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Die Schweiz ist eine Insel

DSCF2496Von Lukas Vogelsang (Printeditorial Oktober 2015) – Für eine Pressereise nach München bin ich zum ersten Mal in Europa mit einem Reisebus gefah­ren. Zwar hät­ten wir in Bern einen Flughafen, mit zwei Flügen täg­lich nach München und zurück – doch am Wochenende fliegt kei­ner. Und da ich am Freitag los muss­te und am Samstag bereits zurück­rei­ste, hät­te ein Flug über 1 000 Franken geko­stet – mit einem Umweg über Berlin. Die Reisedauer wäre pro Strecke auf absur­de 7 Stunden ange­wach­sen. Mit dem Zug hät­te die Reise sechs Stunden gedau­ert – der Reisebus schaff­te es in fünf. Interessanterweise zu einem Preis, den nie­mand unter­bie­ten kann. Noch Fragen?

In München sel­ber erleb­te ich an einem Samstagmorgen Seltsames: Die Innenstadt, mit ihren 20 Meter oder noch brei­te­ren Fussgängerzonen und den vie­len Läden, war bereits um 10:30 Uhr voll. Man konn­te nicht mehr gera­de­aus gehen. Ich frag­te in einem Laden nach, ob etwas Spezielles los sei, und die Verkäuferin mein­te, das sei eigent­lich jetzt ganz nor­mal, wie unter der Woche. Der gros­se Ansturm käme erst noch. Doch es waren bereits mehr Menschen in den Gassen als bei uns am ersten Tag nach Weihnachten, oder an einer 1. Mai-Demo. Grosses Erstaunen bei mir auch, dass die Preise adäquat den Preisen in der Schweiz glei­chen. Die Umsätze müs­sen gewal­tig sein – und ich dach­te immer, dass vor allem wir in der Schweiz das Geld locker sit­zen hät­ten. Nur das Essen ist in Deutschland preis­wert: Ein Drink ist bei Schürmann (Münchner Kultlokal) teu­rer als zuvor das vor­züg­li­che Abendessen beim Italiener.

Auf dem Weg zurück zur Busstation: Der Hauptbahnhof wur­de von vie­len PolizistInnen und mit Absperrgittern abge­rie­gelt. Ein Reisecar stand bereit. Zuerst dach­te ich, dass irgend­wel­che Stars ankom­men. Aber per Zug? Erst nach­dem eine Polizistin laut­stark, aber kor­rekt, eine älte­re, pro­te­stie­ren­de Passantin zurecht­wies, und mein­te, das sei­en Flüchtlinge, und es gehe jetzt um die, und nicht um die deut­sche Wohlstandsgesellschaft, däm­mer­te es bei mir. Die unheim­li­che Stille, wel­che der ankom­men­de Tross aus­strahl­te, die Trauer, wel­che sich wie ein fei­ner Schleier über die Strasse leg­te, berühr­te mich tief. Ich habe so etwas noch nie haut­nah mit­er­lebt. Bisher war ich immer in siche­rer Distanz. Nur ein­mal, um den Jahrhundertwechsel in Mexiko, in Chiapas, wur­de ein paar Stunden spä­ter der indi­ge­ne Markt, auf dem ich zuvor ein­ge­kauft hat­te, von der Armee geräumt. Es gab vie­le Tote. Aber auch da war ich schon weit weg. Ich stand jetzt in München, in Europa, irgend­wie fast zu Hause. Die Flüchtlinge klop­fen hier an und suchen Schutz.

Ein paar Stunden spä­ter wur­de wegen einer Bombendrohung der gan­ze Münchner Hauptbahnhof gesperrt. Und fast zeit­gleich stopp­te auch Deutschland die Flüchtlingszüge und führ­te Grenzkontrollen durch. Die Nachrichten über­schlu­gen sich. Endlich in Bern ange­kom­men die Meldung, ein Auto sei gera­de bei einer Auseinandersetzung zwi­schen Türken und Kurden in eine Menschenmenge gefah­ren – es gab zum Glück kei­ne Toten, aber man sprach von 22 Verletzten. Am spä­te­ren Abend sties­sen noch Polizisten und eine anti­fa­schi­sti­sche Demo auf­ein­an­der. Es gab vor allem Sachbeschädigungen.

Da wur­de mir wie­der ein­mal bewusst, auf wel­cher Insel wir sit­zen. In der Schweiz betrach­ten wir das gesam­te Weltgeschehen vom siche­ren Hafen aus. Wir haben kei­ne wirk­lich sub­stan­zi­el­len Probleme und unse­re Krisenerfahrungen hal­ten sich in Grenzen. Es geht uns unglaub­lich gut. Das klingt immer so bil­lig und pla­ti­tü­den­haft, und doch: Nur wer in der Wüste Wasser sucht weiss, was Durst ist. Kein Wunder, sind wir gestresst von dem Leid, mit dem plötz­lich unse­re Medien voll sind. Das ist nicht mehr behag­lich. Es rüt­telt an unse­rem Selbstverständnis, und wir wis­sen nicht, wie wir damit umge­hen kön­nen.

Parallel zu all die­sen Geschichten fah­ren die Propagandamaschinen hoch. Da wer­den gefälsch­te Filme über die Social-Media-Kanäle ver­brei­tet, wel­che die Flüchtlinge als undank­ba­re Schmarotzer dar­stel­len. Die Nachrichtenquellen sind dif­fus, und es ist unklar, was man glau­ben soll und kann. Auch die Wohlstands-Antifaschisten, wel­che zwi­schen­durch Radau machen, ver­hal­ten sich längst nur noch lächer­lich und lästig. Es ist scha­de, dass ihnen die Gewaltbereitschaft wich­ti­ger ist, als sich mit der Realität aus­ein­an­der­zu­set­zen. Und mit Realität mei­ne ich nicht, sich spas­ses­hal­ber mit Polizisten zu prü­geln.

Im Grunde aber hat sich nichts wirk­lich ver­än­dert. Flüchtlinge gibt es seit Jahrhunderten. Krisen sind nor­mal. Das Geld regiert noch immer die Welt, und gerecht ist immer noch nichts. Putin tut alles, was dem Westen nicht passt, und für die Kriege im Nahen Osten ist der Westen genau­so mit­ver­ant­wort­lich. Atmen wir also ein­mal tief durch und beru­hi­gen wir uns. Und dann hel­fen wir, wo unse­re Hilfe gefragt ist. Wir sind ein Teil von die­ser Welt – auch wenn wir auf einer Insel sit­zen.

Bild: Münchner Bahnhof am 12. September 2015 – Die ersten Flüchtlingszüge kom­men an. (Foto: Lukas Vogelsang)