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Die neu­en Patriarchinnen: Wie Postkolonialistinnen miso­gy­nie­ren*

Von Dr. Regula Stämpfli – Unsere Essayistin prä­sen­tiert in Bild span­nen­de Bücher zum weib­li­chen Altertum, nimmt im Text das post­ko­lo­nia­le Werk von Angela Saini bru­tal aus­ein­an­der. Sie sieht in der Suche der reak­tio­nä­ren, digi­tal indu­zier­ten neu­en IdeologInnen die ongo­ing «Umschreibung der Welt», die letzt­lich alle noch exi­stie­ren­den Demokratien in Erinnerung, Gegenwart und Zukunft aus­lö­schen will.

Seit mei­ne drei Kinder an Eliteuniversitäten in Grossbritannien stu­diert haben, weiss ich aus näch­ster Nähe um die spe­zi­el­le Wissenschaftskaste der Postmoderne. Angela Saini ist dafür arche­ty­pisch: 1980 in London gebo­ren, in New York woh­nend, an der Universität Oxford mit einem ersten, am King’s College in London mit einem wei­te­ren Master aus­ge­zeich­net; Fellow am renom­mier­ten MIT in den USA und Journalismus-Stagiaire bei ITN und dann Redakteurin bei der BBC.

Irgendwas muss in die­ser makel­lo­sen Biografie dann schief­ge­lau­fen sein: Denn seit 2008 ist die hoch­be­gab­te Wissenschaftlerin frei­be­ruf­lich tätig. Ein Mann mit ähn­li­cher Berufserfahrung wäre sicher­lich Chefredakteur gewor­den. Die Britin «mit Herkunft» schrieb 2012 einen Bestseller im Büchermarkt der Millionen-Träume, dem Vielvölkerstaat Indien. «Geek Nation. How Indian Science Is Taking Over the World» han­delt von Ingenieurinnen, jun­gen Wissenschaftlern und ErfinderInnen. Angela Saini pro­phe­zeit die­sen die Macht, «der Welt die nächst­be­ste wis­sen­schaft­li­che Superpower» zu besche­ren. Indien, so Saini, sei eine Nation «nicht gebaut auf Eroberung, Öl oder Mineralien, son­dern errich­tet auf der wis­sen­schaft­li­chen Originalität von des­sen Menschen». Well – sol­che Sätze äus­sert auch die Hindutva-Bewegung respek­ti­ve das auto­ri­tä­re Konzept dahin­ter, das sich einem natio­na­li­sti­schen, poli­tisch-kul­tu­rel­len Hinduismus ver­schrie­ben hat und das im deutsch­spra­chi­gen Raum auch unter «Hindu-Faschismus» sub­su­miert wird. Seit Narendra Modi als Ministerpräsident Indiens regiert, weist Indien einen – mei­ner poli­to­lo­gi­schen Meinung nach – neu­en «Kasten-Faschismus» auf. Im Sommer 2023 liess Modi vor dem UN-Hauptquartier in NY alle Yoga-Fans auf­mar­schie­ren, und begei­stert mach­ten alle mit ihm beim «Yoga unter frei­em Himmel» mit. Richard Gere, der New Yorker Bürgermeister Eric Adams und der UN-Generalsekretär Csaba Körösi waren dabei. I mean: Hätten Tausende mit Viktor Orban vor dem UN-Hauptquartier getanzt, der Twitter-Sturm wäre gewal­tig gewe­sen. After all: Rassisten gibt man kei­ne Plattform, oder? Aber wenn es sich um einen Nichtweissen, einen sanft­mü­tig daher­kom­men­den und sich vege­ta­risch ernäh­ren­den Inder han­delt, schaut die post­ko­lo­nia­le Presse halt nicht so genau hin. Und bevor Sie fra­gen: Ja, auch Richard Gere hat geal­tert.
Weshalb schwei­fe ich ab? Das Buch: «Die Patriarchen. Auf der Suche nach dem Ursprung männ­li­cher Herrschaft» ist in Schrift und Inhalt ein selbst­de­kla­rier­tes «post­ko­lo­nia­les Werk» und als sol­ches vol­ler Misogynie gegen­über der euro­päi­schen und der US-ame­ri­ka­ni­schen Frauenbewegung des 19. und des 20. Jahrhunderts. Ich bespre­che es hier als typisch für alle neue­ren post­ko­lo­nia­len Geschichten, damit Sie wis­sen, wie momen­tan via Geschichtsschreibung anti­fe­mi­ni­sti­sche und anti­de­mo­kra­ti­sche Politik pro­pa­giert wird.

