(Constantin Seibt) –

Im ersten Teil ging es um die fundamentale Wende im Lesermarkt. Ihr Leben lang verkauften erfolgreiche Medien offiziell Informationen. Doch inoffiziell verkauften sie Gewohnheiten: das Frühstück mit Zeitung und den Abend mit Tagesschau.
Nun löst sich die Information vom Trägermedium, und das Geschäftsmodell bricht zusammen. Damit ändert sich das gesamte Produkt: Statt Halten eines Gewohnheitspublikums muss es seinen Markt immer wieder neu erobern.
Bis anhin bedeutete Qualität im Journalismus vor allem einen Industriestandard an Nicht-Enttäuschung. Das primäre Ziel war, die Leser nicht zu vertreiben. Dazu musste eine Zeitung vor allem Fehler vermeiden. Und zuverlässig ihren (mehr oder weniger hohen) Standard halten: an Faktentreue, Stil, Chronistenpflicht, politischer Linie.
Doch für die Zeitung von Morgen, egal ob Print oder Online, zählt eine ganz neuer Typ Zuverlässigkeit: zuverlässig Begeisterung hervorzubringen.
Nur: Wie macht man das?
Die Tageszeitung neu auch als Dame und Nutte
Zwar haben die Zeitungen auf die Krise reagiert, wenn auch hauptsächlich mit Sparprogrammen. Die wichtigste publizistische Frage war dabei: Wo nicht sparen?
Einige versuchten es mit der Nischen-Strategie. Sie massierten ihre Kräfte an einem Punkt: etwa im Lokalen, in der Meinung oder (wie der «Blick») in der Kriminalberichterstattung. Doch das Resultat waren schmale Blätter mit schmälerem Publikum.
Etwas erfolgreicher bei den Lesern waren die Zeitungen, die ihre reduzierten Kräfte täglich neu bei den grossen Themen sammelten. (Hier eine kurze Skizze zum Strategiewechsel des «Tages-Anzeigers».) Die also den Pflichtanteil an mittellangen Nachrichten reduzierten – zugunsten von Schwerpunkten, Hintergrund, Kür.
Die vornehme Formel für diese Strategie lautet: Die Tageszeitung wird zur täglichen Wochenzeitung. Aber man könnte dieselbe Idee mit gleichem Recht anrüchiger formulieren: Heute fahren auch seriöse Zeitungen eine Boulevardstrategie. Sie überlassen den Fluss der Nachrichten dem Netz und setzen die Themen selbst. (Oder genauer: Sie setzen auf Themen.) Damit arbeiten sie im Kern wie Boulevardblätter: Es geht nicht primär um die Nachrichtenlage, sondern um die Einfälle dazu.
Das zeigt: Die Leute, denen die Tageszeitung nur als verblassendes Auslaufprodukt gilt, sehen nicht genau hin. In ihrem Überlebenskampf mutiert die gute, alte, biedere, zuverlässige, bürgerliche Tageszeitung zu einem ziemlich aufregenden Hybrid von Tageszeitung, Wochenzeitung und Revolverblatt. Die Zeitung des 21. Jahrhunderts ist quasi Grand Dame, Bürgerin und Nutte in einem.
Damit ist die heutige Zeitung von ihrer Konzeption her ein aufregendes Produkt: die Zuverlässigkeit eines Pedanten, gepaart mit dem Blick eines Professors und den Überlebensinstinkten eines Verbrechers – der totale Journalismus.
Nur: Ganz so aufregend liest sich das Resultat nicht, bis heute jedenfalls. Und ist auch nicht allzu erfolgreich. Die Auflage auch besserer Zeitungen stagniert bestenfalls. Etwas fehlt.
Die vergessene Zutat: Kühnheit
Das Problem der Tageszeitung ist nicht nur der Mangel an Geld. Sondern auch an Gedanken.
Zwar haben die Tageszeitungen unter dem Druck der Krise ihre Formel für den täglichen Mix verändert. Aber sonst nichts. Ihr Produkt bleibt: der Mix. Dieser war früher einfach: alle Nachrichten plus eine Prise Unterhaltung. Heute ist er einiges komplexer. Beim «Tages-Anzeiger» gilt etwa die Faustregel, dass jeder veröffentlichte Text (idealerweise) in einer von drei Kategorien hervorragend sein sollte: in Stil, Relevanz oder Recherche.
An einigen Tagen gelingt das erstaunlich gut: Man findet oft zwei, drei wirklich hinreissende Artikel. An einigen Tagen sogar bis zu fünf oder sechs. Also genug, um einen Leser zufrieden zu machen.
