht ein­fach die Gunst der Stunde zu nut­zen und irgend­et­was in die Runde zu wer­fen. Ich woll­te mir genau über­le­gen, was jetzt die Folgesteps sind: text­lich, inhalt­lich, musi­ka­lisch … Das hat mich viel Kraft geko­stet und letzt­lich zu «Süpervitamin» geführt. Ganz ehr­lich: Viel pas­siert ist nicht. Ausserdem hat­te ich letz­tes Jahr noch einen Bandscheibenvorfall und eine Operation.

Gloria Gaynor
«I Will Survive»
ab dem Album «Love Tracks» (Polydor, 1978)

Semih: Dieser Sound erin­nert mich an mei­nen Onkel. Der hat in den 70er-Jahren oft im ehe­ma­li­gen Berner Mocambo-Club abge­han­gen und war der ulti­ma­ti­ve Gigolo. Nachdem er spä­ter aus­ge­wie­sen wur­de, hat er in der Südtürkei in sei­nem alten Renault die­se Sachen wie­der ange­hört und allen von sei­nen Räubergeschichten erzählt, als er im Mocambo auf sei­nen Jagdzügen war. Oder als er Tuberkulose hat­te, da sei er in der Nacht durch das Fenster abge­hau­en und habe im Mocambo Party gemacht, und sei dann am Morgen wie­der zurück ins Spital gegan­gen.

Zum Thema Liebe gehört auch Trennung. Dieser Song han­delt davon, wie sich eine Person von einer Trennung erholt und den Schmerz ver­ar­bei­tet. Hat Du auch schon Trennungsschmerz erlebt, Müslüm?

Müslüm: Ich bin Wochenend-Single. Von Montag bis Freitag bin ich mit Roswitha zusam­men. Ich habe den Trennungsschmerz jeden Freitagabend, wenn ich mei­ne Ring aus­zie­he und mei­ne Single-Chetteli anzie­he.

Semih: Wahrscheinlich singt Roswitha dann «I Will Survive» und Müslüm «I Can’t Get no Satisfaction».

Tarkan
«Simarik»
ab dem Album «Tarkan» (PolyGram, 1998)

Semih: Tarkan! Das ist Türkei, das ist Heimat. Unsere Generation ist Tarkan. Roswitha ist übri­gens auch ein gros­ser Fan von ihm.

Müslüm: Ich habe Streit gehabt mit Roswitha, weil sie sich immer wie­der das Video zu die­sem Song ange­schaut hat. Aber ich tole­rie­re es jetzt: Wenn es um den Trieb gehen wür­de, wäre ich Tarkan weit über­le­gen.

Semih: Müslüm hat Tarkan lan­ge als Konkurrenz wahr­ge­nom­men. Mittlerweile konn­ten sie sich aber anfreun­den und Müslüm tanzt sogar zu die­ser Nummer.

«Simarik» war ja sehr popu­lär hier­zu­lan­de. Der Song hat es bis auf den drit­ten Platz der Singlecharts gebracht. Worum geht es in die­sem Text eigent­lich?

Semih: Um einen Typen, der eine bestimm­te Frau rum­krie­gen will, dies aber nicht auf die Reihe kriegt. Vielleicht ist er gera­de des­halb von ihrem fre­chen und arro­gan­ten Auftreten so ange­tan. Wenn er sie erwi­schen wür­de, wür­de er sie küs­sen, singt er im Refrain mit den bei­den berühm­ten Küssen; der Türke ver­steht hin­ter die­sen harm­lo­sen Küssen aber noch mehr …

Und wie ist Dein Verhältnis zu Tarkan?

Semih: Tarkan ist der Michael Jackson der Türkei. Müslüm hat sich für sein neu­es Album bei Tarkan sicher­lich auch inspi­rie­ren las­sen. Tarkan hat in den letz­ten Jahren aber ziem­lich abge­ge­ben. Vermutlich muss­te er sich in einem Vertrag ein­mal dazu ver­pflich­ten, end­los Alben und Hits zu pro­du­zie­ren. Das ist zu einer ziem­lich lieb­lo­sen Geschichte aus­ge­ar­tet. In der Zeit von «Simarik» war er aber noch toll, da hat­te ich ihn mir auch noch ange­hört. Es gibt natür­lich ande­re Lieder, die inhalt­lich und musi­ka­lisch weit­aus mehr zu bie­ten haben als «Simarik». Aber logisch, das ist der kom­mer­zi­ell­ste Hit. Tarkan hat in der Türkei übri­gens das Militär ver­wei­gert und ist dort des­halb bei Manchen auf nega­ti­ve Resonanz gestos­sen.

