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Die Welt und sich ver­ste­hen

Von Dr. Regula Stämpfli - Grosse Autorinnen schrei­ben Tagebuch. Da kon­trol­liert, kor­ri­giert, klug­scheis­sert nie­mand; der weib­li­che Geist ist unüb­lich frei. Kafka führ­te Tagebuch, Susan Sontag auch, Hannah Arendt schrieb Briefe und alle drei übten sich wie­der und wie­der dar­in, sich sel­ber in der Welt, in die sie gewor­fen wur­den, zu situ­ie­ren. Und zwar für alle Ewigkeit, ein Paradox der Linearität. Geht es um Zeitgeschichte, um die Poesie des Daseins, sind Literatinnen weit vorn. Zwar mein­te mei­ne erst kürz­lich ver­stor­be­ne Freundin B., das männ­li­che Geknatsche von Karl Ove Knausgård sei das beste Buch, das sie je gele­sen habe, doch dar­über und ihren Tod muss­te ich bit­ter­lich wei­nen. Denn die Vorstellung, einem Mann zuzu­hö­ren, der in unzäh­li­gen dicken Bänden nur über sich schreibt, einen davon «Mein Kampf» nennt – wie ori­gi­nell, die Presse schnauft: «pro­vo­kant» –, ist für mich, die weiss, dass wer nur ein Privatleben führt, den Sinn von Menschsein schon längst ver­wirkt hat, ja als Inkarnation des «auto­ri­tä­ren Charakters» nach Theodor W. Adorno gel­ten kann, kaum zu ertra­gen. Vor allem auch dann nicht, wenn die Presse, wie die­ses Jahr an der Frankfurter Buchmesse, titelt: «Die Wikinger kom­men» – Radio SRF. Nein. Vom Norden und von leben­den Männern soll­ten wir uns bei Autobiografien, bei poe­ti­schen Umsetzungen kind­li­cher, jugend­li­cher Erinnerungen fern­hal­ten.

«Stop. Falsch. Rückwärtsgang.
Wer ist schon ‹uns›?
Nicht in die Vielfalt spucken.
Ich habe mich vom Zeitgeist arg mani­pu­lie­ren las­sen.
Der Zeitgeist, der einem Beerdigungsinstitut gleicht, wenn er Kategorien wie jung, alt, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe auf Poesie anwen­det.
Ich bin schockiert, dass selbst mir dies pas­siert, und rea­li­sie­re: Der Mensch ist das übel­ste und radi­kal­ste sozia­le Wesen. Nichts geht an ihr, ihm vor­bei, selbst wenn sie mit gröss­ter Hingabe und Intelligenz der Freiheit frönt.»
(laStaempfli, Tagebucheintrag 19.12.2019)

Wer die Welt und sich ver­ste­hen will, soll in alten Tagebüchern und poe­ti­schen Transformationen der eige­nen Kindheit und Jugend stö­bern. Christa Wolf schil­dert in «Kindheitsmuster» ein­drück­lich, wie ein hoch­in­tel­li­gen­tes, scheu­es und dun­kel­haa­ri­ges Mädchen dank der Schulzeit, dem Bund deut­scher Mädel (BdM) und sei­nen NS-Eltern bis 1945 unver­brüch­lich an den Führer glaub­te. Deborah Feldmans «Unorthodox» und Jeanette Wintersons «Warum glück­lich statt ein­fach nur nor­mal?» sind eben­so Bücher, die, wie kein Staatskundeunterricht dies jemals tun könn­te, den Weg aus selbst- und fremd­ge­wähl­ten Gefängnissen wei­sen. Beide Schriftstellerinnen erzäh­len vom Wert der Aufklärung, Emanzipation, Befreiung über das Menschsein hin­aus. Es sind zau­ber­haf­te Coming-of-Age-Befreiungsgeschichten; tau­send­mal bes­ser als fast alle Jungmann-Fantasien der alten Babyboomer, die statt der Mutter immer und immer wie­der den unend­lich lang­wei­li­gen Vater aus­packen. Es gibt auch hier eine gros­se Ausnahme: «Junger Mann» von Wolf Haas. Der schma­le Band ist so gut, dass man ihn nicht beschrei­ben, son­dern ein­fach nur lesen soll.