In der Tat ist die Zeitung mit der Konzentration auf weniger, aber konsequentere Artikel besser als vorher. Nur löst auch diese Strategie das Kernproblem langfristig nicht: Wie das heutige Publikum – verwöhnt und zersplittert vom riesigen Informations- und Unterhaltungsangebot im Netz – eng an das Blatt gebunden wird. Und zwar so eng, dass es zahlt.
Um ihr Publikum zuverlässig immer wieder neu zu erobern, muss eine Zeitung mehr sein als eine Anthologie guter Texte. Denn auch gut gemachte Routine befriedigt, aber reisst niemand hin. So wie tüchtige Beamte zwar respektiert, aber nicht geliebt werden.
Doch geliebt werden ist das harte Geschäft der Medien im 21. Jahrhundert: Damit Leute auch in Zukunft abonnieren, damit die Paywall übersprungen wird, braucht es mehr als Zufriedenheit: Es braucht echte Überzeugung. Nur fehlt, um ein Publikum wirklich zu begeistern, die entscheidende Zutat: das Wagnis.
Ein öffentliches Wagnis fesselt ein Publikum durch weit mehr als nur den Thrill. Kühnheit schafft auch die Komplizenschaft: durch die gemeinsame Furcht vor dem Misslingen, durch die gemeinsame Erleichterung, wenn man noch einmal davonkommt.
Klassiker (das vornehmere Wort für Longseller) sind fast immer Kühnheiten von gestern. In der Literatur, in der Kunst, aber auch im Business: Henri Ford erfand neben seinem Ford‑T nicht nur den Fertigungsprozess neu, das Fliessband, sondern auch einen radikal neuen Kundenkreis: Er bezahlte die Arbeiter so gut, dass sie das Auto auch kaufen konnten. VW lancierte mit seinem Käfer in der Zeit der schiffgrossen Autos auch gleich eine neue Philosophie: Small is beautiful. Und Apple eroberte seine Anhänger mit radikal neuem Design und radikal neuen Produkten.
Kühnheit schafft zwischen Machern und Publikum etwas, was als gemeinsames Projekt begriffen wird. Es ist die Zutat, die ein Nice-to-have-Produkt in einem Massenmarkt zu einem Must-have-Produkt macht. Auch Zeitungen waren bei ihrer Geburt einst kühne Produkte, die Waffe des erwachenden Bürgertums.
Doch das ist 200 Jahre her.
Der Tabubruch – nur welcher Tabus?
Ganz verblasst ist der Geist nicht. Es gibt es immer wieder Momente, wo sich Leser mit dem Mut einer Zeitung identifizieren: bei einer atemberaubenden Enthüllung, bei einer berührenden Recherche, bei einer Analyse, die das Unbekannte benennt, was in der Luft liegt. Nur sind echte Enthüllungen und Geistesblitze auch in grossen Redaktionen seltener Stoff. Zwar förderbar, aber nicht industrialisierbar.
Die Frage ist, wo die systematisch arbeitende Kühnheit ansetzen sollte. Also welche Tabus gebrochen werden sollten.
Gesellschaftlich sind nur wenige übrig: Sex und Angriffe auf Politiker sind längst Industrieartikel. Und seit der Finanzkrise ist selbst Kritik an Banken und Managern tief in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft angekommen. Ausserdem sind einige der bestehenden Tabus sind schlicht sinnvoll: etwa ein Minimum an Höflichkeit, der Verzicht auf Verschwörungstheorien oder die Treibjagd gegen Minderheiten.
Der Weg nach rechts ist auch versperrt. Wie die Auflageentwicklung von «Weltwoche» und «Basler Zeitung» beweisen (beide verloren zweistellig Prozente), bleiben als Unterstützer nur ein paar missionarische Milliardäre.
Wo also Tabus brechen, ohne Dummheiten zu schreiben? Der Trick besteht darin – wie HBO – systematisch die eigenen Gewohnheiten zu brechen. Denn dies sind die Tabus, bei denen man kompetent ist: die der eigenen Branche. Und an Auswahl herrscht kein Mangel. Journalismus ist ein über Jahrhunderte erprobtes Gewerbe – kein Wunder, ist es in Ritualen erstarrt.
Die Frische, die Wucht, der Erfolg der HBO-Serien basiert nur oberflächlich auf dem Bruch amerikanischer Prüderie. Zwar gibt es Sex, Flüche, Verbrechen. Aber das ist das Gewürz, nicht das Fleisch. Entscheidend war bei HBO der Bruch mit den Konventionen der eigenen Branche.
HBO war auf mehreren Gebieten gleichzeitig Pionier. Es arbeitete mit Autoren als Verantwortlichen statt als Zudienern, mit der Eroberung der Nachtseite des Daseins als zentralem Serien-Stoff, mit dem Verzicht auf ein breites und der Konzentration auf ein überzeugtes Publikum, dem Setzen auf Geschichten statt auf Tests und mit veränderbaren Hauptfiguren statt ewig gleichen Charakteren. HBO brach systematisch die ästhetischen, produktions– und marketingtechnischen Regeln der eigenen Branche.
