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Die Wahrnehmung als Spielball

Von Julia Richter – Bei Markus Raetz’ Kunstwerken ist auf den ersten Blick vie­les anders als man denkt. Vielseitigkeit und Raffinesse sei­ner Werke wer­den in einer Ausstellung von Druckgraphiken und Skulpturen im Kunstmuseum Bern ein­drück­lich demon­striert.

Dass eine auf einem Ölbild abge­bil­de­te Pfeife eigent­lich gar nicht wirk­lich eine Pfeife ist, haben wir bei René Magritte gelernt. Dass ein Drahtgebilde, je nach Perspektive des Betrachters, zwi­schen Rauchwölkchen und Pfeife oszil­lie­ren kann, ler­nen wir bei Markus Raetz: In Anlehnung an Magrittes «Ceci n’est pas une pipe» ent­wickel­te Raetz mit einer Pfeife aus Draht eine magisch anmu­ten­de Zwitterexistenz zwi­schen Rauch und dem den Rauch erzeu­gen­den Gegenstand.

Dieses Spiel mit der Wahrnehmung, die Interaktion der Kunst mit ihrem Betrachter gehört zum zen­tra­len Pfeiler des künst­le­ri­schen Schaffens von Markus Raetz. Das Kunstmuseum Bern wid­met nun dem 1941 in Büren an der Aare gebo­re­nen «Wahrnehmungsforscher» Raetz eine umfas­sen­de Ausstellung. Dabei liegt der Fokus einer­seits auf den druck­gra­phi­schen Werken des Künstlers. Andererseits wird eine Auswahl der von Raetz pro­du­zier­ten Skulpturen gezeigt. Diese Kombination erweist sich als ein gelun­ge­ner Paartanz von Zwei- und Dreidimensionalität und schafft fas­zi­nie­ren­de Einblicke in die Wechselwirkung ver­schie­de­ner Dimensionen.

Druckgraphiken neh­men in Raetz’ Werk einen wich­ti­gen Stellenwert ein: bis­her hat er mehr als 350 Werke in druck­gra­phi­schen Verfahren pro­du­ziert. Dies, obwohl die Druckgraphiken in der Kunstszene lan­ge stief­müt­ter­lich behan­delt wur­den. Die mit der Technik der Druckgraphik ein­her­ge­hen­de mecha­ni­sche Reproduzierbarkeit der Kunst und die Dominanz hand­wer­ke­ri­scher Aspekte füh­ren nach land­läu­fi­ger Auffassung zu einem Prestigeverlust die­ser Kunstgattung. Der schil­lern­de Charakter eines Van Gogh’schen Unikates ist bei Druckgraphiken nicht auf­zu­fin­den.

Dass der Kunstwelt durch die­se Vernachlässigung der Druckgraphik eini­ges ent­geht zeigt sich bei der Ausstellung im Kunstmuseum Bern. Denn wie Raetz mit sei­nen inno­va­ti­ven Graphiken beweist, sind das Potential und die Vielseitigkeit die­ser Kunstform beein­druckend: Die Verwebung von Unregelmässigkeit und Dynamik beim Kaltnadeldruck, das Darstellen male­ri­scher Flächen bei der Aquatinta-Technik, fas­zi­nie­ren­de Exaktheit und Präzision beim Kupferstich. Die Druckgraphik ermög­licht auch Einblicke in die Schaffensphase des Künstlers: etwa als Raetz bei der Bildfolge «Profil III» mit Zustandsdrucken vier­zehn Mal den glei­chen Frauenkopf por­trä­tiert – wobei in jedem Bild die Veränderung des Motivs, die model­lier­ba­re Topografie des Gesichtes fest­ge­hal­ten wird.

Neben die­ser Präsentation des weit­rei­chen­den Potentials druck­gra­phi­scher Techniken erreicht Raetz’ Werk, was bei reiz­über­flu­te­ten Betrachtern nor­ma­ler­wei­se schwie­rig zu errei­chen ist: es ver­mag zu ver­blüf­fen. Von wei­tem erscheint bei­spiels­wei­se die gebo­ge­ne Blechfolie im «Zeemansblik» wie ein durch ein Fernglas wahr­ge­nom­me­nes Aufeinandertreffen von Meer und Himmel am Horizont. Faszinierend sind auch Raetz’ bekann­te Wort-Metamorphosen, bei denen bei­spiels­wei­se aus einem «Tout» ein «Rien» oder aus einem «Ich» ein «Wir» wird. Die Verwandlung der Worte erschliesst sich den Betrachtenden erst beim Umrunden der Skulptur, die Bedeutung des Kunstwerkes muss «erlau­fen» wer­den.

Sowohl mit sei­nen Druckgraphiken als auch mit sei­nen Skulpturen beweist Raetz sei­ne Fähigkeit zur aus­ge­klü­gelt-spie­le­ri­schen Mehrdeutigkeit. Interessant sind hier­bei auch die Einblicke in Raetz’ Skizzenhefte, die in Vitrinen aus­ge­stellt sind. Sie zei­gen, wie er mit Worten spielt, wie er sei­ne intel­li­gen­ten Kunstwerke ent­wirft, sie durch- und wei­ter­denkt.

Raetz’ Kunst hat Unterhaltungswert, ohne dass dabei die Unterhaltung jemals banal wer­den wür­de. Denn die sub­jek­ti­ve Wahrnehmung der Betrachtenden wird zu einem wich­ti­gen Bestandteil der Kunst, und das Spiel mit Sehgewohnheiten, das Erzeugen von visu­el­len Illusionen machen deut­lich, dass das Erkennen der Wirklichkeit nie einen abso­lu­ten Wahrheitsanspruch hat.

Foto: zVg.
ensuite, April 2014