Von Philipp Spillmann – Mit dem konzeptionellen Zusammenbruch der Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem ergab sich in den letzten Dekaden eine breite Debatte um die Interpretation und Repräsentation von Fremdheit. Wo das Fremde zu finden ist, wie dessen Erscheinen zu werten oder dessen Entwicklung zu planen ist, gehört zu den Fragen, durch deren Antworten moderne Öffentlichkeiten ihre erlebte Identität markieren. Innerhalb dieser Topografie des Fremden ist das Fremde kein radikal anderes mehr, sondern ein dauerhaft in Verhandlung stehender Bestandteil gegenwärtig erlebter Identität. Gerade weil das Fremde von seinem Selbstbild abgesondert wird, wird es in die Öffentlichkeit eingeschlossen.
Ein aktuelles Beispiel dafür ist das Ausstellungsprojekt «Gasträume» der Zürcher «Arbeitsgruppe Kunst im öffentlichen Raum» (AG KiöR). Bereits der Projekttitel zeigt, welchen Ansatz die Arbeitsgruppe verfolgt. «Gasträume», das sind festgelegte Orte, die temporär zur Verfügung gestellt und im Jahrestakt bespielt werden. Damit lanciert die AG KiöR einen entwicklungsorientierten Diskurs, der Kunst im öffentlichen Raum parallel zur Standortentwicklung und deren Rezeption anhand klar vorgegebener Zonen positionieren kann. Die Arbeiten vervollständigen die «Gasträume» als Ausstellungsorte, eben weil sie ihnen als Orte gegenüber Fremdkörper sind.
Durch mehrere Kollaborationen, die Integration paralleler Ausstellungen und das Zusammenbringen von Künstlerinnen und Künstlern verschiedener Galerien und Off-Spaces zeigt sich «Gasträume» institutionell als vernetzendes Projekt. Demgegenüber wird durch die ausgewählten Arbeiten und deren geografische Dramaturgie eher eine Streuung erkennbar.
Die siebzehn diesjährigen Schauplätze konzentrieren sich auf zwei Gebiete, den Stadtteil zwischen Enge und Gessneralle und den Bereich entlang der rechten Hardbrückenhälfte, mit zwei Satelliten, am Bahnhof Altstetten und dem Zürichberg. Die Stadtentwicklung der Aussenquartiere oder der aufwertungsintensiven Gebiete wird mit der Ausweitung Richtung Altstetten zwar angesprochen, aber auch nur knapp erfasst. Die Arbeiten selbst sind sichtbar nach den Kriterien der Individuierung zusammengestellt. Zwischen den Themen, die sie behandeln und ihrem Umgang mit der Umgebung gibt es eher flexible Überschneidungen als konstante Gemeinsamkeiten. Es gibt Werke, die sich von ihrem Schauplatz abheben, jene, die etwas aufnehmen, etwas einbringen oder fast indifferent auftreten.
Die Installation «Ohne Titel» von Marco Fedele di Catrano zum Beispiel nimmt spezifisch auf, was vor Ort vorhanden ist. Er riegelte bereits bestehende Grauflächen des Duttweilerareals mit einem ungefähr zwei Meter hohen Maschendrahtzaun ab. In die an sich schon eingezäunte Fläche wurde erneut eine abgegrenzte Zone installiert. Die so entstandenen, absurd aussehenden Gitterkörper machen aus dem primären Raum einen Ort, an dem es nichts gibt ausser dem Zugang zu anderen, leeren Orten und markieren das Areal damit nicht nur als physische, sondern auch als kontemplative Leerstelle. David Renggli hingegen greift in die Wahrnehmung seines Gastraums ein, indem er die Zugänglichkeit des Werkes anhand der Betrachterperspektive thematisiert. Die drei auf dem Dach der Maaghalle installierten Neonskulpturen mit dem gemeinsamen Titel «SORRY – IRGEND – ÜBEN» sind vom Boden aus nur einzeln und bruchstückhaft, von den gegenüberliegenden Bürogebäuden hingegen vollumfänglich und privilegiert sichtbar. Die Arbeit «Battlefield» von Jérome Leuba macht sich ein typisches Stadtphänomen humorvoll zu eigen. Die Installation am Steinfeldplatz besteht aus einem halben Dutzend total demontierter, angeketteter, herrenloser Fahrräder. Diese würden normalerweise von der Stadtreinigung umgehend entfernt, denn Velos fallen kaum aus dem üblichen Erscheinungsbild. Niemand, der nicht von ihrem Verkaufswert als Kunstobjekte wüsste, würde sie wohl jemals von ihrem Ort entwenden. Demgegenüber verhalten sich die Arbeiten von Matt Mullican, Mathieu Mercier und Monica Bonvicini relativ austauschbar gegenüber ihrer Umgebung.
Neben dem Fokus auf die Auseinandersetzung mit konkreten Orten liegt ein weiterer Schwerpunkt der «Gasträume» bei den sozialen Aspekten von Urbanisierungsprozessen. Neben di Catrano, Bonvicini oder Renggli können hierbei vor allem die Werke von Annaïk Lou Pitteloud, Qiu Anxiong und Michael Kienzer hervorgehoben werden.
Während Kienzers Skulptur «Stylit» eine sieben Meter hohe, also ziemlich unerreichbare Brunnenpumpe, auch als humorvolle Paraphrasierung der Zürcher Wohnraumverknappung gelesen werden kann, fragt Pitteloud mit ihrer Arbeit direkt nach dem Einfluss der physischen auf die soziale Architektur. «Transpositions» ist eine auf einem knapp fünfzig Zentimeter hohen Zementsockel angebrachte Aluminiumtafel, die eine für den Platz illustrierte Visualisierung verschiedener persönlicher Distanzen zu anderen Menschen anzeigt. Das von einer soziologischen Studie aus den Sechzigern adaptierte Schema zeigt in konzentrischen Kreisen eine Grundrisskartografie eines scheinbar ausmessbaren Privatempfindens. Ein Blick auf das reale Geschehen auf dem Platz genügt, um zu sehen, wie weit die Realität von statistischen Modellen wie diesem entfernt ist, was direkt zu der Frage auffordert, wie weit sich Öffentlichkeit mit planerischen Mitteln bestimmen und gestalten lässt, ohne in asoziale Machtchoreografien auszuarten.
Insgesamt bietet «Gasträume» eine vielseitige Aufbereitung ausdrucksstarker Betrachtungen von gegenwartsrelevanten Aspekten des öffentlichen Raums. Ihr Ziel ist weniger, durch die Ausstellung ein stringentes Statement zur gegenwärtigen Situation «Öffentlicher Raum Zürich» abzugeben, sondern eher über den Subtext «Perspektivenpluralismus» Arbeiten auszusuchen, deren ortspezifische Auseinandersetzung mit bestimmten, von der Umgebung nicht zwingend abhängigen Begriffen des öffentlichem Raums sie für eine Diskussion über diesen nutzbar machen. «Gasträume» bietet ein kuratorisches Format, mit dem es bleibend möglich ist, urbane Fremdkörper – und damit eine entwicklungsfähige Diskussionsbasis für den öffentlichen Raum – hervorzubringen.
Gasträume
Diverse Orte in Zürich
www.stadt-zuerich.ch/gastraeume
Bis 14. September 2014
Bild: David Renggli, SORRY – IRGEND – ÜBEN, 2013, dreiteilig,
Neon, Stahl, jedes Element: 44 x 200 x 100 cm.
Courtesy des Künstlers & Galerie Peter Kilchmann, Zürich
Publiziert: ensuite Nr. 140, August 2014