Müslüm
«Diskothek»
ab der Single «Diskothek» (Muve Recordings, 2012)

Das ist Deine neue Single, die bereits Anfang April erschie­nen ist.

Semih: Über die Disko kann man ja eigent­lich nicht mehr viel erzäh­len. Und doch bringt der Song ziem­lich genau auf den Punkt, was in der Disko letzt­end­lich wirk­lich abläuft.

Müslüm: «Diskothek» erzählt die Geschichte, wie ich Roswitha ken­nen­ge­lernt habe. Wie die Geschichte wei­ter­geht, folgt auf dem neu­en Album.

Im Lied singt Müslüm: «In der Disko kom­mu­ni­ziert man mit dem Chörper, kei­ne kom­pli­zier­te, frem­de, schwie­ri­ge Wörter.» Können Südländer bes­ser tan­zen als Schweizer?

Semih: Nach all den Jahren Nightlife kann ich bestä­ti­gen, dass die­ses Klischée tat­säch­lich exi­stiert – ich habe das immer wie­der von Frauen gehört. Ich glau­be, der Schweizer könn­te zwar auch tan­zen, der Ausländer bevor­zugt aber den kör­per­li­chen Dialog.

Auf den Schweizer Radiostationen ist der Track bis­lang noch über­haupt nicht gelau­fen.

Semih: Auf You-Tube ist Müslüm seit drei bis vier Jahren eine gestan­de­ne Grösse, die Radiostationen haben das bis jetzt aber noch nicht begrif­fen. Ich den­ke, dass die­ser Mix – wir spre­chen ja hier neu­er­dings von Immigranten-Pop – schon ziem­lich inter­es­sant wäre. Musikalisch bewe­gen sich die Songs auf einem hohen Niveau und wür­den auch inter­na­tio­nal bestehen. Auf «Diskothek» hat etwa der liba­ne­sisch-schwei­ze­ri­sche Komponist, Gitarrist und Oud-Virtuose Mahmoud Turkmani die Oud ein­ge­spielt. Die Frage ist, wer von den Radiostationen den ersten, inno­va­ti­ven Schritt wagt? Oft bekom­me ich zu hören, dass ich wegen dem Erich Hess-Song poli­tisch behaf­tet sei. Unpolitischer als «Diskothek» geht es nun aber wirk­lich nicht mehr!

Hast Du neben Turkmani noch ande­re Gäste auf dem Album mit dabei?

Semih: Es sind noch sehr span­nen­de ande­re Musiker dabei. Wer das ist, will ich aber noch nicht ver­ra­ten.

Zurück zum Song: Ist die Diskothek Völker ver­bin­dend?

Semih: Disko ist extrem inhalts­los, das ist Egostreicheleinheit hoch sie­ben. Auch das Cover von Müslüms Single geht in die­se Richtung. Ich glau­be, er ist noch nie so selbst­ver­liebt im Licht gestan­den, wie auf dem Diskothek-Cover. Das wird sich ändern, wenn «Süpervitamin» her­aus­kommt. Ich den­ke aber schon, dass in der Disko eine Art «müsi­ka­li­sche Integration» statt­fin­det.

Das funk­tio­niert aber nicht, wenn Türsteher nur Schweizer rein­las­sen.

Smih: Ich habe die­se Erfahrung auch schon gemacht und bin nicht in eine Disko gekom­men, nur weil ich Türke war und einen C‑Ausweis hat­te. Ich glau­be, vie­le Clubs leben in die­ser Illusion, dass ihre Besucher irgend­ei­nem Ideal ent­spre­chen und sich in einem homo­ge­nen Pool ein­fü­gen müs­sen, damit am Schluss eine gute Party ent­steht. Es ist erschreckend, was hier abgeht, aber was willst du dage­gen tun?

Müslüm: Ich habe eine Traum, dass wir ein­mal alle zusam­men mit der Cümülüs-Charte über­all rein­kom­men!

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2012