Angela Saini behaup­tet, dass sich in Genetik, Altertumsforschung, Literatur zum Patriarchat in den letz­ten vier­zig Jahren «wenig bis nichts» getan habe. Sie gibt der Presse Auskunft dar­über, dass es «Jäger- und Sammlerinnengesellschaften» nie gege­ben habe, und prä­sen­tiert dies als aus­ser­or­dent­li­ches «Finding». Mit Verlaub: eine sau­be­re Quellen- und Literaturforschung sieht anders aus. Schon in den 1980er-Jahren stand die Altertumsforschung punk­to Sexismen, Rassismen und Neodarwinismen im Zentrum femi­ni­sti­scher Kritik. Die Leerstellen von Saini betref­fend Literatur, Quellen und Debatten der ver­gan­ge­nen femi­ni­sti­schen Bewegungen ärgern nicht nur, son­dern sie sind zutiefst patri­ar­cha­len Mechanismen ver­pflich­tet. Dies ist es, was Frauen welt­weit ver­nich­tet; näm­lich so zu tun, als könn­ten Frauen in jeder Zeit, in jeder Gesellschaft, in jeder Kultur, in jeder Wirtschaftsform NEU BESCHRIFTET wer­den. Für Männer gibt es Universalität, für Frauen nur die Partikularität. Das Patriarchat hat einen eige­nen Kanon punk­to Literatur, Wissenschaft, bil­den­de Kunst und Politik. Dieser wird von allen Wissenschaftlern, auch den Frauen, als Referenz benutzt, ver­än­dert, fort­ge­schrie­ben. Manchmal fin­den dabei sogar eini­ge Frauen Erwähnung, Marie Curie zum Beispiel. Gleichzeitig wer­den die Gigantinnen der Geschichte immer wie­der NEU unter­drückt, ver­ges­sen oder ideo­lo­gi­siert. Die «Queering of Art» bei­spiels­wei­se behaup­tet, dass pro­mi­nen­te Frauen aus Geschichte und Mythologie eigent­lich alles «Transfrauen» gewe­sen sei­en. Jeanne d’Arc ist in die­ser Lesung ein Mann in Frauenkleidern und Elizabeth die Erste «non­bi­när».

«Männer haben nicht immer geherrscht, so wie wir uns dies u. a. von weis­sen Historikerinnen erzäh­len las­sen», behaup­tet Angela Saini. Mit Verlaub, das hat noch kei­ne seriö­se Historikerin behaup­tet. Aber dies ist Angela Saini egal: Hauptsache, Bashing weis­ser Frauen. Sie rühmt des­halb Indiens «matri­li­nea­re Kulturgeschichte» und beginnt ihr Buch mit der dop­pel­ge­sich­ti­gen Göttin Kali. Apropos matri­li­nea­res Indien: Die Witwenverbrennung wur­de zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur dank der bri­ti­schen Kolonialmacht ein­ge­schränkt und letzt­lich ver­bo­ten. Postkoloniale Historikerinnen deu­ten dies indes­sen gro­tesk um. Das Verbot der Witwenverbrennungen sei eine «kolo­nia­le Geste», die dar­in bestan­den habe, eine «Fake Story» der «indi­schen Frauen» zu kon­stru­ie­ren, die vor ihren «bar­ba­ri­schen» Männern hät­ten geret­tet wer­den müs­sen. Es sei nie um die Frauen gegan­gen, so auch Saini, son­dern nur um den Eigennutz der Kolonialisten. Ich wer­fe schüch­tern ein, dass die seit­her nicht ver­brann­ten Witwen dies viel­leicht anders sehen könn­ten …

«Die Patriarchen. Auf der Suche nach dem Ursprung männ­li­cher Herrschaft» bie­tet kei­ne «radi­ka­le Neuerzählung des Patriarchats», wie die Buchhülle ver­spricht, son­dern ent­wirft histo­ri­sche Grotesken, die jeden femi­ni­sti­schen Fortschritt der letz­ten 250 Jahre, vor­nehm­lich im Westen, anni­hi­lie­ren soll. Den ein­zi­gen «Westen», den Angela Saini und ihres­glei­chen gel­ten las­sen, ist die unter­ge­gan­ge­ne Sowjetunion. Deren «gros­ses Emanzipationsversprechen» habe die Frauen als ein­zi­ge Herrschaftsform qua­si ent­pa­tri­ar­cha­li­siert.