Das Resultat beim Publikum war mehr als Zufriedenheit: Komplizenschaft. Eine, die weit genug ging, nicht nur das Abonnement zu zahlen. Sondern die auch die Kabelgesellschaften einschüchterte, die von HBO höhere Gebühren wollten.
Der berühmteste Slogan von HBO hiess: «Es ist nicht Fernsehen. Es ist HBO.» Es ist die Revolte gegen das eigene Medium, die ein Publikum fesselt.
Und so ist das zentrale Erlebnis, das eine Zeitung heute noch der Leserschaft liefern kann, die Neuerfindung der Zeitung selbst.
Die Zeitung – ein ungeborenes Kind
Was würde HBO tun, angenommen es wäre ein Verlag? Sieht man die Tageszeitung, diese routinierte Riesenmaschine, einmal mit dem Blick der HBO-Bosse an mit ihrer Frage «Was könnte man Ungewöhnliches tun?» – dann kommt man sehr schnell auf sehr viel.
Hier nur eine unvollständige Skizze dessen, was fehlt, was neu, was riskant, was aufregend wäre.
- Weisser Fleck 1: Das Dunkle. Der riesige, finstere Bereich des Existentiellen wird im Journalismus höchstens gestreift: das Scheitern einer Ehe, das Sterben, die wahren Motive, Ängste, Nebengedanken – das Geständnis wäre eine kühne, neue journalistische Form
- Weisser Fleck 2: Das Helle. Erstaunlicherweise existiert auch das Gegenteil kaum: ein Journalismus der Freundlichkeit, der Höflichkeit, des Charmes. An positiven Journalismus gibt es fast nur das tote Verkäuferlächeln der PR-Artikel. Ein ganzes Genre ist zu erfinden.
- Weisser Fleck 3: Das Intellektuelle. Das Feld der Intellektuellen ist von den Intellektuellen verlassen. Dabei bestünde – wie etwa der Erfolg der «NY Review of Books» zeigt – enormer Bedarf nach Klarheit: nach den grossen Erzählungen zur komplexen Welt von heute. (Eine der erfolgreichsten Produktelinien, die ich kenne, ist wenn Journalisten zum Historiker der Gegenwart werden.)
- Weisser Fleck 4: Die Grossstadt. Die grossen Städte werden von ihren Zeitungen falsch angegangen: durch Lokalpolitik und Geographie. Dabei sind die grossen Städte im Kern Brutstätten des Ehrgeizes. Sie zerfallen in Szenen. Etwa in: Banker‑, Theater‑, Hiphop‑, Werber‑, Presse‑, Schwulen‑, Kunst‑, Politik- und weitere Szenen. Eine Zeitung bräuchte Szenenkorrespondenten, die die jeweiligen Karrieren, die Dos und Don’ts, die Skandale und Erfolge beschreiben. Und damit für ein neues Publikum unverzichtbar werden. Und die nervöse eklektische Energie der Städte ins Blatt übertragen.
- Ungenützte Ressource 1: Stil. Dieser ist die Hälfte der Botschaft. Warum zum Teufel kennen Zeitungen fast nur einen?
- Ungenützte Ressource 2: Fortsetzungen. Mit dem Konzept der Konzentration auf die grossen Themen betritt die seriöse Zeitung zwar das Reich des Boulevards. Was die seriöse Zeitung aber nicht beherrscht, ist die Kunst des Ziehens von Geschichten über mehrere Tage: Wie sehen Interviews, Recherchen, Geständnisse, Nachrichten als Fortsetzungsroman aus? Brauchen langfristige, mal eskalierende, mal ruhende Entwicklungen wie die Finanzkrise nicht auch im Print flexible, also blogartige Gefässe, die mal kurz, mal ausführlich, mal ironisch, mal Volkshochschule sind?
- Ungenutzte Ressource 3: Relaunches. Warum läuft die Erneuerung meist Top-Down? Und endet in mühsam kommunizierten Retouchen? Warum daraus nicht ein Ereignis machen, mit Leserkonferenzen, Redaktionskonferenzen, einen öffentlichen Wettbewerb der Ideen? Ein Spektakel, dass – da die Chefetage am Ende entscheidet – schon genügend zivilisierte Ergebnisse bringen wird? Das aber den Vorteil hat, dass mehr Leute sich mit dem Blatt identifizieren? Und dass der vermehrte Energieaufwand wieder eingespart werden kann, weil die Neuerungen nicht mehr endlos kommuniziert werden müssen? Und warum nicht ein rollender Relaunch, der nicht das Gesamtblatt, sondern Einzelteile renoviert?