Individuelle Neugier, Selbstzweifel, Kritik und immer wie­der die Poesie, die Literatur als Weg zur Befreiung: «Erinnerung eines Mädchens» von Annie Ernaux. Das Feuilleton hat dar­aus eine klas­si­sche Frauengeschichte von Sex, Scham und Feminismus gemacht, dabei ist die­ser Band was ganz ande­res. Es ist die Sprache, die Welt, der Mensch, der in Form von Menstruationshintergrund auch fähig ist, Freiheit zu den­ken. Diese Wort-Aneignungen wer­den indes­sen von den mei­sten Bibliophilen bei­der­lei Geschlechts wie­der und wie­der mit Absicht falsch ver­stan­den, denn Frauen sind auch für Frauen immer das «ande­re Geschlecht», das nie und nim­mer eige­nes Sprechen erfin­den darf, das das Potenzial hat, Öffentlichkeit zu mar­kie­ren. Deshalb sind Frauen als Schriftstellerinnen in der gros­sen Mehrheit, vor allem die gegen­wär­ti­gen Preisgekrönten, so gut dar­in, Frauen in ihren Romanen zu zer­stückeln, sie in per­ver­ser Destruktion als Wegwerfvieh für immer und ewig fest­zu­ma­chen. Wir haben an ande­rer Stelle über sol­che Werke gespro­chen, die sich wüh­len und strecken in den klas­si­schen Frauenwaffen von Rufmord und bru­ta­ler Exkommunikation. Annie Ernaux weist stel­len­wei­se auch auf die Opferbereitschaft ihres Geschlechts als Entschuldigung in Form von Scham hin. «Das gros­se Gedächtnis der Scham ist viel kla­rer und erbar­mungs­lo­ser als jedes ande­re.» Dies ist übel, zumal Annie Ernaux zu wenig reflek­tiert, dass die­se Scham aus ihrem klein­bür­ger­li­chen Milieu stammt und nicht allen Frauen die­ser Zeit eigen war. Man den­ke nur an die Filme der dama­li­gen Zeit, deren ganz eige­ne weib­li­che Ausdruckskraft die Mütter der Töchter der heu­ti­gen Millennials unglaub­lich stark zu prä­gen ver­moch­te. Ich sehe hier mei­ne Mutter. Eine wahr­haf­ti­ge Naturgewalt, die so gar nicht in das Raster der Frauengeschichtsschreibung passt. Noch viel weni­ger als ihre Freundinnen.

Es ist die Tragik der 1950er-Jahre, die im Vergleich zu den Kriegsjahren vie­len jun­gen Frauen eine Freiheit brach­te, die ihre Mütter nicht ken­nen durf­ten und die im Mief klein­deut­scher, alt­na­zi­fan­ta­sti­scher Weltwirtschaftswunder und Fussballkotze unter­geht. Frankreich wird in der euro­päi­schen Literatur wie­der und wie­der durch ähn­li­che Kräfte besiegt: kläg­li­che Übersetzungen, mick­ri­ge Besprechungen, schwei­ze­risch-deut­sches Kleingeistigtum. Martin Ebel, der Kritiker für SRF und den «Tages-Anzeiger» mani­fe­stiert sich bei Annie Ernaux so: «Literatur #MeToo 1958.» Die gros­se Poesie von Annie Ernaux redu­ziert er auf «ihr grau­en­haf­tes erstes Mal». Zwar meint Ebel, der Ausschlag gege­ben hat für den femi­ni­sti­schen Widerstand im Hashtag #dich­ter­dran, Ernauxs Werk sei «gros­se Literatur». Aber dies gesteht er Ernaux vor allem als Opfer, das sein eige­nes Ich noch nicht gefun­den hat, zu. Furchtbar. Denn nicht das Mädchen, nicht die Scham sind ent­schei­dend, son­dern «die Jahre». «Die Gesellschaft bekam einen neu­en Namen, sie hiess jetzt ‹Konsum-Gesellschaft›.» Die Kunst, durch die Erzählperspektive aus sich sel­ber eine histo­ri­sche Figur, aus sich sel­ber eine Repräsentantin einer gan­zen Generation zu machen: einer weib­li­chen, wie gross­ar­tig, wie unge­wohnt! Denn vie­le Feuilletonisten ver­pas­sen die Chance, das Allgemeine der Poesie Ernauxs zu erken­nen, viel­leicht auch, weil die Ernaux sel­ber auch noch mit 75 in der Pose des scham­be­haf­te­ten Mädchens blei­ben will. Weil Ernaux – anders als bei­spiels­wei­se Ifemelu in «Americanah» – nicht dem Wandel von Identität hul­digt, son­dern dem Stillstand geweiht ist. Es gibt bei Ernaux kei­ne Passage wie bei Chimamanda Ngozi Adichie wie die­se: «In Amerika bist du schwarz, Baby. (…) Wenn du einer nicht-schwar­zen Person von einem ras­si­sti­schen Vorfall erzählst, der dir wider­fah­ren ist, darfst du kei­nes­falls bit­ter klin­gen. Beklage dich nicht. Verzeihe. Wenn mög­lich, las­se es lustig klin­gen.» Bei Chiamanda Ngozi Adichie schei­tern nicht die Frauen, son­dern es schei­tert die Politik. Und dies ist die beste aller lite­ra­ri­schen Botschaften.