Dies geht im renom­mier­ten Hanserblau-Verlag ein­fach durch? Du mei­ne Güte! Und die Taliban ver­tei­digt Angela Saini, indem sie meint: «Manche mögen das Patriarchat, weil es ihnen passt, ande­re nicht. Deshalb müs­sen wir gute Argumente für ‚Gender Equality‘ fin­den.» Jüngst sah ich auf einem Grabstein in Murnau fol­gen­den Satz: «Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt über­wun­den hat.» Postkoloniale Geschichtsschreibung und sozia­le Netzwerkeroberung der Welt machen genau dies auch: die Wirklichkeit durch neue Glaubenssysteme und auto­ma­tisch repe­tier­te Codes über­win­den. Überall spries­sen Texte, Autorinnen, Serien, Theater- und Musikstücke, die sich für die­se neue post­de­mo­kra­ti­sche, angeb­lich viel­fäl­ti­ge, aber radi­kal codier­te und auto­ma­ti­sier­te, glo­ba­le, digi­tal gelenk­te Ordnung stark­ma­chen. Shoshana Zuboff warnt in ihrem Werk «Digitaler Überwachungskapitalismus» davor, dass die tota­li­tä­re Macht der Techkonzerne mit­tels «ille­gi­ti­mer Gewinnung von Verhaltensdaten» aller Menschen Freiheit und Zukunft stiehlt. Bestsellerautorinnen wie Angela Saini steh­len nicht nur die Zukunft, son­dern sie erzäh­len eine anti­de­mo­kra­ti­sche und damit ent­po­li­ti­sier­te tota­li­tä­re Version der Vergangenheit mit dem Ziel, «Tradition» statt Fortschritt mög­lichst waren­at­trak­tiv zu ver­kau­fen. «Die Vorstellung, dass Frauen immer im Interesse ande­rer Frauen han­del­ten, dass sie sogar wüss­ten, was die Interessen der ande­ren Frauen sei­en, klingt beson­ders unglaub­wür­dig in Ländern, die von west­li­chen Militärinvasionen betrof­fen waren. Hätten west­li­che Feminist:innen (beach­ten Sie die Schreibweise … – erin­nert an ‹Islamist*innen erobern Kabul› der ZDF-Redakteurinnen) die Bedürfnisse von Frauen wirk­lich ver­stan­den (…), hät­ten sie dann die mili­tä­ri­schen Angriffe der USA auf Afghanistan im Namen der Geschlechtergerechtigkeit und der Befreiung der Frau ver­tei­digt, wie es eini­ge taten? Sie stell­ten sich vor, dass die afgha­ni­schen Frauen vor allem frei von patri­ar­cha­li­scher Kontrolle sein woll­ten, wäh­rend sie in die­sem Moment – wie alle Afghan:innen in die­sem Moment – eigent­lich nur frei vom Krieg sein woll­ten.» (S. 291) Echt jetzt? Glaubt Angela Saini wirk­lich, dass sechs­jäh­ri­ge Mädchen lie­bend ger­ne auf ihren Schulunterricht ver­zich­ten, wenn ihr Vater, der meist ein unbe­straf­ter Vergewaltiger einer ihm zuge­ord­ne­ten neun­jäh­ri­gen Braut sein darf, nicht von den bösen Männern aus dem Westen getö­tet wird? Weisse Frauen wer­den vor Vergewaltigung geschützt (in neu­en Gesetzen wie «Nein heisst Nein»), nicht­weis­se Frauen unter­wer­fen sich im Namen der Tradition? Wie ras­si­stisch ist denn eine der­ar­ti­ge Argumentation?

Vordergründig geht es in «Die Patriarchen» um unter­schied­li­che patri­ar­cha­le Systeme. Die Agenda des von Deutschlandfunk Kultur emp­foh­le­nen Werkes jedoch ist eine ande­re: ein glo­ba­les Storytelling, das die Frauenrechtlerinnen des 19. und des 20. Jahrhunderts mit aktu­el­len Waffen und Fiktionen lächer­lich machen soll. Michel Foucault darf bei Saini auch nicht feh­len. Dieser mein­te zur Errichtung des fun­da­men­ta­li­sti­schen und miso­gy­nen Gottesstaates, des Iran, 1979, die­ser sei zu fei­ern als «radi­ka­ler Gegenentwurf zur säku­lar-west­li­chen Moderne» mit sei­ner «kapi­ta­li­sti­schen wie kom­mu­ni­sti­schen Ausprägung». Well: Die zu Hunderten hin­ge­rich­te­ten Iraner und die zu Tode gefol­ter­ten Iranerinnen wür­den auch hier wider­spre­chen; doch im Unterschied zu Foucault, der an west­li­chen Universitäten als Gott gehan­delt wird, kön­nen sie dies nicht mehr.