- Ungenutzte Ressource 4: Expeditionsteams. Warum nicht aus dem Kern des Journalismus selbst ein Spektakel machen: den Fragen und der Recherche? Etwa mit Expeditionsteams in die Wirklichkeit, bei der ein Team über Wochen hinweg eine (von den Lesern bestimmte) ungelöste Frage bearbeitet, bis sie gelöst ist: Wie beeinflusst Lobbying die Politik? Verschwindet die Mittelklasse? Gibt es eine Möglichkeit, die Managerherrschaft wieder loszuwerden? Etc.
- Ungenutzte Ressource 5: Selbstausbeutung. Warum macht kein Verleger den Vorschlag, das Gehalt um 20 Prozent zu kürzen, dafür weitere Leute einzustellen und das beste Blatt der Branche zu machen? Die meisten Journalisten, die ich kenne, wären verrückt genug, darüber sogar glücklich zu sein.
Dies hier nur als rohe Skizze, wo man ansetzen könnte.
Morgen
Eine der ersten Haupteinwände gegen Obiges ist, dass es riskant ist: Bekenntnisjournalismus etwa könnte – schlecht gemacht – grausam peinlich werden, Expeditionsteams könnten sich in Details verlieren wie ihre Vorgänger in der Arktis – und der Gedanke an eine 20-Prozent-Lohnkürzung im Gegenzug für einen verlegerischen Plan ist schlicht ekelhaft.
Doch genau so sollten Ideen für eine Zeitung von Morgen sein: ohne echtes Risiko keine Kühnheit, keine Atemlosigkeit im Publikum, kein Beweis des Könnens der Redaktion.
Der zweite Haupteinwand ist ernsthafter: Die Grösse des Publikums. HBO hat das Glück, in den USA zu arbeiten. Hier zählt selbst ein überzeugtes Nischenpublikum (oder genauer bei HBO: mehrere Nischenpublika) Millionen von Köpfen. Die Monatsgebühr beträgt 12 Dollar. In der Schweiz kostet ein Zeitungsabonnement das drei- bis vierfache. Klappt das?
Dazu ist zu sagen: Die Alternativen sind kaum risikoärmer. Bis auf grosse Finanzblätter und die beste Zeitung der Welt, die «New York Times», hat die Paywall noch nirgends funktioniert. Fragt man in den Verlagsetagen in Deutschland oder der Schweiz nach, was das Geschäftsmodell in der Zukunft sein wird, ist die Antwort ein verständnisloses Schweigen: Das weiss doch niemand.
Und auf die simple Frage «Was ist unser Kerngeschäft in drei, fünf, fünfzehn Jahren: Print, Paywall oder Online-Reichweitenwerbung?» kommt die Antwort: irgendwie alles.
Das Beruhigendste, was die Verlagsbranche mitteilt, ist ein halbes Schreckensszenario: Fakt ist, dass die Gesellschaft stark überaltert. Und Zeitungen sind in der Seniorenunterhaltung führend – bei Leuten, die in ihrer Jugend die Gewohnheit der Zeitung beim Morgenkaffee annahmen. Das heisst: 20 Jahre geht das Geschäft sicher noch weiter. Nur gemeinsam mit dem Publikum schrumpelnd.
Etwas von Seltsamsten ist die Zuversichtslücke von Journalisten und Verlagsetage. Auf Verlegerkongressen herrscht die allgemeine Meinung: Wir machen ein hervorragendes Produkt. Das einzige Problem sind ein paar Professoren, die kritische Artikel über Demokratie und Presse schreiben. Und Google. Und die Subventionen für das staatliche Fernsehen.
Ich fürchte, das stimmt nicht. Das Produkt selbst ist faul. Die Zeitungen von heute sind zwar professionell gemacht. Und oft besser als ihr Ruf. Doch sie sind Produkte einer Vergangenheit, entworfen für ein Publikum, das aufhört, zu existieren. Und das gilt nicht nur im Print, sondern im Kern auch für die Online-Ausgabe. Beide sind nicht an eine neue, fragmentierte Leserwelt angepasst.
Um in der neuen Welt ihr Geschäft zu machen, muss die Zeitung mehr als nur ins Netz gebracht werden: Sie muss als Ganzes neu gedacht werden, weg von der Befriedigung des alten Gewohnheitspublikums, hin zur Erzeugung von Begeisterung und Überzeugung bei einem neuen. Die Zeitung braucht Können und Kühnheit: eine neue Ästhetik, neue Routinen, neue Ziele.
Wir müssen mit der Zeitung tun, was HBO mit dem Fernsehen getan hat: Das Medium neu zu erfinden. Das wäre die Aufgabe unserer Generation.
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