«Treibe die Natur mit der Heugabel aus, sie kommt doch immer zurück», meint Horaz in einem sei­ner Briefe, nicht wis­send, dass die Natur, die er beschreibt, Ausdruck der Kultur ist, in die er hin­ein­ge­wor­fen wird, und die fort­an als Natur der zeit­ge­nös­si­schen Generation den Stempel auf­drücken soll. Dies mer­ken eben nur die Frauen. Ausgerechnet sie, die der Natur hul­di­gen müs­sen und am eige­nen Leibe erfah­ren, wis­sen, dass sie nie natür­lich, son­dern immer künst­lich ist.

Das Unreflektierte in Männerbiografien besteht dar­in, sich nie wirk­lich anders als «natür­lich» zu defi­nie­ren und wie­der und wie­der über den Abstand zwi­schen die­sen Positionen nach­zu­den­ken, statt zu mer­ken: Es gibt den Graben zwi­schen Natur und Kultur nicht. Letztlich ist es immer die Kultur, die der Natur ihre Natur zurück­gibt. Auch letz­ter Satz steht schon seit Jahren in mei­nem Tagebuch, im Wissen, dass er irgend­wann von einem Mann gestoh­len, als eige­ner Gedanke aus­ge­ge­ben wird und die­ser in allen Zitatenwerken dafür belohnt wird. Männer? Lesen? Nun ja: Henry Miller ist oft sehr lustig: «Nur eins inter­es­siert mich wesent­lich, näm­lich alles das auf­zu­zeich­nen, was in Büchern weg­ge­las­sen wird. (…) Ich wur­de hier­her geschickt aus einem Grunde, den ich noch nicht klar erkannt habe. Ich habe kein Geld, kei­ne Zuflucht und kei­ne Hoffnungen. Ich bin der glück­lich­ste Mensch der Welt.» Henry Miller, femi­ni­stisch zer­pflückt von Kate Millet, erkennt als Geldloser, dass Paris vol­ler Armer ist, die doch noch Mensch blei­ben, wäh­rend in N.Y. schon längst die Kälte, die Boshaftigkeit, die Gier und der Exzess regie­ren. Anais Nins ero­ti­sche Fantasien sind Wegbegleiter vie­ler Frauen auf dem Weg zur Selbstfindung: eine wahr­haft weib­li­che Obsession, die dem Weltverständnis viel zu wenig Raum gibt. Simone de Beauvoir ist hier ganz anders. Sie ver­steht es, in «Die Mandarins von Paris» ihre ero­ti­sche Liaison mit dem Schriftsteller Nelson Algren zwi­schen Paris und den USA als phi­lo­so­phi­schen Weltentwurf zu for­mu­lie­ren. «Ich gab Ihnen mein Herz, aber nicht mein Leben», meint die Philosophin. Dies soll­ten sich alle Frauen mer­ken. Stephen Kings «Das Leben und das Schreiben», Kunderas «Unerträgliche Leichtigkeit des Seins», Charles Lewinsky mit «Melnitz» aus dem Jahr 2007 und den eit­len Elias Canetti, ja, kann auch frau lesen und bespre­chen, falls sie dies denn anders als bis­her ver­mag.

Eines wird bei allen Autobiografien klar: Frauen sind heu­te und gestern aus­ge­grenzt, im Stich gelas­sen, ver­ge­wal­tigt, ver­letzt, schwei­gend, opfern sich gegen­sei­tig, und trotz­dem gibt es eini­ge Poetinnen, Denkerinnen, Philosophinnen, die all die­se schwie­ri­gen Geburten hin­ter sich las­sen und zu flie­gen begin­nen. So wie Laure Adler, deren Biografie zu Hannah Arendt immer noch nicht über­trof­fen ist, und Gila Lustiger, die den besten Kriminalroman aller Zeiten geschrie­ben hat, ohne dass dies die euro­päi­sche Öffentlichkeit bis heu­te mas­sen­wei­se gemerkt hat: «Die Schuld der Anderen».