Angela Saini steht für vie­le post­ko­lo­nia­le Schreiberinnen des digi­ta­len Wahnsinns. Sie schreibt woke Codes, Trends und Hashtags in eine «offi­zi­el­le Geschichte» neu ein, sie prä­sen­tiert ein Sprechaktbuch fürs Zeitalter digi­ta­ler Reproduktion. Angela Saini ist popu­lär. Ihre Denkperversion, alle Werte umzu­wer­ten, ist enorm mäch­tig und digi­ta­li­siert wor­den. Erst kürz­lich woll­te ich von ChatGPT eine Liste der Antifeministen des 19. Jahrhunderts inklu­si­ve deren Werke geli­stet haben. Die KI wei­ger­te sich mit dem Argument: «Es tut mir leid, aber ich kann Ihrem Wunsch nach dem Zitat eines Politikers, der vor über 150 Jahren Frauen wegen ver­meint­li­cher bio­lo­gi­scher Unterschiede aus der Politik aus­schloss und legi­ti­mier­te, nicht erfül­len. Solche Zitate sind nicht nur schwer zu fin­den, son­dern auch äus­serst pro­ble­ma­tisch und dis­kri­mi­nie­rend.» Wer weiss. Vielleicht wird in zehn Jahren unter der Anfrage nach der anti­se­mi­ti­schen Geschichte Europas der Holocaust gar nicht mehr erwähnt, denn nicht nur die Zitate, son­dern auch die Wirklichkeit der Auslöschung des euro­päi­schen Judentums waren «äus­serst pro­ble­ma­tisch und dis­kri­mi­nie­rend», um mit dem Neusprech der KI zu ant­wor­ten.

Automatisch repe­tiert, eta­blie­ren Codes auf Twitter nicht nur Trends, son­dern sie schrei­ben offen­sicht­lich auch Bücher, mit eben­so ein­pro­gram­mier­tem Frauenhass. Deshalb hier ganz zum Schluss und drin­gend: Lesen Sie statt Angela Saini Mary Beard: «Frauen und Macht. Ein Manifest». Oder den Ausstellungskatalog des British Museum zu «Feminine Power. The Divine to the Demonic», aus dem das schö­ne Bild mit der Vulva stammt. (S. 28) Oder auch «Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte» von Christina von Braun, die ich schon vor Jahren für ensuite bespro­chen habe. Auch «Eine dis­si­den­te Kulturtheorie» von Carola Meier-Seethaler aus den 1980er-Jahren lohnt sich wie­der und wie­der; und wer etwas Darwinismus upda­ten will, ist mit Frans de Waals «Different». Gender Through the Eyes of a Primatologist» gut bedient.

Angela Saini. Die Patriarchen. Auf der Suche nach dem Ursprung männ­li­cher Herrschaft, Hanserblau 2023.

 

Wichtige Links:

https://timesofindia.indiatimes.com/home/sunday-times/all-that-matters/men-havent-always-ruled-the-way-we-imagine-gender-in-history-is-wrong-angela-saini/articleshow/99876235.cms?from=mdr

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_den_physiologischen_Schwachsinn_des_Weibes

https://timesofindia.indiatimes.com/home/sunday-times/all-that-matters/men-havent-always-ruled-the-way-we-imagine-gender-in-history-is-wrong-angela-saini/articleshow/99876235.cms?from=mdr

https://www.theguardian.com/world/2023/jun/22/narendra-modi-does-yoga-in-new-york-as-us-state-visit-gets-under-way

https://www.rosalux.de/news/id/42148/witwenverbrennung-in-indien#:~:text=Zu%20Beginn%20des%2019.,weiter%20eingeschr%C3%A4nkt%20und%20schlie%C3%9Flich%20verboten.

 

 

*miso­gy­nie­ren = Das Handeln, Erzählen und Verhalten einer Person mit der Absicht, unbe­wusst oder bewusst Frauenfeindlichkeit, Unsichtbarkeit von Frauen und Frauendiskriminierung zu för­dern. Misogynieren ver­brei­tet Klischees, Stereotype, dis­kri­mi­nie­ren­de Werturteile gegen­über Frauen und bedeu­tet das Ignorieren und Herabwürdigen der Geschichte, der Rechte und der Beiträge der Frauen in allen gesell­schaft­li­chen, wis­sen­schaft­li­chen, kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Bereichen.